Deutschlandglotzen. Gerhard Stadelmaier

Читать онлайн.
Название Deutschlandglotzen
Автор произведения Gerhard Stadelmaier
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783866748439



Скачать книгу

und sogar Turnhallen, die Lastwagen und die Militärtransporter bargen dort die Tausenden von Leichen, die zu Lebzeiten (eben auch) Opfer der Frage waren, die Shaws Dr. Ridgeon zu entscheiden hatte. Dabei hatte es Colenso Ridgeon noch leicht. Er hatte die Wahl zwischen einem genialen, aber völlig asozialen, bigamistischen, erpresserischen, weiberwegwerfenden, verschwenderischen, in Saus und Braus betrügerisch hausenden, schuldenmachenden Künstlergenie und Malervirtuosen und einem armen, braven, abgerissenen, aber grundlangweiligen, öden, kaum gesellschaftstauglichen Sozialmediziner, der selbst die Einladung zu einem Abendessen ablehnen muss, weil er indessen seine Arbeiter-Patienten vernachlässigen würde, auf deren paar Honorar-Schillinge er dringend angewiesen ist. Ridgeon hat die Wahl zwischen einem »Bilderhaufen und einem Menschen«, wie Sir Patrick Cullen, sein alter zynischer Mediziner-Freund, findet. Sowohl der geniale Bilderhaufen wie der langweilige Mensch leiden an Tuberkulose, was ja zu Zeiten eine viel tückischere und massenhafter virulente Krankheit gewesen ist, als es Covid-19 in diesem berühmten Frühjahr 2020 war. Und Dr. Ridgeon hat gerade noch einen Therapieplatz beziehungsweise eine Dosis des von ihm erfundenen und erfolgreich angewendeten Heilmittels übrig. Dr. Ridgeon entscheidet sich für den Armenarzt, der überlebt. Das Künstlergenie, das daran stirbt, überlässt er der Behandlung durch einen unbegabten, pfuscherischen Kollegen. Denn Dr. Ridgeon war auf die Frau des Künstlers scharf, die er nach des Künstlers Tod leichter zu erobern hofft, zumal er glaubte, dass die »schönste Frau Cornwalls«, vom Malergenie vielfach hintergangen, betrogen und ausgenutzt, ihm leichter Hand zufallen würde. Worin er sich gewaltig täuschte.

      Die Betrogene wird ihren verstorbenen Genie-Engel ewig lieben und richtet ihm tolle postume Vernissagen aus: »Sie haben versucht, dieses schöne und wunderbare Leben zu zerstören, bloß weil Sie ihm eine Frau missgönnten, von der Sie niemals erwarten durften, dass ihr an Ihnen etwas gelegen sein könnte.« Worauf er repliziert: »Dann habe ich einen ganz uneigennützigen Mord begangen.« Was als Ende einer Komödie ein Witz ist – der sie als Tragödie offenbart. Mehr kann man von einem Drama über Ausweglosigkeiten nicht verlangen. Auf dem Theater. Und natürlich ist die dramatische Erinnerung an Dr. Ridgeon in den dramatischen Virus-Fernsehtagen eine unstatthafte und frivol anachronistische theatralische Gemütsreminiszenz – was die Motivlage Dr. Ridgeons angeht. Nicht was die Zwangslage betrifft. Auch in unserer Realität.

      Und als der ZDF-Journalist Theo Koll, der ja immer so wirkt, als komme er in seinen teuren Jacketts, seinen maßgeschneiderten Hemden, erlesenen Krawatten und seiner schwungvoll gebändigten Künstlerredakteursmähne gerade aus einem jener Londoner Clubs, in die ein Dr. Ridgeon auch schon vor Zeiten soupieren gegangen sein könnte, den Bundesfinanzminister sorgenvoll fragte: »Wie geht es Ihnen persönlich, Herr Scholz?« und dieser antwortete, man wolle »alles tun« mit den Restriktionen und Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen, damit es nicht zu Zuständen wie in Italien oder Spanien oder Amerika komme, dann hatte der Minister natürlich nicht die Frage des Fragenden beantwortet, das tun Politiker sowieso sehr selten. Und der rhetorische Vordergrund bestand aus lauter Beruhigung. Aber im dramatischen Hintergrund, der hie und da durch das grelle Licht von Herzlosigkeitsspots wie das Palmersche kurz und böse aufleuchtet, lauern die Ärzte an möglichen Scheidewegen. Ärzte, die im Frühjahr des Unheiljahrs 2020 in die Politik und ins Fernsehen so weit hineinwirkten wie selten zuvor.

