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die Worte des Vaterunsers kamen ihr in den Sinn. Sie begann es immer und immer wieder zu rezitieren, fast wie ein Mantra, und es gab ihr ein Gefühl von großem Frieden, während sie der Ungewissheit dieser Nacht gegenüberstand.

      Vater unser, im Himmel.

      Geheiligt werde dein Name.

      Dein Reich komme.

      Dein Wille geschehe,

      wie im Himmel, so auf Erden.

      Unser täglich Brot gib uns heute.

      Und vergib uns unsere Schuld,

      wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

      Und führe uns nicht in Versuchung,

      sondern erlöse uns von dem Bösen.

      „Handle, und Gott wird handeln“, hatte Jeanne d’Arc einmal gesagt. Trotz all der Zeiten, in denen sie zuvor gehandelt hatte und ihr Handeln zu nichts geführt hatte, dachte Mikovits, sie würde es noch einmal versuchen.

      KAPITEL 1

      Die HHV-6 Konferenz und die Kultur der Wissenschaft

      In der Wissenschaft gibt es – vielleicht – mehr Eigeninteresse, ein bisschen mehr Paranoia, ein bisschen mehr Narzissmus, oder warum gehen wir sonst in die Wissenschaft? Sie glauben, Sie sind gescheit genug, um Probleme der Natur zu lösen. Viele Wissenschaftler neigen dazu, etwas für sich zu behalten. Wenn die andere Person keine Gelder erhält, werden Sie vielleicht welche bekommen. All so etwas ist im Spiel, aber das sind die schlimmsten Merkmale der Wissenschaft oder Wissenschaftler.

      —Dr. Robert Gallo.1

      Barcelona, Spanien – 1. Mai 2006

      Judy Mikovits suchte einen Platz, an dem sie kaum noch in Hörweite des Einführungsreferats von Dr. Robert Gallo2 auf der 5. Internationalen Konferenz über HHV-6 und -7 (humane Herpesviren 6 und 7) war. Gallo sprach im prächtigen großen Konferenzsaal des Hilton Diagonal Mar Hotels in Barcelona, Spanien. Sie hoffte, sich in der diffusen Beleuchtung des Raumes und in den dezenten europäischen Akzenten verbergen zu können. Mikovits wusste aus früheren Begegnungen, dass sie sich von dem berühmten Wissenschaftler fernhalten wollte.

      Gallo war dort, um über das humane Herpesvirus Nummer 6 zu sprechen, das 1986 in seinem Labor von Dr. Dharam Ablashi entdeckt worden war.3 Ablashi war auch der Vorsitzende des Programmausschusses dieser Konferenz, die sich dem HHV-6-Virus und seinem möglichen Zusammenhang mit ME/CFS und anderen Krankheiten widmete.

      Viele Amerikaner betrachten Gallo immer noch als den Wissenschaftler, der das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) entdeckt hatte, der Ursache für das erworbene Immundefizienz-Syndrom (AIDS). Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass sich seit dem Bekanntwerden der AIDS-Epidemie Anfang der 80er-Jahre 70 Millionen Menschen mit dem HIV-Virus infiziert haben und etwa 30 Millionen an den Komplikationen von AIDS gestorben sind.4 Damit ist es die größte Pandemie der Neuzeit und sichert denjenigen, die an vorderster Front der HIV-Forschung stehen, einen Platz unter den Louis Pasteurs und Jonas Salks der Geschichte. Daher resultiert der erbitterte Kampf unter den Teilnehmern um die Anerkennung. Gallos Biografie am Institute of Human Virology der University of Maryland, die er gegründet hat und die er bis heute leitet, behauptet, er sei „bestens bekannt für seine Mitentdeckung des HIV“.5 Als das Nobelpreiskomitee 2008 den Nobelpreis für die Entdeckung des HIV an die französischen Wissenschaftler Luc Montagnier und Francoise Barré-Sinoussi verlieh, fehlte Gallos Name auffallend.

      Zweifellos hat Gallo im Verlauf seiner wissenschaftlichen Karriere eine steigende Zahl von Auszeichnungen und Anerkennung erhalten, darunter die beneidenswerte Anzahl von 29 Ehrendoktortiteln, 1982 und 1986 den renommiertesten amerikanischen Wissenschaftspreis, den Lasker-Preis, der oft als amerikanischer Nobelpreis für medizinische Forschung bezeichnet wird. Gallo ist Autor von mehr als 1.200 wissenschaftlichen Publikationen und verfasste das Buch Virus Hunting – AIDS, Cancer & the Human Retrovirus: A Story of Scientific Discovery [Die Jagd nach dem Virus: Aids, Krebs und das menschliche Retrovirus – Die Geschichte einer Entdeckung]. Nach seiner eigenen Darstellung beschloss Gallo, sein Leben der Wissenschaft widmen, nachdem seine jüngere Schwester im Alter von sechs Jahren an Leukämie gestorben war.6 Seine Geschichte ist eine in Wissenschaft und Medizin archetypische Geschichte: Diejenigen, die persönlich von einer Krankheit betroffen sind, wollen sie oft besiegen oder heilen. Seine Berufswahl schien sein naturgegebenes Metier zu sein. Judy Mikovits traf eine ähnliche Entscheidung, in die Wissenschaft einzutreten, nachdem sie zusehen musste, wie ihr geliebter Großvater an Krebs starb. Später erlitt ihr Stiefvater das gleiche Schicksal.

