Dør. Daniel Decker

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Название Dør
Автор произведения Daniel Decker
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783947720378



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Blätter herum, teilweise in einem Bogen angeschnitten, als wäre ein kreisrundes Beil von der Decke gestürzt. Natürlich hatten Susanns Eltern die Polizei informiert. Was ich für die Spuren eines Kampfes hielt, war aber laut ihrer Aussage nichts als Unordnung.

      Ein paar Wochen später erreichte mich ein Paket. Ich erkannte sofort ihre Handschrift. In der Sendung lagen unzählige lose Blätter, CD-Roms, USB-Sticks und zwei Festplatten. Unendlich viele Materialien. Einige Monate hoffte ich, dass Susann wieder kommen würde und ließ die Sachen unbeachtet liegen. Doch mit der Zeit musste ich mir eingestehen, dass ihr vermutlich etwas zugestoßen war. Vielleicht wollte sie das Ganze auch selbst beenden. Ich kann es nicht ausschließen. Auch wenn ich noch nicht alle Materialien gesichtet habe, es ist an der Zeit mein Versprechen einzuhalten. Dies ist das Vermächtnis von Susann Jakobus-Drechsler.

      NORSK

      Wie du weißt, habe ich meine Reise nach Norwegen lange geplant, nachdem ich vor einigen Monaten in einem kleinen Forum für Sammler obskurer Schallplatten auf die Band Dør gestoßen bin und sofort fasziniert von ihr[JE1] war. Ich begann, die Musik und alten Geschichten zu studieren, die ich in Heften mit Titeln wie ‘Kveld’ oder ‘De Store Gamla’ fand. Dør waren nicht das weichgespülte, mit faschistoidem Mummenschanz angereicherte Zeug, das Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts durch die brennenden Kirchen Norwegens in die Welt hinaus getragen wurde. Ich machte mich auf die Suche nach altem Wissen.

      Zwischen 1966 und 1968 veröffentlichte das Kollektiv, bestehend aus wohl bis zu 20 Mitgliedern, sechs Alben mit bis dato unerhörter Musik. Nahezu jedes dieser Alben war meiner Meinung nach genredefinierend, wenn man sie überhaupt einem solchen zuordnen konnte. Ein jedes erschien ohne Label in einer Auflage von jeweils 333 Stück und war dementsprechend schwer zu bekommen. Dennoch konnte ich bereits fünf Alben mein eigen nennen, aber die letzte Veröffentlichung fehlte mir. Ich suchte diese eine Platte.

      Es hieß, sie sei nie erschienen, da die Band bei den Aufnahmen ums Leben kam. In ihrem abgelegenen Studio sei ein Feuer ausgebrochen, bei dem alle Band-Mitglieder starben. Doch ich hatte mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass dies nur die Hälfte der Wahrheit war.

      Auch ohne offiziellen Release gab es die Platte. Und es war genau genommen kein Unfall gewesen: Die Musiker hatten sich mit Benzin übergossen und sich selbst in Brand gesetzt. Die dabei entstandenen Aufnahmen dokumentierten ihren Todeskampf und machten die Agonie zum Bestandteil ihres letzten Werkes. Und ja, in großer Auflage wurde die Platte nie gepresst, aber ihr Manager ließ einige Acetate herstellen, bevor die Hinterbliebenen der Band ihn an einer Veröffentlichung hinderten und das Werk wie auch die Band mit den Jahren in Vergessenheit geriet.

      Dank eines Tipps im Plattensammler-Forum von einem Nutzer namens »SaladinSennkern«, mit dem ich mich öfter über Dør austauschte, war ich nun also in Knarvik angekommen. Einer knapp 50.000 Einwohner zählenden Stadt in der Provinz Hordaland, nicht unweit von Bergen. Sennkern hatte mir in einer privaten Nachricht geschrieben, ich könne die gesuchte Platte hier finden. Also betrat ich vor wenigen Tagen den kleinen Plattenladen in der Kvernhusmyrane, von dem mir Sennkern berichtet hatte. Mit zittrigen Fingern blätterte ich in dem Fach, über dem ‘Norsk’ geschrieben stand. Und da war sie, mein Herz pochte. Vorsichtig zog ich die vergilbte handbeschriftete Hülle heraus. ‘Den sjette nøkkelen’ - ich hatte nicht mehr daran geglaubt, sie in meinen Händen zu halten. Zu viel an der Geschichte von Dør klang erdacht und ersponnen. Die Erzählungen von diesem losen Kollektiv, Schüler von Gurdjieff, die qualvolle Melodien und unheimliche Klänge ausarbeiteten und in orgiastischen Shows präsentierten. Niklas Andersen, Kopf des Kollektivs, soll gar zu den Suchern der Wahrheit gehört haben, dem sagenumwobenen Zirkel um Gurdjieff, der Ende des 19. Jahrhunderts die Welt bereiste, um geheimes Wissen zu studieren und den Orient mit dem Okzident zu vermählen. Dabei stießen die Beiden auf ein Geheimnis, das womöglich größte Geheimnis, welches es zu entdecken gab.

