Die Eiswolf-Saga. Teil 1-3: Brudermord / Irrwege / Wolfsbrüder. Drei historische Romane in einem Bundle. Holger Weinbach

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überließ der betagte Ansgar seinem Gehilfen immer mehr Aufgaben, bis sich der junge Mönch als unentbehrlich erwies. Als der Alte schließlich erkannte, dass Ivo mehr im Amte des Cellerars stand und mehr leistete als er selbst, zog er sich schließlich von selbst zurück. Ansgar behielt zwar offiziell noch immer den Amtstitel, soviel gestand Degenar dem alten Mann aus Respekt zu, doch die Obliegenheiten wurden bis zum Tode des Meisters einzig von Ivo gelenkt.

      Natürlich gab es Brüder, die offen behaupteten, Degenar habe dem alten Mönch die Lebensfreude entrissen und ihn auf diese Weise in den Tod getrieben. Mit derartigen Vorwürfen hatte der Abt gerechnet, waren ihm doch inzwischen seine Gegenspieler und deren Taktik bekannt. Anfangs war es sehr belastend, dieser offenen Feindschaft ausgesetzt zu sein. Er selbst hatte nur die ehrenwertesten Ziele im Sinn, doch nicht alle der Brüder schienen diese Ansicht zu teilen.

      Urheber dieser Missstimmung war der alte Bruder Lothar, der, wie Degenar auch, seit seiner Kindheit in der Abtei lebte und ebenfalls für das Amt des Abtes zur Wahl angetreten war. Natürlich schmerzte es Lothar noch mehr als seine jüngeren Mitbrüder, den alten Cellerar solcherart deplatziert zu sehen. Zudem waren die Reformen so einschneidend, dass Lothar einige Mitbrüder gegen Degenar aufwiegeln konnte. Der neue Weg des Abtes forderte nämlich Verzicht von allen Mönchen, der auch das leibliche Wohl betraf. Diese Umstände veranlassten Lothar, erneut gegen Degenar anzugehen. Siegessicher verlangte er unverhohlen die Abwahl des Abtes, woraufhin heftige Debatten im Kapitelsaal geführt wurden.

      Abermals verfehlte Bruder Lothar sein Ziel. Am Ende waren die Reformgedanken überzeugender gewesen, so dass Degenar in seinem Amt bestätigt wurde. Nach der zweiten Niederlage verspürte Lothar weder Lust noch Kraft, diesen offenen Kampf fortzuführen. Das hinderte jedoch keineswegs andere Brüder daran, ihm nachzueifern.

      Um einen dieser Nachfolger war Degenar besonders besorgt, denn er zeigte sich äußerst schlau und tückisch. Es war ein junger Mönch, der ganz bewusst die offenen Auseinandersetzungen scheute. Er agierte lieber im Verborgenen und es war kein geringerer als Bruder Walram, Lothars engster Vertrauter. Er hatte viel von seinem Mentor gelernt und darüber hinaus war er mit seinem Scharfsinn den meisten Mitbrüdern weit überlegen. Mit Leichtigkeit gelang es ihm, eine Gruppe Gleichgesinnter um sich zu scharen. Degenars Hoffnung, nach Lothars Rückzug würde die Zwiespältigkeit der Bruderschaft beendet sein, erwies sich schnell als Trugschluss.

      Bruder Walram war sich bewusst, dass Degenar in vielen Bereichen angesehenen war. Deshalb versuchte er nur in ganz kleinen Schritten, die Autorität seines Abtes zu untergraben und wartete geduldig auf seine Gelegenheit. Walram war überzeugt, dass sie eines Tages kommen würde. Der junge und auf seine Art charismatische Mönch hatte mit Hilfe seiner Befürworter binnen weniger Jahre die Position des Priors der Abtei erworben. Er selbst wertete dies als großen Erfolg, denn als Stellvertreter des Abtes genoss er einige Privilegien. Gerade deshalb hielt Degenar stets ein wachsames Auge auf ihn.

      Nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten überstanden waren und die Gegenstimmen immer leiser wurden, gelang es der Gemeinschaft unter Degenars Führung innerhalb einer Dekade die wirtschaftlichen Probleme zu überwinden. Seit einigen Jahren erzielte das Kloster sogar einen kleinen Gewinn.

      Mit einem Kopfschütteln schob Degenar die Vergangenheit beiseite. Er wollte sich jetzt ganz auf die bevorstehende Andacht des Nachmittags konzentrieren, die Non, ohne sich von schlechten Gedanken beeinflussen zu lassen, schon gar nicht von Gedanken um Walram. Deshalb kniete er noch einmal vor dem kleinen Altar nieder, um sich erneut einen klaren Kopf zu verschaffen.

      Kaum hatte er das Gebet begonnen, schlug plötzlich die Tür zu seinen Gemächern mit einem lauten Krachen auf. Vor Schreck fuhr Degenar zusammen. Diese Respektlosigkeit, derart ungezügelt in seine Räumlichkeiten einzudringen, war eine unduldsame Dreistigkeit. Noch bevor er sich dem Störenfried zuwandte, setzte der Abt eine finstere Miene auf, um seinen Unmut deutlich zu zeigen. Die strengen, maßregelnden Worte, die Degenar bereits auf der Zunge lagen, blieben jedoch beim Anblick des Eindringlings unausgesprochen. Mit hastigen Schritten betrat Degenars Freund, Cellerar Ivo, den Raum. Er war der Einzige, dem der Abt ein solches Verhalten schnell verzeihen konnte, auch wenn ihm der Schreck noch in den Gliedern saß.