      Der Streit darüber, wer das HIV-Retrovirus tatsächlich entdeckte, ob es Gallo oder ein französisches Team unter der Leitung von Luc Montagnier war, wurde so hitzig, dass er 1987 ein Eingreifen von US-Präsident Ronald Reagan und dem französischen Präsidenten Jacques Chirac erforderte.7 Der Waffenstillstand wurde geschlossen, als Gallo zugab, dass er wahrscheinlich das französische HIV-Isolat benutzte, um den Test zu entwickeln, und dies sowohl Gallo als auch Montagnier ermöglichte, als „Mitentdecker“ des Retrovirus das Verdienst zu beanspruchen. Es war wahrscheinlich das erste Mal in der Geschichte, dass die Anerkennung für eine wissenschaftliche Entdeckung von zwei Staatsoberhäuptern beschlossen wurde.

      Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Journalist John Crewdson von der Chicago Tribune war an der Spitze der frühzeitigen Kritiker Gallos. Über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg untersuchte Crewdson in mehreren Artikeln viele Behauptungen Gallos über seine Rolle bei der Entdeckung des HIV-Retrovirus. Crewdsons investigative Berichterstattung gipfelte 1988 in einer Sonderbeilage zur Tribune in Buchstärke mit 55.000 Wörtern unter dem Titel „The Great AIDS Quest“.8 In einem späteren Artikel von 1992 fasste Douglas Kneelands, allgemein bekannter Herausgeber der Chicago Tribune, Crewdsons Schlussfolgerungen und die ungelöste Kontroverse zusammen:9 Nachdem er hervorhob, dass Gallos Labor das AIDS-Virus entgegen der langjährigen Behauptungen nicht entdeckt hatte, stellte er fest, dass sie aber von dem daraus resultierenden Test profitiert hatten.

      Dadurch haben die Vereinigten Staaten im Laufe der Jahre 20 Millionen US-Dollar an Patentgebühren aus einem AIDS-Test kassiert, indem sie ein Virus einsetzten, von dem Gallo jetzt zugibt, dass es das französische Virus war. [Hervorhebung des Autors]

      Kneeland beendete seinen ausführlichen Leitartikel, indem er Überlegungen darüber anstellte, was diese Untersuchung der im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Wissenschaft über die Fallstricke von Geld, Ehrgeiz und Streitigkeiten enthüllte.

      Dieser Fall war nicht deshalb von bleibender Bedeutung, weil er typisch gewesen wäre. Das war er nicht. Aber als schlimmst mögliches Beispiel lehrt er uns etwas über den tückischen Treibsand, den Gier und Ehrgeiz selbst professionellen Wahrheitserzählern in der wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft in den Weg legen. Und er zeigt uns nur zu gut, was geschieht, wenn Politiker, Bürokraten, Anwälte und Marketingfachleute der Wissenschaft zu nahe kommen.

      Mikovits entdeckte, dass vieles von dieser Kritik ebenso auf ihre Forschung zum XMRV-Retrovirus und zu ME/CFS zutraf. Sie erlebte ihre eigene Version von „verräterischem Treibsand“, der sie in Verfälschungen und juristische Auseinandersetzungen verwickeln würde. Aber sie war Robert Gallo in keiner Weise ähnlich.

      Sie hatte den illustren Wissenschaftler zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere aus nächster Nähe erlebt und wollte es ihm nicht nachtun.

      * * *

      Drei Jahre Untersuchung durch das Federal Office of Research Integrity [eine Bundesbehörde zur Überwachung der Integrität speziell der medizinischen Forschung] gipfelten in einem am 30. Dezember 1992 veröffentlichten Bericht10, in dem festgestellt wurde, dass Gallo „wissenschaftliches Fehlverhalten“ verübt habe. Gallo bestritt die Ergebnisse energisch und lautstark. Am 11. Juli 1994 erklärte das Department of Health and Human Services jedoch:

      „… ein Virus, das vom Institut Pasteur zur Verfügung gestellt worden war,