Die verlorene Insel. Nataliya Gumenyuk

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Название Die verlorene Insel
Автор произведения Nataliya Gumenyuk
Жанр Зарубежная публицистика
Серия
Издательство Зарубежная публицистика
Год выпуска 0
isbn 9783838274997



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dieser Krieg bereits begonnen; sie brechen auseinander. Heute im Bus haben sich die Leute gegenseitig zum Feiertag gratuliert. Ich ließ es darauf ankommen und fragte: ‚zu welchem Feiertag denn?‘ ‚Ja wie, wir sind doch seit heute Unabhängig!‘ Ich entgegnete: ‚Welche Unabhängigkeit?‘ – ‚Na, heute haben wir uns Russland angeschlossen.‘ Dabei zeigt ein Blick ins Wörterbuch, dass die Begriffe ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Anschluss‘ unterschiedliche Bedeutungen haben. Doch dir steht nicht zu, diesen ‚Feiertag‘ zu verweigern. Und wenn wir für das Recht einstehen, dass Sewastopol ukrainisch bleibt, bringen sie uns einfach um…“ sie ringt um die richtigen Worte „…die schlachten uns einfach ab!“

      „Sie haben gerade das Wort ‚abschlachten‘ verwendet…“

      „Weil es genauso gesagt wurde! ‚Ihr Benderiwtsi gehört abgeschlachtet! Ihr Faschisten!‘ Was geht nur vor in den Köpfen der Menschen? Es zerreißt dir das Herz, wenn du solche Dinge hörst. Wir leben hier wie Geiseln, ohne zu wissen, wie wir uns verhalten sollen: reden oder schweigen. Viele haben ihre Gesinnung bereits gewechselt, manche sind geflohen, andere untergetaucht, wieder andere sind verstummt. Die Fernsehsender in Sewastopol, auf der Krim – wohin man auch schaut, überall verzerrte Informationen. Die Menschen fürchten sich davor, aufs Festland zu reisen: ‚In der Ukraine werdet ihr getötet, Faschisten haben dort die Macht ergriffen – bleibt besser auf der Krim!‘ Sowas wird ihnen eingetrichtert. Aber ich war dort, vom Faschismus keine Spur.“

      Ich kann Switlanas Wut nachvollziehen. Sie sucht das Gespräch mit Kollegen und ist bestrebt, Andersdenkende umzustimmen. Doch sie befürchtet, dass sie nichts ausrichten kann. Jurij hält sich bedeckt, daher will ich wissen, ob er keine Angst verspüre: „Wovor sollte ich Angst haben? Ich gebe nur wieder, was ohnehin in aller Munde ist. Wir schlagen uns mit gesperrten Bankkonten herum. Schon vor dem Referendum konnte man kein Geld mehr abheben. Ich fürchte, dass diejenigen, die hier an die Macht gekommen sind, die Krim einfach zur Plünderung freigeben. Sie werden sich wie kleine Fürsten aufführen und den Kurs von Janukowytsch fortsetzen. Sie schnappen sich seine Villen und bauen sich noch ein paar neue dazu.“

      ***

      Was bildest du dir ein, mein Schatz?

      Willst um den Finger wickeln?

      Die Mädchen woll‘n dich aber nicht,

      siehst aus wie ein Karnickel!

      Auf dem Basar war ich vor Kurzem,

      da zeigten sie ein Märchen.

      ‘ne Alte hat‘n Gaul geknutscht,

      Fedja hieß das Pferdchen.

      Russland und die Ukraine –

      oh dichter Beerenstrauch,

      der Grenzmann schützt die Heimat

      heuer vor der Heimat auch.

      Eine Frau mit einem angehefteten Georgsbändchen tanzt und singt dabei diese Zeilen. Ein Großväterchen mit Akkordeon sorgt für die musikalische Begleitung. Eine „spontane“ Feier findet hier statt. Auf dem Nachimow-Platz in Sewastopol hat sich eine Gruppe von etwa 30 Personen, darunter vorwiegend Rentner, eingefunden. Viele tragen Fahnen mit Portraits von Putin und Medwedjew.

