Der Gesang der Orcas. Antje Babendererde

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Название Der Gesang der Orcas
Автор произведения Antje Babendererde
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401802961



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Zeichnen und malen waren meine Leidenschaft. Mit meinen grün-dunklen Bildern vom jüdischen Friedhof hätte ich ein ganzes Zimmer tapezieren können.

      Es war Abend geworden.Als ich durch das schmiedeeiserne Friedhofstor trat, um nach Hause zu gehen, hatte ich das Gefühl, von meinen Problemen fast erdrückt zu werden. Ich konnte sie nicht loswerden. Tag für Tag trug ich sie mit mir herum wie eine nasse Pelzjacke.

      Mein größtes Problem war meine Traurigkeit. Das zweitgrößte war ich selbst: Sofie Tanner, fünfzehn Jahre alt, rothaarig und sommersprossig, von den meisten in meiner Klasse für merkwürdig und eigenbrötlerisch gehalten. Und das nur, weil ich mich nicht nach der neusten Mode kleidete und gerne klassische Musik hörte. Außerdem war ich wissbegierig und das Lernen fiel mir leicht, was mir zu allem anderen noch den Ruf einer Streberin eingebracht hatte.

      Zugegeben, in den letzten fünf Monaten war mein Verhalten wahrscheinlich immer merkwürdiger geworden. Mama war nicht mehr da. Die Stelle in mir, wo meine Liebe zu ihr gewohnt hatte, war jetzt leer. Als hätte man etwas aus mir herausgerissen. Ich hatte mich mehr und mehr in mich selbst zurückgezogen und war immer einsilbiger geworden.

      Aber war das nicht verständlich? Konnte denn niemand nachvollziehen, wie mir zu Mute war? Meine Mutter und ich, wir waren wie verwachsen gewesen. Ich wurzelte in ihr. Und nun war sie nicht mehr da.

      Mein Vater, der noch weniger mit ihrem Tod zurechtkam als ich, hatte sich wie ein Verrückter in seine Arbeit gestürzt und nahm nur noch am Rand wahr, dass es mich überhaupt gab. Ich war einsam. So einsam, dass es weh tat und ich mich immer wieder wunderte, warum ich nicht schrie vor Schmerz und Verzweiflung und Wut.

      Aber das tat ich natürlich nicht. Ich machte weiter wie bisher: ging jeden Tag zur Schule, montags zum Flötenunterricht und mittwochs in einen Malzirkel. Ich war nicht bei der Sache, aber zumindest waren die Erwachsenen so höflich mir das nachzusehen. Sie waren ganz furchtbar verständnisvoll, denn schließlich hatte ich einen schweren Verlust erlitten.

      Meine Klassenkameraden dagegen veränderten ihr Verhalten mir gegenüber nur für ein paar Tage. Die meisten sprachen mir zwar ihr Beileid aus, aber gleich darauf taten sie so, als ob ich gar nicht mehr vorhanden wäre. Eine Woche nach der Beerdigung meiner Mutter schien die Sache für sie abgeschlossen zu sein und sie setzten ihre Spötteleien fort. Ich nahm es ihnen nicht übel, weil ich wusste, dass ihnen einfach die Vorstellungskraft fehlte. Jeder von ihnen hatte noch beide Eltern, auch wenn drei oder vier Ehen geschieden waren und Vater oder Mutter nicht mehr zu Hause wohnten.

      Es war nicht dasselbe.

      Wahrscheinlich würden auch sie noch irgendwann lernen, was wirklicher Schmerz ist, dachte ich mir. Mich hatte es eben nur früher erwischt und ich hatte keine andere Wahl, als damit zurechtzukommen. Auch wenn es Tage gab, an denen mir das unmöglich erschien. Ich hatte Angst, dass meine Einsamkeit mich nie mehr verlassen würde.

      Doch jetzt waren Sommerferien und für ein paar Wochen brauchte ich mich wenigstens nicht der Großspurigkeit und dem Gespött meiner Mitschüler auszusetzen. Es war zwar nicht so, dass sie mich wirklich hassten oder quälten. Niemand war mein Feind. Aber ein paar hatten Freude daran, kleine, spitze Bemerkungen über mich fallen zu lassen. Besonders unter den Mädchen gab es einige, die es offensichtlich witzig fanden, mich zu ärgern. Ich weiß nicht, warum, denn ich hatte ihnen nie etwas getan. Ich glaube einfach, meine Welt war anders als ihre. Keine Ahnung, woran das lag, aber es wurde mir irgendwann klar und von da an kam ich besser damit zurecht.

      Auf jeden Fall war ich froh, dass ich sie allesamt erst einmal für sechs lange Wochen nicht sehen musste. Fehlen würden sie mir bestimmt nicht. Ich hatte nämlich Pläne. In 14 Tagen wollte ich zu Tante Elisabeth nach Brandenburg fahren. Sie war die Schwester meines Vaters und lebte jetzt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in dem großen, alten Bauernhaus, in dem ich aufgewachsen war. Tante Elisabeth pflegte meine inzwischen bettlägerige Großmutter Lene und machte meinem Vater ab und zu Vorwürfe, dass er sich so wenig um seine kranke Mutter kümmerte. Als ich sie jetzt fragte, ob ich in den Ferien für ein paar Tage kommen könnte, hatte sie mir das gerne erlaubt.

