Название | Im Westen ist Amerika |
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Автор произведения | Dirk Möller |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347056084 |
Man hatte ihn in den Stadtgraben geworfen.
Der war gefährlich, besonders nachts. Tollwütige Hunde streunten herum, suchten nach Abfällen. Nach irgendetwas Fressbarem. Er musste weg. Sofort.
Schritt für Schritt schleppte er sich vorwärts. Ein Schafskopf lag im Weg, er rutschte aus, schlug hin. Der Matsch stank nach Fäkalien. Er streifte den Kot an seiner Hose ab und stand wieder auf.
Nach Süden stieg die Senke an. Sie endete an einer Allee aus Kastanien und Pappeln. Ein smaragdgrünes Augenpaar huschte über die mit Schotter ausgelegte Promenade, die zwischen den Bäumen verlief. Ein Hund heulte den Mond an. Ein anderer stimmte ein. Ihr Klagen erfüllte die Nacht.
Johanna starrte die Decke an. Sie konnte nicht schlafen. Nicht, weil Conrad schnarchte, dass sich die Balken bogen. Daran hatte sie sich längst gewöhnt. Sie machte sich Sorgen, denn Johannes war nicht da. Endlich raffte sie sich auf und schlug die Decke zurück. Sie kletterte über ihren Ehemann und tapste barfuß in die Diele.
Die Rotbraune schien auch der Meinung zu sein, dass etwas nicht stimmte. Das sonst so gemütliche Tier stampfte auf der Stelle und scheuerte sich an der Wand. Es wusste, dass der Bettkasten über dem Stall leer war.
Draußen blökte ein Schaf, und der Westwind fegte durch die Obstbäume. Johanna spürte den Luftzug an ihren nackten Beinen. Sie öffnete einen Flügel der Dielentür und erschrak: Eine kaninchengroße Ratte streifte ihre Wade.
Als die nur mit einem Nachthemd bekleidete Frau vor die Tür trat, umfing sie Finsternis. Alles schlief, einzig eine Fledermaus, die unter dem vorkragenden Dachgiebel gehangen hatte, flatterte herum. Johanna wartete, bis das Tier im Nachthimmel entschwunden war und machte sich auf den Weg. Die gemeinschaftlich genutzte Backstube, aus der es noch nach dem vor zwei Tagen gebackenen Roggenvollkornbrot duftete, ließ sie ebenso rechts liegen wie den Hühnerstall. Das Schweinegehege stank wie eh und je, deshalb grenzte es an die Alme.
Auf einer Holzbrücke gelangte sie auf die andere Seite des Flusses, wo sie dem Fuhrweg folgte, der vom Oberen Hof in Nordborchen über Wewer nach Paderborn führte. Von den Pferdegespannen und Ochsenkarren zerfurcht, die Feldfrüchte in die Hauptstadt brachten, noch dazu vom Regen aufgeweicht, war der Boden wie Schmierseife. Sie glitt einige Male aus. Bei der Kreuzung mit dem Hellweg hielt sie sich rechts, und endlich schälte sich der Kirchturm von Wewer aus dem Dunkel. Sie ging noch ein paar Schritte weiter, um bei der als Allmende genutzten Gemeindeweide stehenzubleiben. Das Dorf war jetzt ganz nah.
Sie zögerte. Sähe man sie barfuß und im Nachthemd auf der Straße, wären ihr Hohn und Spott gewiss. Aber die Sorge um Johannes war stärker. Sie schüttelte den Gedanken ab und ging weiter.
Wenige Schritte später blieb sie wieder stehen und spähte in die Dunkelheit. Aber da war nichts. Nur die Nacht, die wie ein nasser Lappen über dem Land lag. Sie sog die nach Regen und Kuhdung riechende Luft ein und schmeckte die Tränen, die über ihre Wangen rannen.
Warum nur ist es so dunkel, wer hat den Mond entführt?
Endlich zog das Wolkenband vorüber, das sich minutenlang vor den milchig-blassen Halbkreis geschoben hatte, und die Sicht wurde etwas besser. Sie kniff die Augen zusammen. Lag da etwas auf dem Weg? Ladung, die ein Wagen verloren hatte? Ein Fuchs, der unter die Räder gekommen war?
Oder aber … Ihre Beine produzierten Schritte. Erst ganz langsam und mechanisch. Dann schneller, immer schneller. Schließlich rannte sie wie vom Teufel gejagt. Der Matsch spritzte in alle Richtungen, sprenkelte ihr Hemd und das Gesicht, aber das spürte sie nicht.
Dann war sie da und hatte Gewissheit: Es war Johannes. Er lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen – sie schlug die Hände vors Gesicht, unterdrückte einen Schrei. Aber er atmete. Schnell und flach. Seine Stirn glühte.
