Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke

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Название Sonst brichst du dir das Herz
Автор произведения Susanne Mischke
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401805702



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Wangen, schnäuzte sich und zog den Umschlag aus ihrer Handtasche. Er war nicht beschriftet und er sah anders aus als die Briefumschläge, die Rosa normalerweise für ihre Korrespondenz benutzte. Er fühlte sich an, als wären Geldscheine darin. Ein ganzes Bündel musste das sein.

      Plötzlich hatte Valeria wieder die Szene von gestern Abend vor Augen. Hatte nicht einer der beiden Männer, die die Leiche fortgeschafft hatten, ihrer Mutter etwas in die Hand gedrückt?

      Valeria überkam die bizarre Vorstellung, gerade verkauft worden zu sein. Sie schwor sich hoch und heilig, ihrer Mutter während der Dauer ihrer Verbannung nach Rom nicht zu schreiben, keine einzige Zeile! Und anrufen würde sie sie auch nicht und nicht ans Telefon gehen, sollte Rosa bei Alessandro anrufen. Es sei denn, Rosa wollte ihr sagen, dass sie wieder nach Hause kommen dürfe.

      Zweieinhalb Stunden später fuhr der Zug am Bahnhof Roma Termini ein. Valeria, der die Fahrt erstaunlich kurz vorgekommen war, stieg aus. Der Bahnsteig und die Bahnhofshalle wimmelten vor Menschen, dass es einem schwindelig werden konnte. Die Kakofonie ihrer Stimmen, vermischt mit den Lautsprecheransagen, erfüllte die Luft. Valeria presste ihre kleine Handtasche fest an sich, denn bekanntermaßen war Rom voll von Taschendieben. Während sich der Bahnsteig leerte, hielt sie auf Zehenspitzen Ausschau nach Alessandro. In ihrer Erinnerung war er ein hochgewachsener Athlet mit blauen Augen und langen braunen Locken, die in einen kleinen Zopf mündeten. Wo war er nur? Hatte er sie vergessen, hatte er es sich anders überlegt, hatte Rosa sie am Ende angelogen, nur um sie loszuwerden?

      Valeria war kurz davor, in Panik zu geraten, als ein fremder Mann auf sie zustürmte, sie umarmte, ihr zwei Wangenküsse aufdrückte und rief: »Nicht zu glauben, die Maulbeerprinzessin ist eine richtige Dame geworden!«

      Maulbeerprinzessin. Das Wort war wie ein Code und es beschwor ein lange vergessenes Bild herauf: Sie, in ihrem Lieblingssommerkleid und mit einer Krone aus Blumen und Lorbeerzweigen hoch oben im Maulbeerbaum sitzend, und unten, auf dem Hof, ihre Lakaien. Rosa hatte meist nach kurzer Zeit den Dienst quittiert, aber Alessandro hatte eine Engelsgeduld bewiesen und sich ganze Nachmittage lang herumscheuchen lassen. Sehr wohl, Eure Majestät, noch einen Schokoladenkeks, stets zu Diensten, Eure Majestät …

      Die Erinnerung an diese Szenen hinterließ ein warmes Gefühl, irgendwo in ihrem Inneren. Sie lächelte und gelangte zu der Erkenntnis, dass acht Jahre einem Menschen ganz schön zusetzen konnten. Alessandros Zopf war ab, die Locken waren stellenweise ergraut und hatten sich arg gelichtet. Über dem Gürtel der Jeans wölbte sich ein kleiner Bauch und außerdem schien Alessandro geschrumpft zu sein. Nur seine blauen Augen waren noch dieselben. Schade, dass ich die nicht geerbt habe, dachte Valeria, deren Pupillen braungrün waren, genau wie die von Rosa.

      Alessandro schien sich aufrichtig über ihre Ankunft zu freuen, sein Lächeln war herzlich und offen. »Willkommen in der Ewigen Stadt!«, rief er. »Wir müssen uns beeilen, mein Wagen steht im Parkverbot.«

      Als sie im Auto saßen, wollte er wissen, ob die Fahrt angenehm gewesen sei, ob sie Rom denn schon kenne, wie es Rosa gehe. Valeria gab einsilbige Antworten: ja – nein – gut. Sie war ziemlich abgelenkt durch Alessandros Fahrweise und die der zigtausend anderen Auto- und Mopedfahrer um sie herum, die allesamt durch die Stadt jagten, als gebe es kein Morgen. Sollten sie jemals heil ankommen, würde Valeria sich bestimmt nie wieder zu Alessandro ins Auto setzen. Erwartete er eigentlich, dass er sie »Vater« oder »Papa« nannte? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihn immer bei seinem Namen genannt. Fürs Erste vermied sie die direkte Anrede. Ohnehin redete die meiste Zeit er: von seinen Kindern, der sechsjährigen Chiara und dem dreijährigen Moreno, von Adriana, seiner Frau, und von seinem Job, irgendwas beim staatlichen Fernsehsender RAI. Valeria verstand nicht alles, verzichtete aber darauf nachzufragen. Sie wollte nicht dumm erscheinen und außerdem wünschte sie inständig, er würde die Hände am Steuer lassen, anstatt sie zum Reden zu benutzen. Lieber Gott, lass diese Höllenfahrt endlich vorbei sein.