      Tante Elisabeth war ein bisschen hektisch und manchmal sehr laut. Trotzdem mochte ich sie. Vor allem aber mochte ich die Zwillinge Fabian und Sven, meine beiden gleichaltrigen Cousins, mit denen ich früher die verrücktesten Sachen erlebt hatte. Ich freute mich sehr darauf, sie wieder zu sehen. Ihre Späße würden mich vielleicht ein wenig ablenken.

      Nach einem zehnminütigen Fußmarsch stand ich vor dem schmalen Mietshaus aus roten Backsteinen, in dem ich wohnte. Papa hatte es vor zwei Jahren gekauft. Unten, im Erdgeschoss, hatte mein Vater sein Fotoatelier und die Dunkelkammer,darüber befanden sich unsere Zimmer. Als Mama noch da war, hatten wir zwei Etagen bewohnt. Seit drei Monaten vermietete mein Vater die oberste Etage an einen Studenten, weil wir nicht so viel Platz, dafür aber das Geld brauchten. Papa verdiente zwar gut in seinem Beruf, aber in den letzten beiden Jahren hatte er nicht mehr so viele Aufträge angenommen und Mamas Krankheit hatte eine Menge Geld verschlungen.

      »Bin wieder da«, rief ich in den dunklen Flur.

      »Ich bin in der Dunkelkammer«, kam es hinter einer der Türen hervor. »Hab gleich alles fertig, dann komme ich.«

      Mein Vater war Fotograf. Nicht irgendein Fotograf, der Passbilder oder langweilige gestellte Hochzeitsfotos machte, obwohl auch er einmal so angefangen hatte. Nein, Papa war ein richtig guter Fotograf, der ganz tolle Reportagen machte. Er hatte schon mehrere Preise gewonnen und seine Fotos wurden auf Ausstellungen gezeigt und in großen Magazinen abgedruckt. Der Name Frank Tanner stand für Qualität und Originalität. Seit Jahren war mein Vater in seinem Beruf viel unterwegs gewesen, oft auch in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten. »Wenn du mal größer bist, Sofie«, hatte er immer gesagt, »dann nehme ich dich mit nach Afrika zu den Massai oder wir schauen uns die Pyramiden in Ägypten an. Du wirst meine Assistentin und begleitest mich überall hin.« Jedes Mal, wenn er wieder fortging, manchmal für einige Wochen, hoffte ich, dass ich bei seiner nächsten Reise groß genug sein würde, um ihn begleiten zu können. Aber es passierte nie.

      Er fuhr alleine los und ließ Mama und mich zurück. Als sich sein Versprechen abgenutzt hatte, gab ich auch meine Hoffnung auf. Ich beschränkte mich darauf, mir seine wunderschönen Fotos in den glanzbeschichteten Magazinen und Bildbänden anzusehen und ungeheuer stolz auf ihn zu sein.

      Einmal im Jahr machten wir zusammen Familienurlaub. Aber dann stand meinem Vater plötzlich nicht mehr der Sinn nach Abenteuern. Er wollte irgendwo in einem netten Hotel am Pool liegen und sich erholen. In den letzten beiden Jahren war meine Mutter ohnehin viel zu schwach gewesen, um solche Reisen zu machen. Unser Leben konzentrierte sich jetzt ganz auf sie und mein Vater begann Aufträge abzulehnen. Allerdings nicht ohne Folgen: Schnell musste er sich selbst wieder um Arbeit bemühen und sagte, in seiner Branche würde man sofort vergessen werden, wenn man nicht ununterbrochen präsent war.

      Vor einem halben Jahr hatte er den Auftrag einer großen Gartenzeitschrift angenommen, Steinmauern zu fotografieren. Wir brauchten das Geld dringend. Mein Vater war in Irland unterwegs gewesen, als meine Mutter starb. Das kann er sich bis heute nicht verzeihen. Mama war gestorben und hatte ihn mit mir und seinen Schuldgefühlen allein gelassen.

      Familie Tanner,das waren jetzt nur noch er und ich. Wir redeten nicht viel miteinander, über Mama schon gar nicht. Irgendwie funktionierte alles überhaupt nicht mehr.

      Die Küche war unaufgeräumt. Ich warf einen Blick in den Kühlschrank und stellte fest, dass sich mal wieder keiner von uns beiden für den Einkauf zuständig gefühlt hatte. In den beleuchteten Fächern herrschte gähnende Leere. Nur zwei Flaschen Bier, eine Schachtel Margarine und eine Flasche Ketschup standen da. Im Gemüsefach schrumpelte eine welke Paprikaschote vor sich hin.

      Irgendwie war uns beiden in den vergangenen Monaten der Appetit abhanden gekommen und manchmal vergaßen wir einfach zu essen. Papa würde mir keine Vorwürfe machen, das tat er nie. Aber natürlich mussten wir irgendetwas zu uns nehmen. Ich fand noch eine Pizza im Tiefkühlfach und steckte sie in die Röhre.

      So viele Pizzaabendessen in den letzten Wochen.

      Noch vor einem Jahr hätte Mama um diese Zeit in der Küche gestanden und einen