Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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lückenlosen Registerschriften und das hervorragende Gedächtnis des Cellerars. Dennoch musste der Novize die Mühe auf sich nehmen und danach sehen.

      Das Regal war beinahe raumhoch, so dass sich nur eine Handbreit über Faoláns Haupt das raue Gestein der Gewölbedecke befand, die sich zu beiden Seiten in einem sanften Bogen absenkte. Der Platz hier oben war gerade ausreichend, um sich auf dem Bauch kriechend voranzubewegen. Je weiter der Novize auf diese Art vorwärts kam, umso mehr Staub schob er vor sich her. Er wollte gar nicht daran denken, wie sein Habit am Ende aussehen würde.

      In seiner linken Hand hielt er die Standardausrüstung für solche Erkundungsgänge fest umklammert: Einen angespitzten Stock von etwa einer Elle Länge. Damit konnte er sich zumindest der Ratten erwehren, die man auch in diesen Höhen antreffen konnte. Nicht, dass Faolán vorgehabt hätte sie zu töten, falls er auf eine treffen sollte. Selbst diesen Tieren konnte er nichts zuleide tun. Er verabscheute Gewalt. Stets versuchte der Novize Handgreiflichkeiten aus dem Weg zu gehen, weshalb er für Drogo auch ein beliebtes Opfer war, das sich weder wehrte noch an seinem Peiniger rächte.

      Den Stab nutzte der Novize vielmehr zur Abschreckung, indem er ihn immer wieder auf den hölzernen Regalboden schlug, um allem Getier in der Nähe sein Kommen anzukündigen und es in die Flucht zu schlagen. Hier oben gestaltete sich dies allerdings schwieriger als sonst. Aufgrund der beengten Verhältnisse und der hohen Brandgefahr hatte der Kellermeister seinem Gehilfen untersagt, eine Kerze oder eine Lampe mit zu nehmen. Das schwache Licht, welches Ivos Kerzen am Fuße des Regals nach oben warfen, bewirkte nur, dass das Dunkel mit düster tanzenden Schatten belebt wurde.

      Der Novize schob sich Stück um Stück weiter vor und schlug in unregelmäßigen Abständen seinen Stab auf den Regalboden. Es war ein mühseliges Vorankommen mit einem merkwürdigen Rhythmus aus stoßweisem Atmen und vibrierenden Stockschlägen. Das Ende des Regals war ebenso wenig auszumachen wie die Konturen der gesuchten Stoffballen.

      Handbreite um Handbreite ging es langsam weiter, bis Faoláns Stab plötzlich auf einen Widerstand stieß. Das Hindernis fühlte sich weich an und Faolán wähnte sich bereits an seinem Ziel. Er schob sich noch etwas weiter und tatsächlich ertastete er einen Ballen groben Leinstoffs. Doch zu seiner Enttäuschung war es nur einer. Faolán wagte sich noch etwas weiter, in der Hoffnung eine zweite aufgerollte Stoffbahn direkt dahinter finden zu können. Wiederum wurde er für seine Mühe belohnt und er fand auch den zweiten Ballen, ganz wie es der Kellermeister erhofft hatte.

      Doch damit war Faoláns Aufgabe noch nicht erfüllt, denn Bruder Ivo wollte auch um die Beschaffenheit und Qualität des Stoffes wissen. Schließlich fraßen Ratten nahezu alles, sogar Leinen. Beide Ballen mussten also nach unten gebracht werden. Hinabwerfen durfte Faolán sie nicht, das hatte ihm der Kellermeister ausdrücklich verboten. Mehrfach waren auf diese Art schon Dinge zerbrochen oder beschädigt worden. So begann der Novize die beiden Stoffballen zu sich zu ziehen, und trat mit ihnen den mühseligen Rückweg an.

      Plötzlich hielt Faolán inne. Etwas war merkwürdig. Starr und mit angehaltenem Atem lauschte er in die Dunkelheit hinein. Er wusste nicht genau, was ihn warnte, aber er spürte deutlich, dass hier etwas war. Langsam und vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Seite und da sah er sie im kaum vorhandenen Licht stehen: Eine weiße Ratte!

      Das Tier war von hinten an Faolán herangehuscht und hockte jetzt direkt neben seiner linken Schulter. Beide, Faolán wie auch die Ratte, verharrten in absoluter Stille und starrten sich an. Trotz des schwachen Lichts funkelten die Augen des Nagers rot, als befände sich darin das Feuer der Hölle.

      Fasziniert und verängstigt zugleich war es Faolán unmöglich, sich auch nur einen Fingerbreit zu bewegen. Von der bösartigen Glut in den Augen getrieben, löste sich das Tier aus seiner Starre und kam Faoláns Gesicht näher. Diese glühenden Augen hatten den Novizen vollständig in ihren Bann gezogen. Den zum Schutz gedachten Stab hatte er vergessen.

