Die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Thomas-Gabriel Rüdiger

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Название Die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes
Автор произведения Thomas-Gabriel Rüdiger
Жанр Юриспруденция, право
Серия
Издательство Юриспруденция, право
Год выпуска 0
isbn 9783866766464



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und nicht als Person kennen würden, während das bei den Mädchen nur 40 Prozent bejahten396.

      Dieses Ergebnis ermöglicht zwei Ableitungen: Kinder sind zum einen offensichtlich bereit, unbekannte Mitspieler zumindest als Online-Freunde zu definieren, da sie die genannten Mitspieler laut Umfrage nicht persönlich kannten. Dies könnte darauf hindeuten, dass in einer spielerischen Interaktion auch stets ein vertrauensbildender Prozess gesehen werden kann. Im Rahmen der Spieleforschung, den sog. Game Studies, wird angenommen, dass es faktisch einen Mehrwert für das Spielen darstellen kann, wenn man Mitspieler vertrauen kann397. Die Mitspieler können ihre Aufmerksamkeit mehr auf das Spiel konzentrieren als auf die Frage, ob andere entsprechend ihren Interessen agieren398. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass dies natürlich auch abhängig vom Genre des Spiels ist und v. a. auf kooperative Spielmodelle und -mechanismen zuzutreffen scheint. Gerade im Rahmen gruppenspezifischer Mechanismen wie bei Gilden ist, wie bei anderen gruppendynamischen Prozessen, ein vertrauensvolles Miteinander für den Erfolg wichtig399. Bei Spielen oder Spielmodi, wo eher ein flüchtiges Gegeneinander – vor allem beim reinen Player versus Player (PvP) Spielen – im Fokus steht, ist eine Vertrauensbindung vermutlich nicht in demselben Maße von Bedeutung.

      Die zweite Ableitung ist, dass Jungen offensichtlich eher dazu neigen, auch unbekannte Mitspieler als Freunde zu identifizieren, was sie zumindest so im Rahmen der Erhebung angaben. Dies kann einerseits von der gemäß den Studien insgesamt höheren Attraktivität und Nutzungsintensität digitaler Spiele für Jungen herrühren400. Es kann auch darin begründet liegen, dass Mädchen insgesamt stärker sensibilisiert sind für Risiken im digitalen Raum und somit dort vorsichtiger mit vertrauensbildenden Prozessen umgehen. Die ICLIS Studie ergab für Deutschland, dass Mädchen in der achten Klasse „[…] durchschnittlich höhere computer- und informationsbezogene Kompetenzen […]“ besitzen als Jungen401, wobei sie „[…] ihre Fähigkeiten geringer einschätzen […]“ würden als die der Jungen402. Diese Entwicklung spiegelt sich auch darin wider, dass, wie dargestellt, 56 Prozent der befragten Jungen bereit sind sich beim Onlinegaming mit Personen verknüpfen, mit denen sie nicht befreundet sind. Bei den Mädchen bejahten dieselbe Frage nur 43 Prozent403. Letzteres könnte auf ein gestiegenes Risikobewusstsein beziehungsweise entsprechende Sensibilisierung hindeuten.

      Aus diesen Entwicklungen können mehrere für diese Arbeit relevante Aspekte herausgelesen werden. Einerseits sieht man, dass digitale Spiele – und damit auch solche, die eine Onlinekommunikation ermöglichen – nicht nur von Jugendlichen, sondern auch bereits von Kindern in annähernd jeder Altersstruktur genutzt werden. Gleichzeitig liegt das durchschnittliche Alter der Gamer bei ca. 35 Jahren, nicht nur in Deutschland, sondern auch in vergleichbaren Ländern wie den USA.

      In diesen Spielen treffen also alle Altersstufen in einem Onlinespiel aufeinander, interagieren und kommunizieren miteinander. Durch die spielerische Interaktion erscheint es naheliegend, dass ein Vertrauensaufbau von Kindern zu ihnen unbekannten Mitspielern wie auch umgekehrt leichter erfolgen kann als beispielsweise in klassischen Sozialen Netzwerken, in denen dieses spielerische Element fehlt. Zudem kann ein Kind beispielsweise in Sozialen Netzwerken anhand von Aspekten wie der Freundesliste einer Kontaktanfrage oder geteilten Beiträgen Anhaltspunkte über dessen Alter und Identität gewinnen. In Onlinespielen hingegen ist der Bezug zum sozialen Umfeld reduziert, auch durch die Nutzung von Avataren. Dies kann Onlinespiele, aber auch virtuelle Welten allgemein auch für Sexualtäter interessant machen404. So warnte das Bundeskriminalamt im Rahmen eines Presseartikels: „Gerade die bei Kindern und Jugendlichen beliebten Onlinespiele mit unterschiedlichen Kommunikationsmöglichkeiten zum Austausch unter Gleichgesinnten bieten gute Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Erstkontakt zwischen Tätern und Opfern“405. In Spielen ist es jedoch zumeist nicht möglich selbstproduzierte Bilder oder Videos zu teilen, sodass ein Täter für einen intensiveren Austausch mit seinem Opfer auf andere Formen Sozialer Medien – v. a. Messenger – ausweichen muss. Dass Onlinespiele als Anbahnungsplattformen nicht irrelevant sind, zeigen diverse nationale wie internationale Fälle. Im Jahr 2016 wurde der Fall des 12-jährigen Paul aus der Schweiz bekannt. Ein 35-jähriger Mann aus Düsseldorf hatte als Moderator eines Minecraft Servers Vertrauen zum Jungen aufgebaut, ihn entführt und in Düsseldorf bis zur Befreiung durch die Polizei gefangen gehalten406. In einem anderen Fall nahm ein Täter über das Spiel „MovieStarPlanet“ Kontakt zu 122 Mädchen von 10–15 Jahren auf407. Im Jahr 2011 wurde in England der 14-jährige Breck Bednar vom 18-jährigen Lewis Daynes umgebracht408. Der Täter hatte über das gemeinsame Onlinespielen Vertrauen zum Opfer aufgebaut und so ihr Treffen einleiten können409.

