Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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dich heute Abend in der ‚Weintanne‘“, sagte Ulli.

      Wenig später überquerte Wolfgang den Holzmarkt und holte seinen Koffer im Westbahnhof ab.

      In der Mühlenstraße angekommen, klingelte er bei seiner Wirtin und ließ sich die Wohnungsschlüssel geben. „Sie haben noch mal Glück gehabt“, sagte sie. „Nach Ihnen werde ich das Zimmer nicht mehr vermieten“, und es schien, als habe sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihm eine Kellerwohnung anbot, die im Winter sehr kalt und sonst immer etwas feucht war.

      Von einem kellerdunklen Treppenabsatz, der ebenerdig hinaus auf den Hühnerhof führte, ging links eine schmale, niedrige Tür ab, die in eine kleine Küche führte.

      Die Größe der Küche schätzte Wolfgang auf etwa vier Quadratmeter. Mit schnellem Blick überflog er das Mobiliar: ein schmales Küchenbüfett, ein kleiner, schwarzer Kanonenofen, ein Kleinsttisch mit geschwungenen Füßen und zwei zierliche Stühle aus Holz.

      Neben dem angerosteten Metallausguss mit dem schmucklosen Wasserhahn darüber, der einzigen Möglichkeit zum Waschen, befand sich ein schmales Fenster, unter dem es sich die Ameisen bequem machten.

      Durch einen ausgeblichenen Türrahmen, bei dem die Tür fehlte, betrat Wolfgang das Wohn- und Arbeitszimmer.

      Er stellte den Koffer und den Campingbeutel in der Mitte des Zimmers ab und schmiss sich in voller Montur übermütig auf die breite Kastenmatratze. Auf dem dicken, unbezogenen roten Federbett machte er Probeliegen. Er legte die Hände unter seinen Kopf und ließ das Zimmer auf sich wirken.

      Vom Kopfteil der Liege aus konnte Wolfgang sehen, wie die Nachmittagssonne durch das Geäst der Obstbäume von nebenan schien und das warme Oktoberlicht durch zwei Fenster ins Zimmer fiel. Zwischen den sonnenbeschienenen Fenstern stand eine Kommode, und an der Wand über der Kommode hing ein leeres Bücherregal.

      Mit dieser Aussicht beendete er sein Probeliegen. Er spürte, dass es sich nicht besonders bequem auf der harten Bettkante saß, und stellte fest, dass der kleine, braune Kachelofen, der das ganze Zimmer heizen sollte, nur einen reichlichen Meter vom Kopfteil der Kastenmatratze entfernt war.

      Er starrte auf die gegenüberliegende Stubenwand: auf den dunkelbraunen Kleiderschrank, die bläulich gestrichene Holztür, die direkt in den Hühnerhof hinaus führte, und das Fenster, von dessen Rahmen der weiße Lack in großen Flocken abblätterte. Der einzige Stuhl, den es in diesem Zimmer gab, stand vor dem abgelederten, schwarzen, schweren Schreibtisch, den man genau hälftig zwischen die Tür und das Fenster gestellt hatte.

      Wolfgang hätte sich überglücklich schätzen müssen, dass er eine eigene Bude hatte. Aber was er sah, fand er ziemlich beschissen. Dennoch begann er, sich häuslich einzurichten.

      Er packte den Campingbeutel aus, in dem sich die Turnschuhe, der Trainingsanzug und fünf Bücher befanden: „Der große Duden“, „Wege zum Gedicht“, ein Bildband über Renoir und die Frauen, „Die deutsche Geschichte in einem Band“ und „Literatur im Überblick“.

      Als Wolfgang den Duden mit dem blauen Einband auf das Hängeregal zwischen den zwei Fenstern stellte, die in Nachbars Garten gingen, musste er daran denken, wie er sich in der neunten Klasse von einer Fünf in Rechtschreibung auf eine Drei hochgearbeitet hatte. Mit dem Buchstaben A beginnend, schrieb er den Duden ab. Beim Wort Fatalismus angekommen, hörte er mit dem Dudenabschreiben auf, weil er es inzwischen auf eine Drei gebracht hatte. Und Wolfgang konnte sich gut daran erinnern, dass die Fünf in Rechtschreibung ihn nicht davon abgehalten hatte, zu erklären, dass er später einmal Schriftsteller werden wolle, und er führte Gerhart Hauptmann an, den großen Schlesier und Nobelpreisträger, der in Rechtschreibung auch eine Fünf gehabt haben solle. Zu jener Zeit las Wolfgang nur ungern, was ihm keinen Spaß machte und seinen gegenwärtigen Intentionen nicht entsprach. Er verehrte die Expressionisten und schrieb wirre und wilde Gedichte. Er schwärmte für „Baal“ und Hermann Hesse und alles, was vital und rotweintrunken war, zog ihn magisch an.

      Wolfgang griff nach dem Buch „Wege zum Gedicht“ und musste daran denken, wie die Trommern ihn zur Teilnahme an einem Lyrikwettbewerb überredet hatte.

