Smaragdgrau. Severin Perrig

Читать онлайн.
Название Smaragdgrau
Автор произведения Severin Perrig
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783906304755



Скачать книгу

anmutenden Traum, als wäre er selber wenigstens in ihm ein richtiger, wohl expressionistischer Maler: »Und was würde ich malen […] Ein leeres, ganz leeres Zimmer. Ganz grau. Ohne Fenster in den 3 sichtbaren Wänden. Ohne Tür. Abend. Und nach hinten sich immer mehr vertiefende Dunkelheit. Rechts in der Ecke eine Art Schatten von 2 Männern. Sie sehn aus wie Brüder. Sie nehmen dieselbe Haltung [ein]. Wenn man näher zusähe, würden sie zerfließen. Sie haben hohe spitze Hüte auf. Sie sind in lange graue Talare gekleidet. Ein Strick bindet ihre Hüften.« Ein solch befremdendes Traumbild bindet uns als Lesende ganz an sich. Das ist eine Erzählung, deren verschattete Atmosphäre sich irgendwo in dunkelster Seelentiefe verliert. Alles Kolorit ist aus dem Raum, aus der Welt verschwunden. Die dunklen Vorhänge sind still um uns gezogen, als konspirierten sie mit einer uns alle geradezu einhüllenden Schläfrigkeit, wo wir doch so lange geradezu schlaflos blieben. Derart wächst mit jedem neuartigen Grauton auch das Gefühl, wieder am Nullpunkt der Farbe zu sein.

img_04.jpg img_04_1.jpg img_04_2.jpg

      Seit ich als Kind das erste Mal auf einem der hölzernen Stühle im Sternenturm saß, in dem ehemaligen Wasserspeicher, der wie eine Backstein-Arche aus dem Hamburger Stadtpark ragt, haben mich Planetarien fasziniert. Da steht vor einem diese schwarze Apparatur eines Projektors – eine Art schräg gestellte Tauchkapsel aus Jules Vernes Tagen oder gar ein ausgedienter Satellit des Sputnik- Schock-Zeitalters –, dessen Wirkungsweise nie gleich auf Anhieb ersichtlich ist. Geht das Saallicht aus, so wandert der Blick zur Decke, die wie ein Kirchengewölbe an den unteren Rändern ins Bläulichgraue ausfranst. Dann erscheinen allmählich unterschiedlich große und hell aufleuchtende Punkte, die dem Blick mehr und mehr eine nächtliche Himmelskuppel suggerieren, deren aufsteigende oder sinkende Kreisbahnen von Sternen und Planeten einen in der Illusion wiegen, der eigene Blick gehe nun ins Unendliche. Das Erlebnis in einem Sternentheater ist verbunden mit dem »seltsamen Gefühl«, das die Schriftstellerin Nathalie Sarraute in ihrem Gesellschafts- »Planetarium« der späten 1950er-Jahre beschrieben hat, als ob man sich »vom Boden höbe« und »seine Schwere verlöre«. Wie einst die hochgereckten Köpfe der Eltern, so gehen mir noch heute sämtliche Zuschauer im Raum – allesamt wohl »rauschhaft mit dem Kosmos kommunizierend « (Walter Benjamin) – verlustig im bewegten Gewimmel auf der Milchstraße in meiner Miniatursternwarte im Kopf. Schließlich werden aus diesem einmaligen Ausflug durch astronomische Rekonstruktion Tausende von nächtlichen Ausflügen in eine ganz verlorene Zeit, in der unsere Vorfahren zum Himmel blicken mochten. Die damalige Konstellation der Gestirne sehen wir nun in aller Selbstvergessenheit, wie einst die furchtsamen Urahnen. Das wirkt weit interessanter und bewegender als jeder noch so dramaturgisch sorgfältig fabrizierte Kinofilm, in welchem mit Tierfellen verkleidete Schauspieler in einer als prähistorisch nachempfundenen Gegenwartskulisse in die Frühphasen der Menschheitsentwicklung bis zur Erfindung des Steinkeils oder Feuers zurückversetzt werden.

      Eigentlich funktioniert die dunkelblaue Stunde im Planetarium ganz ähnlich wie die Lektüre eines Buches, bei der auch alles Gegenwärtige der einen umgebenden Welt, genauso wie die Schriftsprache oder das Druckbild des Textes im Lesevorgang verschwinden, um das unmittelbar Gelesene allein im eigenen, inneren Projektionsraum sich bildlich entfalten zu lassen. Das kann zu ganz speziellen Träumereien und Verstiegenheiten führen. Es ist wohl alles in allem ein winziger, geradezu unbedeutender Schritt für die Menschheit, aber ein gewaltiger Sprung für den einzelnen Lesenden, dessen nach innen versenkter Blick vom Buch abhebt, die Realität weit unter sich zurücklassend, um in ein ganz neues, schwereloses Universum einzutauchen. Eine ungeheure Weite eröffnet sich einem da, in der Oberfläche und Tiefe derart ineinander verschwimmen, dass nicht mehr klar erkennbar ist, wo die Erde aufhört und wo der Himmel beginnt. Allein in diesem Schiefergrau glühen ab und zu doch noch ein paar erhellende, satellitenhafte Splitter zur Orientierung auf. Solch eine sphärische Stimmung hat aber auch etwas von der winterlichen Jahreszeit, welche uns in einer unendlichen Folge farblos monotoner und fruchtloser Tage die Sonne verschweigt und den Horizont verriegelt, während uns das Vereiste anblinkt. Hier lässt sich aber auch an »das Graue alter Winter« denken, wie es beim Dichter Rilke heißt. Der weiße Schnee scheint in die Jahre gekommen zu sein, wirkt schlierig und unansehnlich. An vielen Stellen hat ihn der Regen allmählich zu Matsch vergraut. Von den einst mächtig glänzenden Eisschollen ist der Belag längst wie Rinde abgeblättert. Der eisige Rest liegt als ein frostiges Gestoppel im Zwielicht, nichts als bizarre Schatten werfend.