      Es konnte herausgearbeitet werden, dass Minderjährige in Deutschland immer früher mit der Internetnutzung beginnen. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass in jüngeren Altersstufen Angebote wie Facebook oder Twitter eine nur geringe bis gar keine Rolle spielen. Vielmehr nutzen Kindern Medienplattformen (v. a. YouTube, Instagram und Snapchat) Messenger, und zwar primär WhatsApp, sowie insbesondere Jungen Onlinespiele ab frühestem Alter. Dementsprechend erscheint es notwendig, dass sich Analysen und v. a. auch Überlegungen zu kriminalpolitischen Reaktionen primär auf diese Plattformen beziehen. Im Gegenzug kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass Kinder nicht auch auf Plattformen wie Twitter oder gar LinkedIn und Xing zum Opfer von Cybergrooming werden können. Die Wahrscheinlichkeit kann jedoch auf Basis der Nutzungszahlen als gering eingestuft werden.

      Eine Betrachtung von Cybergrooming muss sich auch damit auseinandersetzen, warum Minderjährige offenbar bereit sind sich im Internet selbst zu präsentieren, was Tätern die Möglichkeit der Kontaktaufnahme bietet. Ein möglicher Erklärungsansatz könnte im Konzept des digitalen Narzissmus liegen410. Dabei ist der Grundgedanke, dass Kinder und Jugendliche in einem durch Interaktion und Kommunikation geprägten digitalen Raum aufwachsen. Schon bevor sie sich in diesen Raum selbst verorten und verankern können, wird ihnen durch Verwandte und Bekannte oft eine digitale Identität geschaffen411. Die Nutzung Sozialer Medien ist dabei offensichtlich geprägt von einer Form der ‚Egomanie‘, die auch auf einer Form von Selbstbestätigung basiert, die sich aus Likes, Followerzahlen und Ähnlichem speist, dem ‚digitalen Narzissmus‘412. Marx und Rüdiger verstehen darunter, dass „[…] die Selbstpräsentation und die zumeist positiven Reaktionen zu Selbstbestätigung und Anerkennung führen […]“413. Der digitale Narzissmus scheint durchaus eine folgerichtige Entwicklung im Rahmen der Digitalisierung zu sein. So hatte Facebook mit FaceMash einen kurzlebigen Vorgänger. Dort wurden jeweils zwei Studentinnen mit ihren Bildern gegenübergestellt und die Nutzer konnten bestimmen welche attraktiver sei als die andere414. Dabei griff FaceMash bereits relativ früh auf, dass es im digitalen Raum häufig um bildliche Eigen- und Fremdpräsentationen und entsprechende Bewertungen geht. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist u. a. das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche von sich selbst Bilder erstellen und durch andere als „hot or not“ bewerten lassen, was Ansatzpunkte für Cybermobbing, aber auch Cybergrooming liefern konnte415. Das psychische Konzept dahinter ist als „Impression Management“, also bewusste Strategien zur Selbstinszenierung und zur Kontrolle des Meinungsbildes über sich, bereits länger bekannt416. Nicht jede Selbstdarstellung ist entsprechend strategisch geplant und sich der Risiken bewusst. Dies führt oft dazu, dass Menschen durch ein offensives Preisgeben ihrer persönlichen Privatsphäre im digitalen Raum, aber auch durch unterschiedliche Formen der Selbstpräsentation Anerkennung, Aufmerksamkeit und Zuspruch bekommen wollen417. Dieser Zuspruch ist dabei nicht nur auf die eigene Peer-Group beschränkt, sondern kann auch darüber hinaus stattfinden. Dies kann ab einem gewissen Bekanntheitsgrad durch Formen des Zuspruches wie Aufruf- und Followerzahlen sowie „Likes“ u. ä. geäußert werden. Aber auch negative Reaktionen können eine entsprechende Form der Anerkennung darstellen.

      So ist im digitalen Raum eine Strategie, um sog. Trolle – also Personen, die durch beabsichtigte Provokationen einen Diskurs erschweren wollen – zu begegnen, der Leitsatz: „Don’t feed the troll“418. Dieser Ansatz basiert darauf, dass Trollen keine Aufmerksamkeit