Aveline Jones und die Geister von Stormhaven. Phil Hickes

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Название Aveline Jones und die Geister von Stormhaven
Автор произведения Phil Hickes
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401809007



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du?«

      Der Vorschlag klang ganz in Ordnung, damit würde Aveline sich zumindest ein wenig die Zeit vertreiben können. Außerdem, das war ihr klar, bemühte sich Tante Lilian, nett zu ihr zu sein.

      Als sie vor die Haustür traten, traf eine heftige Böe Aveline wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen und sie schaffte es nur mit Mühe, sich aufrecht zu halten. Tante Lilian hingegen schien immun dagegen, denn trotz ihrer hochgewachsenen Statur schritt sie unbeirrt die Straße entlang. Der Sturm peitschte mit ungestümer Kraft die Wellen auf, die neben ihnen an den Strand spülten und sich wieder ins Meer zurückzogen.

      »Da wären wir«, sagte Tante Lilian, als sie einige Minuten später vor einer ganz normalen Haustür stehen blieb. Als Aveline sie verwirrt anschaute, deutete ihre Tante auf eine Außentreppe, die zum Keller hinabführte, wo ein verblasstes Holzschild im Wind schwankte.

       Liebermans Secondhandbücher

      Das Geschäft sah anders aus als alle Buchläden, die Aveline je gesehen hatte. Die Fenster waren mit einer dicken Schicht aus Staub und Ruß überzogen. Die Tür war so klein, dass sie auch der Eingang zu einer Hobbithöhle sein könnte. Aus einer kaputten Dachrinne tropfte Wasser, das sich am Fuß der Stufen zu einer Pfütze sammelte. Aber Avelines Neugier war geweckt. Der Buchladen war wie eine geheime Schatzhöhle voller Bücher, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.

      »Hast du eine Uhr, Aveline?«

      Aveline schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich hab mein Handy«, sagte sie und hielt es hoch.

      Ein Anflug von Missbilligung huschte über Tante Lilians Gesicht. »Nun gut. Wir treffen uns um 11: 15 Uhr. Du musst nur die Straße hinuntergehen und am Ende nach rechts abbiegen, dann siehst du das Café schon, gleich gegenüber vom Hotel. Es heißt Beste Bohne. Sei bitte pünktlich. Ach, und versuch, dich von Mr Lieberman nicht in ein Gespräch verwickeln zu lassen, sonst kommst du den ganzen Tag nicht weg.«

      Mit diesen Worten marschierte Tante Lilian davon.

      Aveline stieg die Treppenstufen hinab und stieß die Tür auf. Eine Glocke klingelte. Das Bimmeln gefiel ihr, es war altmodisch und freundlich. Sollte sie je Premierministerin werden, würde sie einführen, dass alle Türen im ganzen Land eine kleine Glocke haben müssen.

      Drinnen sah man auf den ersten Blick, dass die Bücher in diesem Laden wohl nicht so bald zur Neige gehen würden. In der Mitte stand ein großer Tisch. Darauf türmten sich gefährlich hohe Bücherstapel, die aussahen, als würden sie jeden Moment umfallen. Ringsherum standen Regale, deren Bretter sich unter noch mehr Büchern bogen. Der Laden war klein und wunderbar düster, in der Luft tanzten die Staubpartikel wie goldene Feen und über allem lag der moderige Duft von altem Papier. Es war ein Ort, der Aveline sofort gefiel. Und die Chancen standen gut, dass es hier genau die Art von Büchern geben würde, die Aveline liebte.

      Sie zuckte zusammen, als hinter der Ladentheke wie aus dem Nichts ein weißhaariger, alter Mann auftauchte. »Sag nichts!«, krächzte er. Seine Stimme klang wie eine knarrende Eiche im Wind. »Pferde!«

      »Wie bitte?«, fragte Aveline.

      »Pferde«, wiederholte der Mann. »Du suchst ein Buch über Pferde. Ich bilde mir etwas darauf ein, Menschen auf den ersten Blick anzusehen, welche Bücher sie lesen – und bei dir nehme ich Schwingungen wahr, die mich sofort an Pferde denken lassen. Ich habe eine Ausgabe von Black Beauty, in tadellosem Zustand. Ich kann sie dir zu einem sehr guten Preis anbieten.«

      »Ähm, nein danke.« Aveline lächelte still in sich hinein. Er hätte mit seiner Einschätzung nicht falscher liegen können, aber sie brachte es nicht über sich, ihm das zu sagen, denn er war viel zu begeistert von seinem eigenen Ratespiel.

      »Also doch keine Pferde, was? Tja, nun, lass mich einen Augenblick nachdenken. Hm …« Der alte Mann kniff die Augen zusammen und musterte Aveline. Er war hager und groß und erinnerte sie an eine hochgewachsene Zimmerpflanze, die längst zu groß für ihren Topf geworden war. Nervös wickelte sie die Fransen ihres Schals um die Finger und wartete.

