70 Tage Pandemie. Hendrike Piper

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Название 70 Tage Pandemie
Автор произведения Hendrike Piper
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347097148



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scheint wie immer, die Menschen um mich herum lachen, streiten und grummeln wie eh und je. Keine Spur von Vollschutzanzügen und Darth Vader-Masken. Vor einer guten Woche haben viele noch Karneval und Fastnacht gefeiert. Als ich mir mein Smartphone zur Hand nehme, ist doch etwas anders: Die WhatsUpp-Gruppen sind voll von Rocona-Witzen: Hustende Haustiere, Häuser mit Mundschutz und lustige kleine blaue Eier mit Antennen – halt?! Hier sehe ich das Virus zum ersten Mal. Im Comic scheint es eigentlich ganz schnuckelig. Besonders gehaltvoll sind die Witze jedenfalls nicht.

      Um mich jetzt am ersten Tag in dieser neuen Welt doch irgendwie zu orientieren, suche ich Hilfe in Film, Funk und Fernsehen. In den Nachrichten erfahre ich, dass wir uns keine Sorgen machen zu brauchen, da die Situation in Deutschland mit nur geringen Fallzahlen völlig im Griff sei.

       Tag 2

      Immer noch nichts Wesentliches passiert. Aus Langeweile informiere ich mich auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts, mit was für einen Virus wir es da eigentlich zu tun haben. Dort erfahre ich, dass dieser neue Keim im Gegensatz zu seinem Bruder, dem Rocona-Virus Typ 1, welcher vor einigen Jahren mal sehr lokal in China für Angst und Schrecken gesorgt hat, zwar wesentlich ansteckender, dafür aber auch deutlich weniger tödlich sei. Die Symptome reichen von „gar nichts gemerkt“ über Schnupfen und Husten bis hin zur Lungenentzündung, sterben tun vor allem Ältere und Vorerkrankte. Die Inkubationszeit (also die Dauer der Zeit, bis ein von einem Hustenden Angehusteter auch hustet…) beträgt im Mittel 6 Tage, die Krankheitsdauer ist variabel, bewegt sich bei mildem Verlauf aber auch im Bereich von mehr oder weniger einer Woche. Ich betrachte die Daten und fühle mich an eine Grippe erinnert, muss aber im nächsten Satz erfahren, dass der Vergleich mit der Grippe dieser neuen Gefahr in keinster Weise gerecht werde, weil … – ja, wieso eigentlich? Ich verstehe die Argumentation nicht bzw. kann gar keine Argumente finden.

      Am Nachmittag erhalte ich Post von einer befreundeten Familie aus Heinsbruck in NRW. Dort wurde wohl ein bisschen wild Karneval gefeiert und Rocona war auch dabei, sodass man dort jetzt auf Grund der Zahl der Fälle von einem „Infektionscluster“ spricht. Mit Erstaunen und Befremden lese ich, dass dort die Schulen seit einer Woche geschlossen und die Menschen aufgefordert sind daheim zu bleiben. Krass!

       Tag 3

      Ebenfalls auf der Seite des Robert-Koch-Instituts (von den vielen selbst ernannten Virus-Kennern um mich herum, die sich täglich zu vermehren scheinen, nur noch lässig RKI genannt) finden sich die Zahlen der Neuinfizierten nach Bundesländern aufgeteilt sowie die weltweiten Risikogebiete, in denen man besser nicht gewesen sein sollte (wenn doch: Pech gehabt!). Hier poppt heute auch die Lombardei auf, das ist gar nicht so weit weg. Quasi über Nacht scheint dort das Gesundheitssystem von einer Welle der Erkrankten hinweggefegt worden zu sein – quasi über Nacht ist das auch Thema bei uns. In der Straßenbahn belausche ich erhitzte Diskussionen der oben schon angesprochenen Menschengruppe, welche Maßnahmen unsere Regierung denn nun zum Schutz unseres Landes ergreifen sollte. Von Grenzschließungen und Hausarrest höre ich, schaue in die für die frühe Jahreszeit so unverhofft gleißend scheinende Sonne und frage mich, ob ich etwas verpasst habe.

      Heute werde ich auch das erste Mal auf eine mir bislang eher unbekannte Berufsgruppe, die Virologen, aufmerksam. Diese armen Menschen beschäftigen sich anscheinend tagaus tagein nur mit Viren. Das stelle ich mir gähnend langweilig vor, kein Wunder, dass manche von ihnen nun die Gunst der Stunde ergreifen und bei Maybrit Illner und co ihr sogenanntes Expertenwissen zum Besten geben.

       Tag 4

      WHAT??? Ab nächste Woche Dienstag haben die Schulen dicht! Einfach so, mal so für drei Wochen, bis zu den nächsten Ferien. Eine sogenannte „Notbetreuung“ soll es nur für einen sehr eingeschränkten Personenkreis geben. In diesem Zusammenhang fällt die nächste neue Vokabel: „systemrelevant“. Das sind alle die, die den Laden hier jetzt noch am Laufen halten sollen, also Krankenschwestern, Ärzte, Apotheker, Verkäuferinnen, Müllabfuhr. Deren Kinder werden weiter betreut, aber nur, wenn beide Elternteile in genannten Bereichen arbeiten, außer…. Das ist mir zu kompliziert, ich steige aus. Den kollektiven häuslichen Nervenzusammenbruch vieler Familien angesichts dieser Neuigkeiten kann ich nur erahnen.