Wewer war nah. Doch die Leute schliefen, und wer würde ihr helfen, ausgerechnet ihr, der ›Scheißbargfeldhure‹?
Nein, sie musste es allein schaffen.
»Conrad … ein Unglück … Johannes!« Johanna rüttelte ihren Mann an der Schulter.
Der grunzte mürrisch und drehte sich um.
Da platzte ihr der Kragen. »Los, aufstehen! Sofort!« Sie verpasste ihm eine saftige Ohrfeige.
Das wirkte. »Bist du verrückt geworden, Weib?«
»Johannes … er ist verletzt.«
Bis Conrad kapierte, dauerte es einen Moment, der Johanna wie eine Ewigkeit vorkam. Dann aber sah er die Erschöpfung und Verzweiflung in ihrem Gesicht, schleuderte das Oberbett weg und eilte in das Flett. Dort saß Johannes in eine Decke gehüllt am Feuer. Er zitterte, und sein Gesicht war wachsbleich. »Meine Güte, Junge!« Plötzlich war Conrad wie verwandelt. »Warmes Wasser. Tücher. Schnell, Johanna!«
Johanna eilte los.
Bald kehrte sie mit einem Krug Heißwasser und frischen Laken zurück, und sie säuberten und verbanden die Wunden. Sie packten Johannes in die wärmsten Decken, die im Haus waren, doch seine Zähne klapperten immer noch.
»Ein Backstein. Leg einen Backstein ins Feuer!«
Johanna tat wie ihr geheißen.
Der Stein wurde schnell warm. Sie stellten Johannes’ Füße darauf, und endlich hörte der Schüttelfrost auf. Johanna flößte dem Jungen eine Unze Laudanum ein, und er fiel in einen unruhigen Dämmerschlaf.
Kapitel 4
Conrad klopfte an die Tür der Schreibstube. Ein aggressives ›Was ist?‹ signalisierte, dass die Zeichen auf Sturm standen. Das war normal, denn Menne war immer schlecht gelaunt. Irgendwie verständlich, hatte er doch die wenig beneidenswerte Aufgabe, einen chronisch verschuldeten und defizitär wirtschaftenden Hof auf Vordermann zu bringen – was der Quadratur des Kreises gleichkam. Zudem war er von Natur aus ein Choleriker und hasste prinzipiell die ganze Welt.
Conrad Bargfeld wusste das. Auf das Unwetter vorbereitet, das über ihn hereinbrechen würde, stellte er schon einmal die Ohren auf Durchzug. »Bitte entschuldigt, dass ich Euch belästige, mein Herr«, begann er mit einem tiefen Diener. Das war übertrieben untertänig. ›Mein Herr‹ gebührte dem Freiherrn und nur ihm, aber Conrad dachte, dass es Menne gefiele und ihn milde stimmen könnte.
Weit gefehlt. »Wenn du keinen guten Grund hast, hier faul rumzustehen und mir auf die Nerven zu gehen, kannst du was erleben.«
Es war am besten, gleich mit der Sprache herauszurücken. »Johannes kann nicht arbeiten.«
»Wenn das ein Witz sein soll, mache ich dir Beine. Geh mir besser gleich aus den Augen!«
»Er ist krank.«
»Niemand ist krank während der Flachsernte.«
»Er sieht aus wie das Leiden Christi«, präzisierte Conrad. »Es steht schlecht um ihn, fürchte ich.«
Menne sah von seiner Kladde auf. Er legte die Schreibfeder zurück in den Halter, rückte seine Brille, ein randloses Drahtgestell, zurecht und starrte den Unruhestifter an, der es gewagt hatte, ihm mit einem solchen Mist unter die Augen zu treten. Sein Bulldoggengesicht lief puterrot an, weshalb man ihn hinter vorgehaltener Hand ›Klatschmohn‹ nannte. »Soso. Der Junior ist unpässlich? Interessant.« Eine Lawine Beschimpfungen und Flüche rollte über Conrad hinweg, versehen mit einem Hinweis auf die Pferdepeitsche, mit der er, Theodor Julius Menne, zu gerne allen Querulanten die Flötentöne beibringen würde.
Conrad ließ es über sich ergehen. Er wartete, bis Menne sein Pulver verschossen hatte. Bevor der Verwalter nachladen konnte, umriss er, was geschehen war.
Menne lächelte süffisant, was aber nur so viel hieß wie ›Geschieht dem Bengel ganz recht!‹ – der Mann lächelte nämlich sonst nicht. »Ich bin es gewohnt, von Taugenichtsen und Faulpelzen umgeben zu sein, aber ihr Scheißbargfelds seid die Schlimmsten.«
Eine Kakerlake krabbelte über den tönernen Boden – der Raum diente einst als Spinnstube.