      Nachdem Wolfgangs „Der Arbeiter“ in der Betriebszeitung abgedruckt worden war, hatte es sich bis in die Berufsschule herumgesprochen, dass Wolfgang Gedichte schrieb, und die dicke Trommern war von Wolfgangs Veröffentlichung so begeistert, dass sie ihn nach dem Unterricht zu sich bestellte.

      Die Trommern, die Deutsch und Staatsbürgerkunde gab und – politisch gesehen – rot bis auf die Hosen war, meinte, dass er unbedingt am Lyrikwettbewerb „Jugend und Alltag“ teilnehmen müsse, der gerade für Schüler und Lehrlinge ausgeschrieben worden sei. „Ich arbeite in der Jury mit“, sagte sie. „Und es wäre unheimlich gut, wenn unsere Schule durch dich vertreten würde.“

      Wolfgang schaffte es dank der Trommern auf einen der Podestplätze im Lyrikwettbewerb, und Peter Pollatschek, ein junger Schauspieler, trug Wolfgangs Gedicht auf der Abschluss-Matinee vor.

      Am Ende des musikalisch-literarischen Programms wurden die Preisträger nach vorn gebeten. Kurt Steiniger, ein Lyriker, der sich mit Kindergedichten einen Namen gemacht hatte, gratulierte Wolfgang zu seinem Erfolg und drückte ihm das Buch „Wege zum Gedicht“ in die Hand. Als die Trommern nach Veranstaltungsschluss erfuhr, dass Wolfgangs „Arbeiter“ in der Anthologie „Das Lied des Volkes wird geschrieben“ erscheinen sollte, fiel sie ihm um den Hals. Sie vergaß, dass sie seine Lehrerin war, und drückte ihn eine ganze Weile liebevoll und innig an ihren fülligen Körper.

      Als Wolfgang den Bildband über Renoir auf das oberste Brett des schmalen Wandregals stellte, flatterte ihm ein kleiner Zeitungsausschnitt entgegen, der ihm als Lesezeichen gedient hatte. Es war ein kleiner Zweispalter, der mit „Themen waren gut durchdacht“ überschrieben war und Wolfgang nochmals an seinen ersten literarischen Erfolg erinnerte.

      Über die Matinee anlässlich des Lyrikwettbewerbs schrieb die Journalistin, die wie Nana Mouskouri aussah und während der Veranstaltung in der ersten Reihe neben Wolfgang gesessen hatte: „Dass nicht nur Erwachsene etwas von Gedichten verstehen, bewiesen die Teilnehmer einer Veranstaltung, die unter dem Motto ‚Jugend und Alltag‘ stand. Die Schüler und Lehrlinge zeigten in ihren Gedichten oft eine gedankliche Tiefe, die vom gründlichen Durchdenken ihrer Themen herrührte. Zu den wirklich vielversprechenden Begabungen, die sich vorstellten, zählt unbestritten Wolfgang Bruckner, ein 19-jähriger Autoschlosser.“

      Wolfgang entschied sich, diesen kleinen Zeitungsartikel als Merkzettel an die Tür des hohen, schweren Kleiderschranks zu heften. Auf Augenhöhe, damit er nicht vergaß, warum er in Jena Germanistik und Geschichte studierte.

      Als wolle er seinem Wunsch, Theaterdichter zu werden, Nachdruck verleihen, trennte Wolfgang aus dem Buch „Literatur im Überblick“ vorsichtig das Jugendbildnis des zwanzigjährigen Schiller heraus und brachte es mit einer Reißzwecke über der Erstrezension an, in der er als vielversprechende Begabung bezeichnet worden war.

      Als Wolfgang die „Deutsche Geschichte in einem Band“ neben den Duden, die „Wege zum Gedicht“, und die „Literatur im Überblick“ stellte, erinnerte er sich daran, wie widerwillig er dieses historische Machwerk gelesen hatte, als er sich auf seine Aufnahmeprüfung an der Uni in Jena vorbereitet hatte.

      Vom Geschichtsunterricht bei Doktor Landgraf wusste er, dass bei Leistungskontrollen immer die richtigen Allgemeinplätze und Schlagwörter gefragt waren, und so prägte er sich die Stellen ein, mit denen er auf jeden Fall punkten konnte: „Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik unter Führung der Arbeiterklasse, im Bündnis mit der Bauernschaft, der Intelligenz und allen anderen Werktätigen, haben den Weg gezeigt, der den realen Entwicklungsbedingungen entspricht. Das ist der Weg der demokratischen Herrschaft des Volkes. Das ist der einzige deutsche Weg, der den Interessen des Volkes entspricht.“

      Als die Bücher, die Wolfgang mitgebracht hatte, den rechten Platz auf dem Hängeregal an der Fensterwand gefunden hatten, fiel ihm zu guter Letzt eine arg kastrierte Europakarte im DIN-A-3-Format in die Hand.

      Unmittelbar nach dem 13. August 1961 war Wolfgangs Frust so groß gewesen, dass er sich die Karte gegriffen und die Ostblockstaaten,