      Der Kellermeister schien aufgebracht, murmelte unter schnellen, kurzen Atemzügen vor sich hin und trug einen besorgten Gesichtsausdruck. Es musste einen wichtigen Grund für dieses ungewöhnliche Auftreten geben, denn unter normalen Umständen hätte es selbst Ivo niemals gewagt, derart respektlos einzutreten. Gespannt wartete Degenar auf eine Erklärung, doch die hastig dahingenuschelten, von ständigem Schnaufen unterbrochenen Worte des Cellerars waren beim besten Willen nicht zu verstehen.

      Geduldig versuchte Degenar den beleibten Mönch erst einmal zu beruhigen. Er goss Wasser in einen Becher und bot Ivo mit einer einladenden Geste einen Sitzplatz in der Exedra an. Geistesabwesend nahm Bruder Ivo den Becher entgegen, murmelte weiter von Dingen, die Degenar nicht verstand und setzte sich. Erst als Ivo das Gefäß mit einer vor Aufregung zitternden Hand an den Mund führte, erstarb der unverständliche Wortschwall und mit jedem Schluck beruhigte sich der Cellerar zusehends. Schließlich holte er tief Luft und begann mit deutlicher Stimme langsam zu sprechen.

      „Ich habe wirklich keine Ahnung, wer er ist oder woher er kommt.“

      Bruder Ivo klang hilflos.

      Degenar nahm auf einer zweiten Bank gegenüber Platz und schaute seinem Freund in die Augen. Antworten fand er dort jedoch nicht, also stellte er die notwendigen Fragen. „Von wem sprichst du?“

      „Na, von dem Jungen natürlich!“ Ivo blickte Degenar ungläubig an, als könne er nicht verstehen, wie man eine solch überflüssige Frage stellen konnte.

      „Von welchem Jungen?“

      Erst jetzt besann sich der Kellermeister. „Tut mir Leid, ich sollte besser von vorne beginnen …“

      „Ja, die Geschichte von Beginn an zu hören, würde es meinem Verstand erheblich erleichtern, deinen Ausführungen Folge zu leisten.“ Degenar konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

      „Ja, richtig“, fuhr Ivo fort. „Gut. Also, wo soll ich anfangen? Ach ja, von vorne!“ Der umherwandernde Blick des Cellerars hielt schließlich inne und Ivo begann einen ausführlichen Bericht.

      „Ich befand mich gerade auf dem Rückweg von den Feldern, um die Vorbereitungen für das abendliche Mahl zu überwachen. Du weißt, dass ich zurzeit meinen Küchengehilfen verschärft auf die Finger schauen muss …“ Ivo schweifte in Gedanken kurz ab, besann sich aber sogleich wieder auf seinen Bericht. „Ich war allein unterwegs, denn ausnahmsweise hatte sich heute keiner der Brüder beim Prior über Rückenschmerzen beklagt, wie es sonst oft während der Feldarbeit der Fall ist. Guter Dinge befand ich mich im Wald, auf halbem Wege zurück. Plötzlich vernahm ich es: ein Schnauben und Prusten. Zunächst dachte ich an Wegelagerer und beschleunigte meine Schritte. Doch ich wurde nicht verfolgt.“

      Der Kellermeister legte eine Pause ein, als durchlebe er die Situation erneut. „Ich hielt inne und vernahm kurz darauf erneut dieses Schnauben. Diesmal konnte ich es eindeutig einem Tier zuordnen. Es befand sich irgendwo im Gehölz hinter mir. Ich wurde neugierig, fasste Mut und bahnte mir einen Weg durch das Unterholz, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nach wenigen Schritten traf ich auf einen schmalen Pfad. Und da stand es, nur ein Dutzend Ellen vor mir: ein Pferd!“

      „Ein Pferd?“ Degenar konnte seine Überraschung nicht verbergen. Ein jedes Tier hätte er im Unterholz erwartet, verletztes Wild, ein hilfloses Jungtier oder gar ein entlaufenes Schwein. Ein Pferd allerdings war ungewöhnlich.

      „Ja, ein Pferd“, erwiderte Ivo. „Doch es war kein sehniger, geschundener Gaul eines fahrenden Händlers. Nein, es war ein Tier von eindeutig edlerem Geblüt. Eines, wie es sich nur wenige leisten können. Weil es weder gesattelt noch gezäumt war, fand ich keinen Hinweis auf seine Herkunft. Sein Zustand verriet mir allerdings, dass es wohl schon mehrere Tage unterwegs war.

      Kurz bevor ich es erreichte, stieß ich mit dem Fuß gegen etwas, das im dichten, hohen Farn verborgen lag und meinen Augen entgangen war. Es war ein großes Bündel, eingeschlagen in feines Leinen. Als ich das Tuch zurückschlug, warf der Inhalt weitere Fragen auf, statt die bisherigen