      »Ach, ich hab’s!«, rief der Mann. Staub wirbelte auf, als er mit der Faust auf die Theke schlug. »Du bist eine Entdeckerin! Ja, dein Sinn für Abenteuer hat dich hierhergeführt! Sag mir, hast du schon In 80 Tagen um die Welt gelesen? Ich habe eine gebundene Ausgabe mit wunderbaren Illustrationen, du bekommst sie fast umsonst!«

      »Ähm, vielleicht«, sagte Aveline. Sie wollte den alten Mann nicht vor den Kopf stoßen, aber was ihr Lesefutter anging, hatte sie sehr spezielle Vorstellungen. Sie atmete den Duft von tausend Büchern ein und ließ den Blick durch den Laden schweifen. »Haben Sie auch Bücher über Gespenster?«

      Wumm! Wieder ein Faustschlag auf die Theke.

      »Gespenster! Ach, natürlich, wusste ich’s doch! Genau das wollte ich gerade vorschlagen!«, rief er. »Selbstverständlich habe ich Bücher über Gespenster. Hunderte sogar. Hier gibt es Bücher über alles und jeden unter der Sonne – oder sollte ich vielleicht besser sagen unter dem Mond? Du suchst also Bücher über die Geisterstunde, hm, und alles, was nachts sein Unwesen treibt?«

      Aveline nickte erwartungsvoll. Stormhaven hatte sich von Anfang an irgendwie unheimlich angefühlt. Es konnte sicher nicht schaden, einige Nachforschungen zu den übernatürlichen Phänomenen dieses Orts anzustellen. Falls sie einem Geist begegnen sollte, wollte sie nicht unvorbereitet sein.

      »Ich heiße übrigens Ernst. Ernst Lieberman, Besitzer dieses bescheidenen Bücherimperiums. Und du?«

      »Aveline Jones.«

      »Was für ein wunderbarer Name«, erwiderte Mr Lieberman. »Weißt du, in meinem persönlichen Lebensbuch ist jeder, der Bücher mag, ein wunderbarer Mensch. Also, Aveline, sieh dich um und schau, ob du Bücher findest, die sich nach etwas Liebe sehnen. Bei mir sind alle Bücher willkommen, musst du wissen, ich weise nichts und niemanden ab. Selbst wenn mir jemand ein Buch über das langweiligste und ödeste Thema bringt, wie zum Beispiel eine Abhandlung über den Bau von Fließbändern, nehme ich es trotzdem mit offenen Armen auf. Bücher sind der größte Schatz auf dieser Welt, findest du nicht auch?« Er hielt inne und sah sie stirnrunzelnd an. »Du interessierst dich nicht zufällig für Fließbänder, oder?«

      Lachend schüttelte Aveline den Kopf. Tante Lilian hatte recht gehabt, Mr Lieberman redete wirklich ohne Punkt und Komma, aber sie hörte ihm gerne zu. Alt und verknittert und chaotisch, wie er war, ähnelte er auf gewisse Weise seinem Laden und den Büchern darin.

      »Ich bin mit meinem Vater in dieses Land gekommen, als ich noch ein kleiner Junge war«, fuhr Mr Lieberman fort. »Von ihm weiß ich, dass es in unserer Heimat Deutschland Menschen gab, die Bücher verbrannten. Das ist fast das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Er hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich meine Bücher hege und pflege, als wären sie meine Kinder. Und hier bin ich, Vater von Millionen kleiner Papierkinder. Vielleicht wirst du heute eines von ihnen adoptieren?«

      »Vielleicht«, sagte Aveline. »Ich hoffe es.«

      Der alte Mann stützte sein spitzes Kinn auf die Hand. »Nun, dann geh am besten dort entlang. Die Bücher über Geister hausen ganz hinten im Laden, wo es dunkel und ein bisschen schaurig ist. Da fühlen sie sich am wohlsten.«

      Mit diesen Worten drehte sich Mr Lieberman um und rief: »Harold! Wir haben hier eine sehr wichtige Kundin. Wärst du so freundlich, herzukommen und uns behilflich zu sein?« Wieder an Aveline gewandt, fügte er mit einem Lächeln hinzu: »Harold ist mein Großneffe – womit ich meine, dass er der Sohn meines Neffen ist, nicht ein ganz besonders großer Neffe, obwohl man auch dies von ihm behaupten kann.« Er vergewisserte sich, dass sie noch immer unter sich waren, bevor er mit gesenkter Stimme weitersprach: »Allerdings ist er manchmal ein wenig zurückhaltend. Ein bisschen schüchtern, verstehst du?«

      Aveline setzte ihren ernstesten Gesichtsausdruck auf und nickte. Tatsächlich verstand sie sehr gut, was es hieß, ein bisschen schüchtern zu sein – so fühlte