      Und wenn Prof. Dr. Streeck, ein junger Virologe aus Bonn, meinte: »Wir können das nicht lange durchhalten«, nämlich die Restriktionen, die Kontaktverbote, das Wirtschaft-, Kultur- und Gesellschaftherunterfahren et cetera, dann war das weniger eine wissenschaftliche, vielmehr eine gesellschaftspolitische Aussage. Vorgetragen aber mit der Autorität eines Wissenschaftlers. Die allerdings wenn auch nur mittelbar ins Politische übergriff. Denn das Zauberwort, das nicht nur in der Politik, sondern vor allem im Fernsehen eine große Rolle spielt, ist ja das Wort »Wissenschaft«. Alles, was Wissenschaft ist, wird im deutschen Fernsehen und in der deutschen Öffentlichkeit verehrt und geglaubt, als habe eine unfehlbare Institution ein Dogma verkündet, als betrete jedes Mal, wenn die Wissenschaft oder eine Studie, die dies oder jenes »festgestellt« und also den Fernsehbühnenvorhang aufgezogen hat, eine Art Papst oder wahlweise gleich Gott der Herr die Szene. Als sei Wahrheit und Endgültigkeit und unerschütterbare Letzthinnigkeit das Wesen von Wissenschaft. Man erlebte das zum Beispiel in den täglichen »heute-Spezial«-Sendungen. Vor einem roten, mit hektischen »Spezial«-Schriftzügen bemalten Vorhang trat ein äußerst gütiger, mit beruhigendem Bariton begabter Herr namens Niehaves oder eine noch sehr junge Frau Zimmermann, die ebenso gütig schien wie der Herr Niehaves, nur mit strahlenderer Miene. Beide wechselten sich in jenen Tagen oft ab – aber nicht in ihrer ehrfürchtigen Haltung Wissenschaftlern gegenüber, denen sie Fragen von Zuschauern weiterreichten, die diese über sogenannte Soziale Medien wie Twitter oder Facebook eingereicht hatten. »Hilft viel Wasser trinken gegen Corona?« und ähnliches mehr.

      Natürlich waren die Wissenschaftler damit sehr unterfordert. Hatten es aber in solchen Wassertrink-Fällen, in denen das Fernsehen sich als Plattform der Nation begreift, will sagen aufspielt, mit der Wahrheit ganz leicht. Und natürlich war jedes »Spezial« ganz und gar unspeziell, auch wenn Herr Niehaves mit seinem Dreitagebart und seinem Gütigkeitsblick fand, dass der Zuschauer »bei uns, den Öffentlich-Rechtlichen« die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit vermittelt bekomme, er nannte das zwar nicht »Wahrheit«, sondern sprach von »Fakten«, aber so, dass zwischen beiden kein Unterschied sei. Freilich war alles, wovon im »Spezial« die Rede war, schon vorher ausführlich in den »heute«- oder den »Tagesschau«-Nachrichten vorgekommen. Selbst die erfreuliche Tatsache für eine reiselustige Nation, dass – was überflüssigerweise als großer »Spezial«-Service angepriesen wurde – die Kosten einer Pauschalreise, sollte das Auswärtige Amt eine entsprechende Reisewarnung für das betreffende Land ausgesprochen haben, vom Veranstalter zurückerstattet werden müssten.

      Je länger aber die Fernsehsender, vor allem die Öffentlich-Rechtlichen im Morgenmagazin oder im Mittagsmagazin oder in »Hallo Deutschland« am Spätnachmittag Bilder von verzweifelten, manchmal gar hemmungslos schluchzenden Eltern, Müttern zuvorderst zeigten, die mit der Aufgabe, ihre Kinder zu Hause erstens zu bespaßen, zweitens zu bekochen, drittens zu unterrichten und viertens davon abzuhalten, auf die Straße zu rennen, völlig überfordert und mit den Nerven dementsprechend am Ende waren, also mit der Aufgabe, all das zu tun, was früher ganze Elterngenerationen wie von selbst hingekriegt hatten und was seit Jahren an Kindertagesstätten, Heime und Schulen delegiert ist, weil die Eltern zu beruflichen, nicht zu erzieherischen Strapazen sich gesellschaftlich verdonnert fühlen, desto mehr fingen interessierte Kreise von rechts bis links, von liberal bis radikal, von spinnert bis wahnsinnig, befeuert von krawallgebürsteten Boulevard-Medien, von den drei wissenschaftlichen Beratern der drei Kanzlerwelpen plötzlich das einzufordern, was diese als Wissenschaftler gar nicht liefern konnten: erstens Wahrheit; zweitens Gewissheit; drittens noch mehr Wahrheit.

      Und plötzlich waren sogenannte Theorien im Schwange, obwohl man an so etwas Schönes wie eine Theorie doch gewisse intellektuelle Anforderungen stellen darf und man das, was dieses Im-Schwange-Zeugs so vor sich hin streute, nicht mit dem Ehrentitel »Theorie« nennen sollte, die das Gift von Vermutungen und Verdächten der Öffentlichkeit injizierte, der kleine rote Ball sei von Juden, wahlweise auch Freimaurern, von amerikanischen Milliardären mit Impfinteressen, von chinesischen Militärlabors, von finsteren Mächten, zu denen auch Geheimdienste zählen mussten, bewusst und aus Weltherrschaftsgründen in die Welt gesetzt worden. Und der brillante Virologe mit dem Wuschelkopf habe mit seiner erst noch zu untersuchenden und auf experimenteller Basis zu stellenden Vermutung, nicht schon einer zu verkündenden Wahrheit, dass Kinder eventuell genauso ansteckend seien wie Erwachsene, dafür gesorgt, dass Kindertagesstätten und Schulen geschlossen worden seien und also Eltern, alleingelassen mit ihren Kindern, die offenbar das schlimmste und belastendst Vorstellbare für sie sind, am Rande der Nervenzerrüttung kollabieren müssten.

      Aber das war nur die Zerrspiegelung dessen, was sowohl der Königspudel in Frankreich als auch die Fürsorge-Leitwölfin und ihre Kanzlerwelpen in Deutschland als den Urgrund ihrer Auf-geht’s-widerden-Feind!-Pathosreden anklingen ließen: Wir müssen zusammenrücken! Deutschland war in jenen Tagen fernsehoffiziell ein einig Volk von Anti-Virus-Brüdern. Wenigstens eine Zeitlang. Auch eine Art Ausnahmezustand.

      Конец ознакомительного