Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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Rücken zur Fensterfront, die in den quadratischen Innenhof zeigte, und hatte die Tische, die Tür und den Kaffeeausschank im Blick. Gelangweilt rührte er in seinem zuckersüßen Kaffee und sah der breithüftigen Frau hinterm Ausschank zu, wie sie an der fauchenden Kaffeemaschine herumhantierte und einem alten Mann mit Baskenmütze und dicker Brille ein Stück Quarkkuchen auf einen Glasteller schaufelte. Bei diesem Mann, einem Literaturprofessor, wird Wolfgang drei Jahre später in einer Klassik-Vorlesung sitzen und Professor Müller wird keinen Hehl daraus machen, was er vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR hält. „Ich bin gegen jede Art von Gewalt“, wird er sagen, und von diesem mutigen Bekenntnis wird Wolfgang so begeistert sein, dass er sich beim Beifallbekunden fast die Knöchel wund klopft.

      Die Frau hinterm Tresen war freundlich. Und sinnlich ist sie auch, dachte Wolfgang. Dann gab er das Beobachten der Leute auf, griff nach seinem Campingbeutel, dessen Reißverschluss beim Aufmachen etwas klemmte und zerrte die Zeitschrift „Theater der Zeit“ hervor.

      In der jüngsten Ausgabe stand ein ausführlicher Bericht über die 7. Arbeiterfestspiele, an denen er mit dem Arbeitertheater Schwedt teilgenommen hatte.

      „Der Dramatische Zirkel des Erdölverarbeitungswerks Schwedt spielte im Frankfurter Kleist-Theater ‚Menschen in Bewährung‘. Uns tritt entgegen, was uns im Leben wie in der Kunst schon manchmal begegnet ist: der Arbeitsbummler und die gute Brigade, die nicht mit ihm fertig wird, das Neuerer-Kollektiv und einige verständnislose Mitarbeiter in der Betriebsleitung, die aus formalen Gründen und mangelnder Verantwortungsfreudigkeit eine technische Entwicklung boykottieren, und das liebende, strebsame Mädchen, das den Liebsten an eine andere, weniger wertvolle Dame zu verlieren droht.

      So dargestellt, wäre es leicht, sofort über jede Figur den Stab der sozialistischen Moral zu brechen.“

      Neu an der Geschichte sei, konstatierte der Theaterkritiker, dass den Beweggründen der „schwarzen Schafe“ nachgegangen würde und die Fäden so miteinander verknüpft seien, dass man von keiner Gestalt behaupten könne, sie sei absolut „weiß“ oder „schwarz“.

      Jeder habe seine Bewährungsprobe, mancher bestehe die eine und versage doch bei der anderen, las Wolfgang, als plötzlich jemand „Mensch, Bruckner!“ sagte.

      Es war Ulli, Ulli Flick, den er seit sieben Jahren nicht gesehen hatte. Im Februar 1958 waren Bruckners von Muldenburg in Sachsen nach Erfurt gezogen, und so lange war es her, dass sie sich nicht mehr gesehen hatten.

      Wolfgang war hoch erfreut über diesen Zufall und schloss das „Theater der Zeit“. „Meine Lieblingslektüre“, sagte er und Ulli hockte sich neben Wolfgang an den runden Fünfer-Tisch: „Von hier aus habe ich die Tür am besten im Blick“, sagte er. Er studiere Jura und warte hier auf drei Weiber aus dem Ernteeinsatz, die er zum Kaffeetrinken eingeladen habe, fuhr er fort. „Es ist nämlich Sitte“, sagte Ulli, „dass die Erstsemester Germanistik/Geschichte mit dem Drittsemester Jura zusammen in den Ernteeinsatz fahren.“

      „Da müssten die Weiber, auf die du wartest, ja in meiner Seminargruppe sein“, sagte Wolfgang. „Ich bin nämlich auch Erstsemester Germanistik/ Geschichte.“

      „Und warum warst du dann nicht mit im Ernteeinsatz?“

      „Weil ich mir beim Fußballspielen an der Ostsee den linken, kleinen Zeh gebrochen hatte“, sagte Wolfgang und erzählte Ulli ausführlich, wie es dazu gekommen war: „Wir waren ziemlich blau, als wir am letzten Urlaubstag Fußball spielten, und in meinem Besoffensein zog ich meine Schuhe aus. Ich spielte barfuß, und bei einer Fußabwehr als Torwart haute mir jemand, der den Ball nicht richtig traf und seine Lederturnschuhe angelassen hatte, den kleinen, linken Zeh weg. Erst beim Aufstehen merkte ich, dass es ein offener Bruch war. Nach einer Nacht im Rostocker Krankenhaus trat ich mit einem Gipsfuß die Heimreise an.“ Deshalb konnte Wolfgang weder an der feierlichen Immatrikulation Ende August noch am Ernteeinsatz teilnehmen.

