Die Charismatische Bewegung 2. Michael Kotsch

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Название Die Charismatische Bewegung 2
Автор произведения Michael Kotsch
Жанр Религия: прочее
Серия
Издательство Религия: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783869549576



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und Ergriffenheit. Das Medium solcher Gottesbegegnung im Kollektiv ist laut Bandleaderin Lilo Keller die Musik. … Im ICF-Gottesdienst von Leo Bigger kommt der Anbetungsteil auf mindestens so viel Dezibel wie eine Party im Zürcher Trendlokal Kaufleuten. Auch der Gottesdienst im Zentrum Buchegg nimmt sich mit seiner Band wie ein Popkonzert aus. Pfarrer Kniesel weiß allerdings, dass es nicht die heißen Rhythmen sind, die den Gläubigen in die Glieder fahren, es ist der Heilige Geist. Damit sich die Geisttrunkenen «frei vor Gott bewegen» lernen, stellt ihnen die Erweckungsindustrie Anbetungsutensilien bereit: bunte Bänder und Tücher, Schellen-Tamburins oder Handtrommeln. … “Are you ready to jump for Jesus?“, schreit der 18-jährige Dany. Da erklimmt Papa Beddingfield die Bühne und erklärt, Stagediving sei sein Lieblingssport. Und schon wirft er seinen jüngsten Spross und dann sich selber in die Menge der johlenden Kids. Jeder darf es ihm gleichtun und sich vertrauensvoll von der Bühne stürzen. Auf Danys Geheiß stemmt jeweils eine Gruppe von zehn Jugendlichen eine Kameradin horizontal in die Höhe. … Kein zweckfreies Gaudi, nein, die Teenies sollen den Sprung in den Glauben sinnenfällig erleben. … [charismatische] Fun- und Erlebnisreligion lebt von Events, Spektakeln und Großkonferenzen. … Die Kehrseite ihrer Erlebnisreligion ist ihre dürftige Theologie, die fehlende Nachdenklichkeit. … [sie] blendet gesellschaftspolitische Themen aus, sie sind ihm zu abstrakt. … Sich auf das Priestertum aller Gläubigen berufend, sind die evangelikalen Leader oft keine Theologen. Dafür umso gewieftere Entertainer. Wenn der stämmige Offsetdrucker Leo Bigger in der alten Börse ächzend und stöhnend seine kreißende Frau nachahmt und per Videoclip den neugeborenen Sohn präsentiert, geht es mehr um Selbstinszenierung als um Verkündigung. … Der geläuterte Basileia-Chef [Martin Bühlmann] versteht sich als Narr in Christo, der im Weinberg des Herrn experimentiert und dafür Kritik einsteckt. Auch er weiß, dass die jungen und wenig strukturierten Bewegungen ohne charismatische Leitfiguren nicht lebensfähig wären. Ob dann die erwecklichen Aufbrüche ihre Gründer überleben, ist eine andere Frage.”6

      Die Bedeutung des Lobpreises für den charismatischen Gottesdienst wird sowohl durch die reichhaltige charismatische Liedproduktion als auch durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema unterstrichen.7 In ihrer Bedeutung steht der Lobpreis- und Anbetungsteil charismatischer Gottesdienste zumindest gleichwertig neben der Wortverkündigung. Im Hinblick auf seine zeitliche Länge steht der Lobpreis sogar weit vor der Predigt. Bis zu einer Stunde werden überwiegend jüngere, meist einstrophige Chorusse gesungen. Geführt durch ihren Anbetungsleiter und ein Musikteam stehen die Besucher auf, erheben oder schwenken ihre Hände. Andere Gottesdienstteilnehmer knien oder tanzen, häufig mit geschlossenen Augen. Eine sehnsüchtige Erwartung der Manifestationen des Geistes verbreitet sich. Kurze, von Musik untermalte Wortbeiträge werden durch gemeinsamen triumphal- erhebenden Gesang oder gemeinsames (Zungen-) Gebet abgelöst. Es wird ermutigt, Gefühlsäußerungen spontan Ausdruck zu verleihen, da sie als Wirkungen des Geistes interpretiert werden. Immer wieder entstehen neue kreative Ausdrucksformen geistlicher Ergriffenheit. Bewusst suchen Charismatiker hier das Gegengewicht zu Gottesdienstformen, die sich vorwiegend an den Verstand richten.8 Die eigene Lobpreispraxis soll in der Charismatischen Bewegung durch biblische Vorbilder und Belege begründet werden. Dazu zählen Jesu Ankündigung, dass „die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit“ anbeten werden (Joh 4,23f) und der Hinweis des Paulus, dass der Heilige Geist im Innern des Gläubigen „Abba, lieber Vater“ ruft (Gal 4,6). Überhaupt genießt die Anbetung Gottes als Vater in charismatischen Kreisen hohe Wertschätzung. In den Liedern und Gebeten dominiert eine intime Gottesvorstellung, des sanftmütigen, sensiblen, vergebenden und verständnisvollen Vaters. Kämpferische oder richtende Charakterzüge Gottes werden zumeist nur im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung des Christen mit Dämonen oder der nichtchristlichen Umwelt erwähnt. Ideale charismatische Anbetung soll nicht überlegt und verstandesmäßig formuliert, sondern unmittelbar durch den Geist bewirkt werden (Röm 8,26).9 Freie Formulierungen und unmittelbare Eindrücke sollen für Authentizität und Geisteswirkung stehen. Durch das Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist wird der Mensch selbst zur Wohnung Gottes, heilige Räume oder Liturgien werden überflüssig. Als Idealfall wird die Zungenrede angesehen, weil hier jede menschliche Einflussnahme auf den Lobpreis ausgeschlossen scheint, da der Geist selbst spricht.10