      Und was ist eigentlich mit Rocona? Das ist nun doch ganz furchtbar schlimm, wir sehen Bilder von Intensivstationen und Leichenwägen aus Italien – aber bitte keine Panik, ruhig bleiben und die Nerven bewahren. Und die Sonne scheint weiter.

       Tag 5

      Heute beim Einkaufen finde ich leergeräumte Regale vor. Eine gähnende Lücke klafft mir entgegen, wo vorher das Klopapier war. Erschrocken schaue ich auf dem Smartphone kurz nochmal nach: nein, Durchfall ist kein typisches Rocona-Symptom. Kopfschüttelnd gehe ich weiter und entdecke Leerstände auch bei Mehl, Hefe, Nudeln, Nudelsoßen. Ein kleiner wohliger Gruselschauer streicht mir über den Rücken, jetzt geht’s so richtig los mit dem Katastrophenszenario, deshalb bin ich schließlich hier. Nur – was essen? Ich entscheide mich für zwei Flaschen Rotwein und Pizza, die gibt’s noch – aus Solidarität für Italien!

       Tag 6

      Sonntag! Wandern mit Freunden. Klar, was Thema Nr.1 ist an diesem wunderschönen Frühlingstag und herrlichster Natur – ebenso klar, welch` blöde Kommentare jeder Heuschnupfen-Nieser nach sich zieht. Neben dem Austausch 1000er-Klopapier-Witze (wer produziert eigentlich in so kurzer Zeit so viel Blödsinn?) erfahren wir, woran es beim Nachschub der begehrten Ware hapert: Die LKWs stehen in Italien an der Grenze und dürfen nicht rein. Das ist natürlich bitter!

      Nach dem Wandern gehen wir noch in ein Café. Die Mahnungen der uns Regierenden, Kontakte zu meiden und möglichst zu Hause zu bleiben, scheinen Wirkung zu zeigen, es herrscht gähnende Leere. Während wir unseren Kuchen genießen, beobachten wir den Verkaufsbetrieb im angrenzendem Thekenraum: vereinzelt tröpfeln die Kunden hinein, nähern sich schüchtern der Bäckereiverkäuferin und schleichen sich verstohlen mit Unmengen von Tortenstücken wieder hinaus ins rettende keimfreie Auto. Mmh… aber diese Tortenmengen werden sie doch kaum nur im Kreise ihrer Kernfamilie verzehren, oder? Und wenn doch, wie ungesund ist dieser Zucker-Sahne-Konsum eigentlich? Böse Gedanken um die Schlagworte „Heuchelei“ und „Doppelmoral“ kommen mir in den Sinn.

       Tag 7

      Letzter Schultag für die Kleinen. Schon vor ihrem Aufbruch heute Morgen lese ich die Eilmeldung des Rektors: Auf Nachfragen besorgter Eltern, die um die Gesundheit ihrer Sprösslinge fürchteten (was haben die eigentlich für ein Problem? Ich dachte, Kinder erkrankten an diesem Virus allenfalls leicht?!), versichert er, dass die Schule heute selbstverständlich freiwillig sei, wer aus Angst vor Rocona lieber zu Hause bleiben wolle, könne dies tun. Ich staune. Mittags dann ihre Heimkunft mit einem Haufen Bücher, Hefte und Aufgabenblätter. Das alles fühlt sich schon irgendwie wie der Beginn etwas Neuem an – oder der Abschied von etwas Altem, was wir vielleicht mehr gemocht haben, als uns im Alltag so klar war? Die nächsten Wochen werden es wohl zeigen.

      Wieder kein Klopapier in den Läden – dafür Meldungen eines Ausbruchs im Elsass. Das ist nun tatsächlich sehr nah, sollte ich mir jetzt wirklich Sorgen machen?

       Tag 8

      Viele viele aufgeregte Anrufe in meiner Hausarztpraxis. „ICH will einen Abstrich, jetzt sofort, weil ich huste, und wer weiß, ob die Bekannte meiner Nachbarin, die immer mit mir zusammen bei ihr saß, da nicht was eingeschleppt hat. Die hat immer so geschnieft und jetzt trägt meine Nachbarin auf einmal einen Mundschutz – da stimmt doch was nicht!“ Habe ich das jetzt wirklich gehört? Auf meine vorsichtigen Versuche hin zu beruhigen und zu versachlichen wird mir mehr oder weniger unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. Innerlich (und äußerlich auch) seufzend gebe ich nach und biete dem Patienten unser Abstrich-Konzept: eine gesunde Kontaktperson kann das Set abholen, der Abstrich zu Hause vor dem Spiegel selbst durchgeführt werden und dann wieder kontaktlos in unseren Briefkasten geworfen werden. Schutzausrüstung, die wirklich schützt (laut unserer ärztlichen Hammelführer Schutzbrille, FFP2-Maske, Handschuhe und Einmalkittel – juchu, „Outbreak“ ist endlich da!), haben wir nämlich nicht und werden wir wohl auch