      Dicht vor Faoláns Gesicht begann die Ratte neugierig zu schnuppern. Die Nähe des Tieres löste im Novizen eine Beklemmung aus, die er bisher noch nie erlebt hatte. Regungslos blieb er liegen. Vergeblich kämpfte er gegen eine immer stärker werdende Furcht an. Während er in die feurigen, verzehrenden Augen des Tieres blickte, schien die Zeit still zu stehen. Jeder Herzschlag dröhnte in Faoláns Ohren wie ein Glockenschlag.

      Mit einem Mal stieß das Tier einen markdurchdringenden Schrei aus und sprang in Faoláns Gesicht, wo es wild zu beißen und zu kratzen begann. Der Novize konnte noch nicht einmal seinen Kopf zur Seite drehen. Faolán stieß ebenfalls einen entsetzten Schrei aus. Doch so plötzlich die Ratte ihn attackiert hatte, so abrupt ließ sie auch wieder von ihm ab und verschwand mit ein paar Sprüngen hinter den beiden Leinenballen. Dann herrschte wieder Stille.

      Faoláns Atem ging schnell und stoßweise. Die besorgte Stimme des Cellerars nahm er nur gedämpft wahr: „Faolán, ist alles in Ordnung dort oben?“

      Der Novize war unfähig zu antworten und blieb erschüttert liegen. Er versuchte zu begreifen, was ihm eben widerfahren war. Sein spitzer Stab war völlig nutzlos gewesen, und so öffnete er seine Hand und ließ ihn zu Boden fallen.

      „Faolán, Junge, hörst du mich? So antworte doch! Was ist dort oben los?“

      Der Schreck steckte so tief in Faoláns Gliedern, dass er den Schmerz erst jetzt bemerkte. Seine linke Wange pulsierte und fühlte sich feucht an. Vorsichtig tastete er die Stelle ab. Der Geruch an seinen Fingern bestätigte seine Vermutung: Es war Blut!

      Ein gewaltiger Schlag gegen die hölzerne Regalkonstruktion und die donnernde Stimme des Kellermeisters rissen den Novizen aus seinen Gedanken. „Entweder höre ich jetzt von dir, was dort oben los ist, oder ich komme hinauf, um es mit eigenen Augen zu sehen!“

      Die Vorstellung, der beleibte Kellermeister würde sich hier oben auf dem Regal entlangschlängeln, barg eine gewisse Komik in sich. Trotz der schmerzenden Wunde musste Faolán schmunzeln, was allerdings eine neue Welle des Schmerzes hervorrief. Faolán biss die Zähne zusammen und wartete, bis sie abebbte. Schließlich antwortete er dem Cellerar.

      „Es ist alles in Ordnung.“

      „Was hatte dieser schrille Schrei eben zu bedeuten?“

      „Nichts Besonderes – nur eine Ratte.“

      „Pass bloß auf, mit diesen Biestern ist nicht zu spaßen. Komm jetzt wieder runter, wir sind ohnehin fertig für heute!“

      Faolán folgte der Anweisung. Es dauerte aber lange, bevor er das äußerste Regalende erreichte und wieder hinabsteigen konnte. Das war wegen seiner Last nicht ganz einfach, doch es gelang ihm schließlich. Mit beiden Stoffballen unten angekommen, blickte er in das bestürzte Gesicht des Cellerars.

      „Allmächtiger Herr, was ist geschehen?“

      Der beleibte Benediktiner kniete vor dem Jungen nieder, drehte dessen Gesicht in das Kerzenlicht und begutachtete die Wunde. Faoláns linke Gesichtshälfte war zum größten Teil blutverschmiert, ebenso sein Habit um die Schulter. Faolán spürte, wie immer wieder warmes Blut über seine Wange lief.

      Ivo hatte genug gesehen. Rasch sprang er auf und lief davon, um kurze Zeit später mit einem feuchten Tuch zurückzukehren. Behutsam betupfte er die Wange seines Gehilfen. Faolán widerstand der Versuchung, vor der Hand des Mönches zurückzuweichen. Er verstand dessen besorgten Gesichtsausdruck nicht, denn den Schmerz konnte Faolán gut ertragen und das bisschen Blut störte ihn nicht sonderlich. Schließlich handelte es sich doch nur um den Biss einer kleinen Ratte.

      Bruder Ivo aber betrachtete die Wange lange und kritisch. Dann schüttelte er den Kopf und sagte streng: „Du gehst jetzt unverzüglich zum Hospital und lässt Bruder Wunhold einen Blick darauf werfen.“ Wieder tupfte der Cellerar das frisch ausgetretene Blut ab.

      „Es wird schon nicht so schlimm sein“, protestierte Faolán. „Der Biss wird in einigen Tagen verheilt sein, ganz bestimmt.“

      Der Cellerar war anderer Ansicht. „Mag sein. Doch ich wünsche jetzt keinen Disput über meine Anordnung. Mir ist es wohler, wenn sich Bruder Wunhold das anschaut. Er wird dir eine Kräuterauflage bereiten, um die Heilung zu beschleunigen. Er ist äußerst geschickt auf seinem