      Lobpreis soll therapeutisch gegen Schwermut und Traurigkeit helfen und das Gemeindewachstum unterstützen. Bei der Erwartung körperlicher Heilung durch charismatischen Lobpreis liegt ein fast mechanisches Verständnis des Handelns Gottes vor. In der Seelsorge und in der geistlichen Kampfführung soll Lobpreis dabei helfen den Einfluss dämonischer Mächte zurückzudrängen. Hier wird der Lobpreis seinem eigentlichen Wesen entfremdet, er ist nicht mehr Anrede des Menschen Gott gegenüber.

      Da das Neue Testament nur wenig Auskunft über den frühchristlichen Gottesdienst gibt, stützt sich die charismatische Lobpreistheologie vor allem auf alttestamentliche Texte, die den Tempelkult Israels beschreiben (1Chr 23,5; 2Chr 29,25-28). Gott offenbart sich in bzw. durch den Lobpreis seines Volkes (Ps 22,4; 50,23). Lobpreis hilft bei geistlichen Auseinandersetzungen (1Sam 16,23) und im Kampf gegen irdische Gegner (Jos 6,20; Ri 7,16). Geistliche Musik kann Menschen zu Gott führen (Ps 40,1-3) und den Empfang von Prophetie vorbereiten (1Sam 10,5; 2Sam 23,2). So wie im Alten Testament kann auch der charismatische Lobpreis heute durch Tanz (2Sam 6,14-16; Ps 149,3; 150,4) und Klatschen begleitet werden (Ps 47,1). Ausgehend von diesen und zahlreichen anderen Details des alttestamentlichen Tempeldienstes entwickelten charismatische Leiter zahlreiche kreative Formen Lobpreis in der Gemeinde auszuüben und zu begleiten. Vor allem ermöglicht charismatischer Lobpreis den Ausdruck von Emotionen und Körperlichkeit in der Gemeinde. Dadurch begegnet er durchaus sinnvoll einer einseitigen Intellektualisierung des Gottesdienstes. Darüberhinaus fördert ein ausgedehnter Lobpreis eine starke Beteiligung der Gemeinde.

      Die überwiegend amerikanische Lobpreisliteratur zeichnet das Bild eines liebevollen, den Menschen zugewandten Gottes. Jesus wird hier gelegentlich zu einem Kumpel, der alle Probleme löst, der stets unmittelbar und direkt in den Alltag eingreift und für alle Kleinigkeiten sorgt. Dass Gott Menschen, auch Christen, ermahnt, straft und richtet findet genauso wenig Erwähnung wie die totale Andersartigkeit und Unverständlichkeit Gottes.11

      Charismatischer Lobpreis wird auch nicht nur als zweckfreie Hinwendung zu Gott verstanden, sondern als geistliche Waffe betrachtet. „Die Schwierigkeiten in deinem Leben werden sich lösen, Mächte der Krankheit werden weichen müssen, und die Fesseln, die Satan deinem Leben anlegen will, werden zerbrochen werden. Durch Loben und Danken wirst du das Land einnehmen.”12 Lobpreis kann in diesem Zusammenhang zu einer Methode werden, die die Freiheit Gottes weitgehend unberücksichtigt lässt.

      Gebet ist für viele Charismatiker nicht nur die Bitte des Menschen an Gott, sondern ein übernatürliches Geschehen, ein Charisma, Gott und Mensch treten in eine geistgewirkte Zwiesprache ein.13 Tatsächlich spricht Paulus davon, dass der Heilige Geist im Christen die Gewissheit seiner Gotteskindschaft bewirkt (Röm 8,15; Gal 4,6f) und ihn zum Gebet treibt (Röm 8,14f). Über die Bibel hinaus aber gehen charismatische Interpretationen, die den Eindruck erwecken, jeder Christ könne im Gebet Gottes Stimme unmittelbar akustisch hören und in einen direkten Dialog mit Gott eintreten. Oft tritt dadurch die Exklusivität der biblischen Inspiration zurück.14 Ebenfalls nicht biblisch gedeckt ist die in charismatischen Lobpreisseminaren vermittelte Auffassung, Zungenrede und Zungengesang sei eigentlicher Ziel- und Gipfelpunkt der Anbetung. Oft werden die emotionalen Erfahrungen während des charismatischen Lobpreis und Zungenredens als Garantie göttlicher Nähe interpretiert und dabei vergessen, dass religiöse Gefühle ebenso wie Wunder, immer interpretationsbedürftig sind, da sie weder ihre Bedeutung noch ihre Aussagekraft offensichtlich in sich tragen. Schließlich würde auch kaum ein charismatischer Christ dem Buch Mormon zustimmen, nur weil ein Mormone ihm versichert, Gott habe ihm dessen Wahrheit durch eine innere Gewissheit und ein „Brennen in der Brust” mitgeteilt.

      Zweifellos ist es eine Stärke charismatischen Lobpreises, dass er die Emotionen des Menschen anspricht und