      „Sechs Wochen hinkte ich in die Unfallchirurgie und ließ den Zeh Woche für Woche röntgen“, sagte Wolfgang. „Das einzig Gute an dieser beschissenen Situation war, dass ich beim Röntgen Rehberg traf, den ich von der Oberschule her kannte. Er studierte Medizin in Jena und machte gerade ein Praktikum in der Unfallchirurgie. Er erzählte mir, dass er im Herbst von Jena nach Leipzig wechseln und seine Bude in der Mühlenstraße aufgeben würde. Und da ich noch keine Unterkunft hatte, fragte ich ihn, ob ich sein Zimmer kriegen könne. Er wusste zwar nicht, ob seine Wirtin das Zimmer wieder vermieten würde. Aber irgendwie bekam er sie rum.“ „Du kannst froh sein, dass du die Bude bekommen hast“, sagte Ulli. „Sonst wärst du in der ehemaligen Nudelfabrik mit acht Mann auf einem Zimmer gelandet.“

      „Ich bedauere trotzdem, dass ich nicht mit im Ernteeinsatz war“, erwiderte Wolfgang. „Wir hätten viel Zeit zum Quatschen gehabt.“

      „Aber das können wir ja nachholen“, sagte Ulli. „Am besten heute Abend in der ‚Weintanne‘. Oder hast du was anderes vor?“

      „Nein“, sagte Wolfgang, und Ulli beschrieb ihm den Weg.

      Dann beäugte er misstrauisch die Zeitschrift „Theater der Zeit“ und meinte: „Müsstest du nicht die ‚Lehrerzeitung‘ lesen?“

      „Eigentlich ja“, sagte Wolfgang. „Aber darüber können wir ja heute Abend noch reden.“

      Wenig später griff Ulli in seine Jackentasche und legte einen Stoß Fotos auf den Tisch. „Schnappschüsse aus dem Ernteeinsatz oben in Mecklenburg“, sagte er, und während er Wolfgang die Fotos zeigte, erklärte er: „Das ist Edda.“ Er deutete auf ein Mädchen mit langen Haaren und einem sinnlich-breiten Mund.

      „Ein Kumpel durch und durch. Kein Kind von Traurigkeit, wenn du weißt, was ich meine“, sagte Ulli.

      „Und das ist Doris. Sie ist eigentlich rothaarig. Auf Schwarz-Weiß ist das nicht zu sehen. Etwas slawischen Einschlag, ungemein ehrgeizig, und sie glaubt, sie könne einen verführen, indem sie ein Klein-Mädchen-Gesicht und Kulleraugen macht.“

      Das ganze Gegenteil sei Christa, die alle nur Biene nennen würden, erklärte Ulli und tippte auf eine bildschöne, schwarzhaarige junge Frau, die zwischen den Kartoffelfurchen stand und direkt in die Kamera lächelte. Selbst in dem schlabbrigen Trainingsanzug sah sie noch verdammt gut aus, fand Wolfgang, und Ulli sagte: „Es ist unheimlich schwer, an sie ranzukommen. Total kühl, sag ich dir.“

      Als die drei Studentinnen, die Ulli hinreichend beschrieben hatte, wenig später in der Kaffeestube auftauchten, wusste Wolfgang schon, wie sie hießen und wer sie waren. Eigentlich brauchten sich Doris aus Gera, Biene aus Karl-Marx-Stadt und Edda aus Potsdam gar nicht mehr vorzustellen.

      Als Ulli sagte, dass Wolfgang zu ihrer Seminargruppe gehöre, staunten sie nicht schlecht, und Edda sagte: „Du bist also der Gesuchte.“

      „Ein gebrochener Zeh hat ihn vorm Ernteeinsatz bewahrt“, sagte Ulli und zeigte den dreien die Fotos, die er von ihnen während der Arbeit auf dem Feld und beim Saufen am 7. Oktober gemacht hatte.

      „Am Tag der Republik haben wir gesoffen wie die Löcher“, sagte Ulli.

      „Mehr als das!“ Edda tat mächtig geheimnisvoll.

      Doris fragte, ob sie mal das „Theater der Zeit“ haben könne, und vertiefte sich sofort in den Artikel über das Treffen der Studentenbühnen in Erfurt.

      Als Wolfgang ihr eröffnete, dass er im Arbeitertheater Schwedt mitgespielt habe, sagte Doris: „Wir brauchen noch Männer für die Massenszenen.“

      Biene, die einen äußerst vornehmen Eindruck machte, sagte: „Wir drei sind nämlich in der Studentenbühne“, und wedelte mit dem Probenplan, den sie sich gerade geholt hatten. Und Doris versuchte Wolfgang zu ködern, indem sie dem Stück, in dem sie die weibliche Hauptrolle spielte, Wichtigkeit verlieh: „Es ist die Geschichte eines Mannes, der sein Gesicht verliert. Doch mit der Erkenntnis seiner Selbstentwürdigung vollzieht sich in ihm eine grundlegende Wandlung.“

      Das Stück, von dem Doris sprach, hieß „Die Lederköpfe“, und geschrieben hatte es ein gewisser Georg Kaiser.

      Obwohl Wolfgang weder