Von keltischer Götterdämmerung. Die Kelten-Saga. Band 1-3: Anation - Wodans Lebenshauch / Völva - Wodans Seherinnen / Brictom - Wodans Götterlied. Die komplette Saga in einem Bundle. Astrid Rauner

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Versuch nicht, mich zu täuschen!“

      Auf einmal reagierte die junge Frau, ohne nachzudenken. Schneller, als Aehrel ausweichen konnte, fasste ihre Hand die seine. Wie ein Lichtstrom begannen Erinnerungen aus ihr herauszuströmen. Es waren Bilder, von denen sie nicht gewusst hatte, dass sie sie kannte, die lange verborgen gewesen waren, irgendwo tief in ihrem Kopf.

      Anation sah sich selbst vor Schmerzen gekrümmt auf einem Strohlager liegen. Sie war alt, älter als Aehrel heute. Kalter Schweiß rann ihre Stirn hinab, während sie mit letzter Kraft die Wehen aus sich herausschrie, die ihr erstes Kind zur Welt bringen sollten. Ihr erstes Kind, mit über vierzig Jahren.

      Nur ein kurzer Moment, das Aufbäumen, die letzte Wehe. Dann ein kleiner, schleimbeschmierter Kopf, ein Körper, der von einer Amme aus ihrem Unterleib gezogen wurde. Die Gefühle drohten, Anation zu übermannen. Sie hatte die Hand ausgestreckt, den winzigen Leib berührt. Es hatte wie ein Griff ins Feuer gebrannt, nur ohne Schmerz. Für einen schreckerfüllten Moment gab es nur die Angst, das schweigende Kind mit den geschlossenen Augen würde sterben, ein kleiner Junge, er wollte nicht atmen, wollte nicht schreien.

      Doch dann fühlte sie sie, die Flamme seines Lebens, die in dem Moment der Berührung neu aufflackerte. Ein Schrei durchdrang den Raum, ihren Kopf, ihrer beider Geist, eine Erinnerung, die nun ihnen beiden gehörte.

      Aehrel taumelte, als er sich losriss. Seine Augen waren geweitet vor Schreck, Erkennen, Betäubung, es war nicht zu sagen, während er rückwärts stolperte, bis er die stützende Wand zu fassen bekam. Er spürte den Nachklang von Anations Gedanken nicht mehr: Der Moment, in dem sie diesen winzigen Körper leben gespürt hatte, hatte sie einen Herzschlag lang mit schmerzhafter Freude erfüllt. Die Erleichterung, dass er am Leben war, gesund, obwohl sie längst nicht mehr fruchtbar gewesen sein sollte, war so unbeschreiblich, dass es wie ein Frevel schien, als ein Gedanke sie trübte. Es war die Frage, die Entscheidung, vor der sich Haelinon neun Monate lang gefürchtet hatte. Warum kam dieses Kind so spät, so spät in ihrem Leben?

      Zu spät.

      Aehrel wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Lippen formten unausgesprochene Worte, die seine Zunge nicht fassen konnte. Der Blick seiner Augen schien Anation direkt in die alte Seele zu sehen, als wollte er sich noch einmal dem versichern, was er längst wusste. Haelinon. Anation konnte nicht beschreiben, was sie fühlte, fühlen musste. Dieser Mann, der älter war als ihr Körper, war ihr eigener Sohn, den sie vor fast vierzig Jahren einer Familie anvertraut hatte, die sie kurz davor kaum gekannt hatte. Aehrel brachte kein Wort heraus. Der Moment hatte ihn in seiner Gewalt, überrumpelt und überrannt, obwohl er sie schon so lange gesucht hatte.

      Die Zeit schien stehen geblieben, bis endlich ein Laut seinem Mund entkam und er mit dieser Frage zu dem jungen Erwachsenen wurde, dem man die Wahrheit seiner Herkunft offenbart hatte.

      „Warum hast du es getan?“

      Warum wolltest du mich nicht, warum hast du die Schwangerschaft verheimlicht und mich fortgegeben, obwohl du alt genug wurdest, um mich aufwachsen zu sehen? Warum konntest du mir nicht die Liebe geben, wegen der dich die Menschen gerühmt haben? Du seist eine verantwortungs- und liebevolle Person gewesen, haben alle erzählt. Warum nicht mir gegenüber? War meine Existenz allein der Fehler, den es wettzumachen galt?

      Jedes einzelne Wort brannte Anation – Haelinon – im Mund. Sie spürte plötzlich die Schuld, die sie Zeit ihres früheren Lebens mit den Ausflüchten verdrängt hatte, ihr einziges Kind kurz nach der Geburt an eine fürsorgliche, liebende junge Mutter gegeben zu haben, die schon einen Sohn geboren hatte und sich in Zukunft noch eine Tochter wünschte. Immer hatte sie gewusst, dass sie nicht ewig davor weglaufen konnte. Nun war der Zeitpunkt gekommen, in dem sie sich zu bewähren hatte.