      War das alles nur Spinnerei oder war ein Fünkchen Wahrheit an diesen mythischen Erzählungen? Ich brauchte Gewissheit. Eine Gewissheit, die sich nur mit allen sechs Alben herstellen ließ. Und die mich jetzt an diesen Flecken im Norden Europas geführt hatte. Ohne viel Aufsehen erregen zu wollen nahm ich das Acetat, suchte als Alibi noch eine Platte mit norwegischen Schlagern und zahlte hastig an der Kasse. Erst in der gemieteten Hütte im Wald kam ich dazu, meinen Kauf vollends zu begutachten. Ich mag es mir eingebildet haben, doch mir schien die Hülle nach verbranntem Holz zu riechen, nach Asche und Ruß. Ansonsten war sie vollkommen unspektakulär. Name der Band und der Platte waren in krakeliger Handschrift, schlecht lesbar, auf die gewöhnliche, leicht vergilbte Papphülle geschrieben. Und wie Sennkern mir vorhergesagt hatte, fand ich in der Hülle neben der Platte einen Brief, in kaum lesbarer, krakeliger, hastiger Handschrift. Es war eine Anleitung, und sie schien alle Gerüchte zu bestätigen. Eine Zeichnung zeigte auf, wie sechs Plattenspieler aufzustellen seien. Gegen den Uhrzeigersinn auf jedem Teller eines der Werke von Dør. Dazwischen je eine schwarze Kerze. Dazu die Notiz, alle drei Minuten eine Platte zu starten. Es war so wie Sennkern es prophezeihte. Ich war vorbereitet und baute in der Hütte die sechs portablen Spieler auf, die ich vorsorglich mitgebracht hatte. Dann legte ich eine Platte nach der anderen auf die Teller und positionierte die Nadel an den Anfang der Tonrille, indem ich mit der Hand die Scheiben vorsichtig vor und zurück drehte, bis ich der Ansicht war, den jeweils ersten Ton erwischt zu haben. So ging ich mit allen sechs Platten vor. Ich nahm mein Smartphone und stellte den Timer auf drei Minuten. Es war soweit. Ich startete das erste Werk zeitgleich mit dem Timer. Ein monotoner Beat entfaltete sich. Erst leise, dann lauter. Ich kannte dies, ich hatte es oft zuvor gehört. Bisher hatte ich mich stets von dem Beat des vornehmlich perkussiven Werkes treiben lassen, der immer hypnotischer wurde, doch hier war die Anspannung größer. Auf eine kurze Melodie antwortete ein ansapalnisches Echo. Drei Minuten. Die zweite Platte. Eine kräftige Kirchenorgel ergänzte das rhythmische Treiben um flächige Harmonien. Weiteres Schlagwerk erschuf eine Polyrhythmik, die der europäischen Musik so fremd scheint. Die verschiedenen Melodien rangen miteinander und schufen in ihrem Zusammenspiel Mikrointervalle, wie ich sie sonst nur aus fremden Musikkulturen kannte, wie zum Beispiel bei den sieben persischen Dastgāhs. Drei Minuten, die dritte Platte. Es war das Werk, welches am bekanntesten war. Proto-Metal, noch vor Black Sabbath. Durch diese Platte war ich auf Dør aufmerksam geworden und hätten sie nicht Norwegisch gesungen sondern Englisch, vielleicht wären sie bekannter geworden. Die doomigen schweren Gitarren arbeiteten gegen die ersten beiden Scheiben und ergänzten das Gewirr dennoch in genialster Weise. Drei Minuten, die vierte Platte. Chöre wie aus gregorianischen Gesängen schufen ein psychedelischen Tohuwabohu. Niemand wusste, welche Sprache da gesungen wurde. Einige behaupteten, es sei ein erdachtes Kauderwelsch. Aber in den alten Heften war die Rede von einem kryptischen Text aus einem Folianten aus dem 16. Jahrhundert. Und auch wenn die einzigen bekannten Tonaufnahmen eines Kastraten 1904 mit Alessandro Moreschi getätigt wurden, war ich mir sicher, auch hier diese hohen, sopranen und zugleich kräftigen Stimmen rauszuhören, die im krassen Kontrast zu dem standen, was einer sonst von gregorianischen Gesängen gewohnt war. Drei Minuten, die fünfte und vorletzte Platte. Heute wäre das Werk als Mischung aus Noise und Ambient beschrieben worden. Es fügte dem infernalen Krach eine Eiseskälte hinzu, und ich meinte, diese Kälte körperlich wahrnehmen zu können. Die Haare an meinem Arm stellten sich auf und ein frostiger Hauch glitt über meinen Nacken, als würde ein riesiges Geschöpf mit eisigen Lungen seinen Atem darauf legen. Drei Minuten. Es war soweit. Ich drückte die Start-Taste des letzten Plattenspielers. Plötzlich Stille. Abrupt endeten die Stücke. Das Knistern der sechs Scheiben klang wie ein loderndes Feuer im Kamin ohne jedoch die Kälte im Raum zu verjagen. Mit einem Schlag setzten plötzlich alle Platten auf einmal wieder ein. Wie aus unzähligen Posaunen dröhnte es von dem Spieler mit dem mis bisher unbekannten Werk. Ein Tritonus ohne Auflösung. Ein Akkord, der mehr als nur die zwölf Töne einer Oktave enthielt. Eine bis dato ungehörte Kakophonie des Grauens schien alle wahrnehmbaren Dissonanzen in sich zu vereinen. Ich erschrak, stolperte, und es muss dieser Zeitpunkt gewesen sein, dass ich eine der Kerzen umstieß. Aber ich erschrak nicht wegen des Gehörten. Ich erschrak wegen dem was ich sah. In der Mitte des Raumes. Zwischen den Plattenspielern. Vor mir öffnete sich ein Loch und ich sah in eine absolute Finsternis. Ein ewiges Schwarz, ein endloses Nichts. Ein grenzenloser, unvorstellbarer Raum voller undurchdringlicher Dunkelheit, eine lauschende Leere.

      Und