      „Wir, die Sewastopoler, sind russische Menschen, heute sind wir das allerglücklichste Volk, und ich wünschte, alle Menschen auf dem gesamten Erdball wären so glücklich wie wir es heute sind. 23 Jahre lang hatten hier die Besatzer das Sagen, und nun kehren wir endlich heim. Wenn es von uns verlangt wird, stehen wir bereit, um Tag und Nacht zu marschieren. In dieser Stadt hat immer russische Ordnung geherrscht, Ukrainisch haben wir nie gelernt, und die Älteren konnten die Packungsbeilage ihrer

      Medikamente nicht lesen. Wie ist so etwas möglich? All die Jahre mussten wir ein Wörterbuch zur Hand nehmen, um uns nicht zu vergiften und an unserer Medizin zu sterben“, ereifert sich eine Frau fortgeschrittenen Alters in Matrosenshirt und Schiffchenmütze. Eben noch hatte sie mit einem Großväterchen in Kapitänsmütze getanzt.

      „Wir haben diesen Moment so lange herbeigesehnt. Alles geschieht zur rechten Zeit! Was willst du da machen?!“, ergänzt das Väterchen mit einem breiten Grinsen: „Begreif doch, Kindchen: Kyjiw wurde von Banditen erobert. Hätte man ihre Machenschaften sofort im Keim erstickt, wäre das alles hier nicht passiert. Wir alle hier wären nicht zu Russland gekommen. Während wir in Untätigkeit verharrt hätten, hätten sie uns die Nationalgarde auf den Hals gehetzt. Hätte, hätte – wenn wir nicht rechtzeitig gehandelt hätten.“

      „Die Ukrainer sind ja auch ein gutes Völkchen, das schon“, fährt die Frau mit der Marinekappe fort: „Aber dann kam diese Bande daher und sorgte für Ärger. 2008 habe ich im Urlaub in den Karpaten eine Familie aus der Nähe von Kyjiw getroffen. Großartige Menschen! Wir konnten uns in jeder Sprache unterhalten. Und so friedfertig! Es gibt keinen Grund, uns in die Enge zu treiben.“

      Während der Videoaufnahme erwähne ich den Umstand, dass ich aus Kyjiw komme und bei Hromadske arbeite, mit keinem Wort. Doch ich gebe auch nicht vor, gebürtig von der Krim zu stammen. Und so kommt die Gruppe auf die Beziehung zwischen der Krim und der Festlandukraine zu sprechen – auf dass man sie „da drüben“ hören möge.

      „Wird Ihnen das im Fernsehen erzählt?“

      „Natürlich! Ganz selbstgefällig saß der da, runzelte die Stirn und blähte seine Backen. Was glauben Sie denn, warum die Leute sich jetzt erheben? 23 Jahre haben die einfach so vor sich hingelebt, sich nicht beschwert und die Klappe gehalten. Die hatten Angst – bis jetzt.“

      Wie so viele kommt sie auf die „Sprachenfrage“ zu sprechen: „Ich will Ihnen mal was klarmachen. Wir haben Spielzeug gekauft, das war nur auf Chinesisch, Englisch und Ukrainisch beschriftet. Da weißt du nicht, ob die Kreide gegen Kakerlaken ist oder ob die Kinder damit auf der Tafel schreiben können!“

      Mir scheint, als hätte ich die Geschichte von der Insektizid-Kreide bereits irgendwo gehört. Ein junger Mann in Militäruniform hängt sich jetzt das Akkordeon um. Eine solche Uniform wird mir schon bald darauf erneut im besetzten Donezk begegnen.

      Eine andere Frau tritt an mich heran, um ihre Meinung zu sagen: „Nach Abzug aller Steuern bleiben vom Gehalt noch 50 Dollar im Monat übrig. Davon muss man 18 Dollar nur für die täglichen Mahlzeiten abziehen. In Russland wird das anders sein.“ Die Leute bilden jetzt fast so etwas wie eine Warteschlange.