      „Ich habe mir immer gewünscht, eines Tages Mutter zu sein. Mein ganzes Leben lang. Die Götter allein wissen, warum es nie dazu gekommen ist, obwohl ich darauf gewartet hatte. Doch als es schließlich geschah, bereitete ich mich bereits auf den Weg in die Andere Welt vor.“

      Aehrel lauschte mit aufgerissenen Augen. Die Emotionen funkelten in seinem Blick wie das Wetterleuchten. Haelinon fürchtete sich vor ihm, seiner Reaktion, dem Urteil über sie, dem sie sich immer zu entziehen versucht hatte und das nun doch gefällt werden würde.

      „Ich war alt, Aehrel. Älter als du heute. Als ich damals spürte, dass ich ein Kind empfangen würde, war ich verzweifelt, allein weil es unklar war, ob ich dich lebend zur Welt würde bringen können. Ich hatte mich geistig auf den Gedanken eingestellt, bald die Lebenden zu verlassen, doch ich wollte kein Kind mit mir nehmen. Es war zu spät, viel zu spät für mich. Um meine Gesundheit stand es nicht gut. Kein Jahr nach deiner Geburt blieben meine Blutungen aus und kamen nie wieder. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass ich alt genug werden würde, um Nachricht von deiner Kriegerweihe zu erhalten?“

      Aehrel sagte nichts. Seine Lippen waren verschlossen, alle Gedanken, Fragen und Anschuldigungen verschwunden, die in diesem Moment aus ihm hätten herausbrechen sollen. Haelinon sah das Glitzern in seinen Augen. Er war das Kind, das man verraten hatte, das glücklich in dem Glauben gewesen war, seine Familie zu haben, bis man ihm die Wahrheit gesagt hatte – als er weder Kind noch Erwachsener gewesen war.

      Haelinon zitterte am ganzen Leib, als sie den Arm ausstreckte, die Hand geöffnet, um seine zu fassen, Aehrel das zu bieten, nach dem er seit zwanzig Jahren suchte. Flimmernde Hoffnung keimte in seinen Augen auf. Er löste sich von der Wand, kam näher, drei Schritte. Doch in dem Moment, da Haelinon glaubte, er würde ihre Hand ergreifen, stieß er sie mit beiden Händen von sich, sodass sie ins Stolpern geriet, blickte einen Atemzug lang auf sie hinab, bevor er hinter dem Durchgang zur Grotte verschwand und flüchtete.

      Der Augenblick hatte die Zeit angehalten. Haelinon stand wie erstarrt, auf einen Felsvorsprung gestützt, um nicht zu Boden zu sinken. Die Kraft, den Schritt zu tun, vor dem sie sich fast ein halbes Leben lang gefürchtet hatte, sackte in sich zusammen. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie glaubte bereits, ohnmächtig zu werden, als sie am Rand ihres Sichtfeldes eine Bewegung wahrnahm.

      Die Wendung der Ereignisse hatte Rowilan nicht weniger erschreckt als alle anderen Beteiligten. Fassungslos hatte er Haelinons Worten lauschen müssen, bis er sich wieder entsonnen hatte, dass es eine Seele zu retten gab: Aigonn, der entrückt neben ihm halb an der Wand lehnte, halb auf dem Boden lag. Der Schamane hatte seine eisigen Hände gefasst, versucht, das Band seiner Seele zu fassen, bis er diese gefunden hatte. Doch es war zwecklos gewesen. Als er sich endlich Haelinons Aufmerksamkeit bewusst war, gewann er seine Sprache wieder, um zu sagen: „Ich kann ihn nicht erreichen! Die Tore zur Anderen Welt sind für mich verschlossen, ich kann sie nicht durchdringen. Wenn noch mehr Zeit vergeht, wird er verloren sein!“

      Für einen kurzen Augenblick hingen unzählige unausgesprochene Fragen zwischen den beiden Gefährten. Doch die Dringlichkeit des Moments vertagte sie.

      Zitternd löste die junge Frau sich von der Wand. Die Geschehnisse hatten sie übermannt, wollten sie niederreißen, doch auf einmal blitzte in dem Bildersturm der Vergangenheit eine viel jüngere Erinnerung auf. Sie schien einer fremden Person zu gehören, jemandem, den Haelinon nicht kannte. Je länger sie das Geräusch jedoch nachhallen ließ, den Aufschrei von Aigonns Seele, die man zwang, sich der Grenze zwischen den Welten zu nähern, desto mehr verschwand die Tochter des Moorsängers und ließ die junge Frau zu der werden, die Aigonn aus ihr gemacht hatte. Anation.

      Ewig

      Sie waren das, was kein Mensch erfassen konnte. Die beiden Gestalten leuchteten heller als die Sonne. Ihr warmes Licht brach sich auf Aigonns Augen, ohne ihn mehr zu blenden. Es war noch weniger als ein Instinkt, es war etwas namenlos Unbeschreibliches, das ihn hatte auf die Knie sinken lassen, während er fassungslos vor sich blickte, auf etwas, das nur eine Silhouette war und dennoch mehr als alle Menschen, alle Tiere.

      Die Götter.

      Der Herr Des Waldes stand auf der linken Seite. Das gewaltige und gleichzeitig filigrane Geweih auf seinem Kopf ragte ehrfurchterregend gen Himmel, bildete ein makelloses Ganzes mit seiner glatten Haut und den Hirschhufen, die Aigonn ausmachen konnte. Die Gestalt daneben wirkte schlanker, noch weniger menschlich, mit einem Gesicht,