      Das ist ein Schiefergrund für Träume, von denen man beim Erwachen nicht mehr recht weiß, in welcher Farbe sie einem eigentlich erzählt wurden. Alles wirkte derart zwischen Schwarz und Weiß, dass die Unterschiede von Tag und Nacht, von Ferne und Nähe im Nachhinein nicht mehr feststellbar sind. Und dennoch eignet sich gerade dieses diffuse und schwache Licht ideal zur seelischen Entrückung wie Selbstversenkung.

      Seit der Antike haben die Träume entsprechend mythologische Deutungen erfahren, indem allerhand geflügeltes Traumvolk den Geist des Menschen mit Dämmer überzieht. Alle gelten sie, laut dem griechischen Dichter Hesiod, als »Kinder der Nacht«: der sanfte Schlafgott Hypnos, sein tödlicher Zwillingsbruder Thanatos, der redliche Traumgott Morpheus und seine dämonischen Albtraum- Geschwister. Dazu gesellen sich zahlreiche bellende und geifernde Monster oder verführerisch hell singende Mischwesen. Sie bevölkern die Höhlen, die Erdspalten und Eingänge in die Unterwelt, aus denen sich finstere Schwaden ergießen, sowie die abgelegenen Eilande mit ihren schrundigen Klippen. Denn diese Gestalten sind schließlich Kinder allen dunklen Anfangs, entstammen dem riesigen Schoß der Nacht. Sie ist als Erzeugerin je nach griechischem Volksglauben und Erzähltradition die größte aller Ur-Göttinnen – neben dem ungeheuer potenten Okeanos und der »breitbrüstigen« Erdgöttin Gaia, die wiederum mit dem Himmelsgott Uranos die Titanen gezeugt haben soll, von denen alle Göttinnen und Götter des himmlischen Olymps und der dämonischen Unterwelt abstammen.

      Dieser Ur-Nacht, der sogenannten Nyx, wird nachgesagt, sie sei ursprünglich ein riesiger Vogel gewesen, der im Dunkeln ein gewaltiges, silberglänzendes Ei gelegt habe. Daraus sei allerhand Merkwürdiges geschlüpft: der Liebesgott Eros, des Weiteren der alles ans Licht, in die Welt bringende Phanes, dann das gähnende Chaos, das den Hohlraum des Himmels erschuf, dazu Meergottheiten wie Okeanos und Tethys, schließlich all die Gestirne und endlich die Schicksalsgöttinnen, die gräulichen Moiren, die den Lebensfaden für die Menschen spinnen oder je nachdem durchschneiden, was für die toten Seelen jeweils einen mühseligen Weg in die Unterwelt bedeutet.

      Dort unten bei den Mächten der Finsternis, wo bereits am Eingang die nichtigen Träume hausen, hat die Nacht sämtlichen Dingen ihre Farbe geraubt. Allein der alte Mond lässt noch sein weißes Licht über alles rieseln. Von diesem schattenhaften Dasein berichten zumindest sogenannte Totenbücher, orphische Mysterien, Hadesund Jenseits-Wanderer in der Literatur, bis hin zu Aufzeichnungen von Visionären, allerhand Bardo- und Karma- Meditationen aus Religion und Esoterik oder gar Nahtod- Erfahrungen. Und dieser Anblick der sich verdichtenden und verflüchtigenden Trugbilder, mit all ihren Totenmasken von knöcherner Kahlheit, gehört wohl zum »ältesten Grauen«, das die Menschheit kennt, wie der Philosoph Ernst Bloch schreibt.

      Vor Schrecken über all diese Schatten in finsterster Nacht könnte selbst ein an Schenkeln und Fuß geradezu an den Stuhl gefesseltes Kind – weil es ja im Sternentheater wie in der berühmten Höhle Platons nicht den Kopf von den Lichterscheinungen abwenden soll – aus seinen schweren Träumen mit einem Mal auffahren und durch die Sitzreihen im Planetarium auf den Projektor vor ihm zustürzen, nicht um ein ultimatives Stopp durch den Lärm der Rotationsmotoren zu rufen, wie der verschlafene Comicheld Little Nemo, sondern vielmehr um gerade von diesem Ungetüm eines eisernen Kraken, diesem Projektionsapparat emporgehoben zu werden. Emporgehoben bis zur künstlichen Himmelskuppel, wo sich hinter dem bleichen Mond unvermittelt eine kleine, unscheinbare Luke anheben ließe, um etwas vom eigentlichen Himmel draußen zu erhaschen. Nur könnte das Kind schon beim Gedanken an all das weinen, ohne zu wissen weshalb, weil dort mit aller Wahrscheinlichkeit das genau gleiche, zuverlässig düsterste Lethe-Wetter