      Nun seien sie gleich da, verkündete Alessandro nach einer halben Stunde halsbrecherischer Raserei, die sie wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatten. Sie fuhren durch einen Vorort mit Wohnblocks, Supermärkten, Parkplätzen und Lagerhallen. Valeria studierte die Leuchtschriften.

      »Ich habe eine Bitte …«, begann Alessandro verlegen. »Chiara … Sie weiß nicht, dass du … also, sie hat bis gestern noch nichts von deiner Existenz gewusst. Ich glaube nicht, dass sie versteht …«

      »Schon gut«, sagte Valeria. Damit wäre die Frage der Anrede also auch schon geklärt, dachte sie ein wenig eingeschnappt.

      Sei nett, ermahnte sie sich an Rosas Stelle. Es ist nicht seine Schuld.

      Sie hielten vor einem quadratischen Haus mit flachem Dach. Es stand in einer Reihe mit anderen, nahezu identischen Häusern entlang der Straße. Die Gebäude waren durch Garagen miteinander verbunden, sodass es aussah wie eine Kette aus großen und kleinen Würfeln. Auf der anderen Straßenseite bot sich ein ähnliches Bild.

      Das also war Rom.

      Alessandro stieg aus, nahm ihre Tasche, durchquerte mit drei Schritten den Vorgarten. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, rief er mit übertriebener Fröhlichkeit: »Amore, wir sind da!«

      Amore war im Obergeschoss gewesen und kam nun die Stufen herab wie ein Filmstar eine Showtreppe.

      »Das ist Adriana, meine Frau.«

      Adriana. Stark geschminktes Spitzmausgesicht, perfekte Fingernägel, knallrotes Kleid. Eine Kaskade blondierten Haars floss ihr über die Schultern, an den Ohren baumelten Gehänge aus Metall, die an Fischköder erinnerten.

      Alessandro drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Seine Haltung hatte plötzlich etwas Unterwürfiges.

      »Du bist also Valeria«, sagte Adriana und die Winkel ihres pinkfarbenen Mundes zogen sich an unsichtbaren Schnüren nach oben, während der Rest des Gesichts von diesem Lächeln unberührt blieb. Ihre Augen, zwei harte schwarze Kiesel, taxierten Valeria wie ein streunendes Tier, das ihr Mann irgendwo aufgelesen und ins Haus geschleppt hatte.

      Drei Wochen war Valeria nun schon in Rom. Die Ferienzeit ging zu Ende und die Stadt wurde mit jedem Tag voller. Noch voller!, dachte Valeria. Hätte jemand sie gefragt, wie sie Rom fand, so hätte sie spontan geantwortet: laut. Auch heiß und staubig, aber vor allen Dingen laut.

      Es war Nachmittag und Valeria betrachtete gedankenverloren die Horde papageienbunt gekleideter Kleinkinder, die auf dem Spielplatz des Parks herumtobten. Immer wieder fanden sie einen Anlass zum Brüllen: aus Begeisterung, aus Protest oder aus keinem ersichtlichen Grund. Auf den Bänken ringsherum saßen ihre Mütter und Großmütter und riefen den Kleinen Anweisungen, Ermahnungen und leere Drohungen zu. Gleichzeitig schnatterten sie entweder miteinander oder in ihre Mobiltelefone. Hunde kläfften, Jogger hechelten vorbei. Den Hintergrund der Geräuschkulisse bildete das permanente Rauschen des Straßenverkehrs, durchbrochen von Autohupen und dem Knattern der Roller und Mopeds, deren Abgaswolken bis in den Park geweht wurden. Sogar die Vögel lärmten hier mehr als zu Hause; Spatzen zankten sich krakeelend um die Krümel unter den Bänken, Krähen räumten Papierkörbe aus und verteidigten krächzend ihre Beute, Möwen bettelten klagend um Futter.

      Adriana hatte vorgeschlagen, in den Park zu gehen, der nicht weit von ihrer Straße entfernt lag. Wegen »der Ruhe und der frischen Luft«.

      Sehnsüchtig dachte Valeria an zu Hause. Zugegeben, auch dort war es selten völlig still. Vom Tal drangen Hundegebell und Glockengeläut herauf, die Hühner glucksten und knarzten vor sich hin oder verkündeten euphorisch gackernd, dass sie gerade ein Ei gelegt hatten, und die Zikaden konnten unter manchen Bäumen einen solchen Krach machen, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Und wenn Rosa erst die Motorsense anwarf, war es endgültig vorbei mit dem Frieden. Aber dennoch war das kein Vergleich zu dem permanenten Lärmteppich, der den ganzen Tag über dieser Stadt lag.

      Im Haus zu bleiben, hätte jedoch auch nichts gebracht. Die Wände des Würfels waren lächerlich dünn, nirgendwo entging man dem Gekeife Adrianas, dem Quengeln