Die Leiden der jungen Lotte. Denise Rüller

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Название Die Leiden der jungen Lotte
Автор произведения Denise Rüller
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347106635



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fünfzehn Jahren unwiderruflich beschlossen hatte, dass er niemals eine Frau heiraten werde, die nicht Julia heißt, auch wenn er das tragische Ende dieser Liebe für sein Leben nicht eins zu eins übernehmen wollte. Die erste potenzielle Julia stand im Dezember 1966 vor der Tür seiner Nachbarin: Julia Schröder, meine Mutter. Bis Romeo sich seinen Traum einer eigenen Eisdiele erfüllen und auf die Seetouren verzichten konnte, vergingen noch einige Jahre, in denen er mich an den Wochenenden zum Baerler See mitnahm. Er hatte eine Vorrichtung für seinen Eiswagenanhänger gebaut, auf dem ich wie eine Königin thronte, während er sich auf dem Rad abstrampelte. Und wenn jemand fragte, wer das süße Kind an seiner Seite sei, zwinkerte er mir zu und sagte stolz, dass ich sein Sahnestück sei. An manchen Tagen war es so heiß, dass wir den Wagen von Baumschatten zu Baumschatten geschoben haben und als wir den See Stunden später fast umrundet hatten und nachmittags an der Stelle, die ganz flach in den See führte, angekommen waren, durfte ich alleine im Wasser plantschen, musste aber ununterbrochen singen, damit Romeo wusste, dass mit mir alles in Ordnung war, weil er mich nicht die ganze Zeit beobachten konnte, während er die Kunden bediente. Ich habe sämtliche Opernarien nachgesungen, die er inbrünstig auf den Fahrten zum See schmetterte. Obwohl wahrscheinlich niemand außer ihm erkannt hat, dass ich die bekanntesten italienischen Arien zum Besten gab, versammelte sich meistens eine kleine Fangemeinde um mich und wenn Romeo hörte, dass ich nicht mehr weiterwusste, stimmte er in die Arie mit ein und wir sangen im Duett. Da die meisten sich währenddessen oder danach ein Eis gönnten, leistete ich so meinen Beitrag zu seinen Einnahmen.

      Diesen paradiesischen Kindheitserlebnissen setzte Mutter ein jähes Ende und stieß mich mit fünf Jahren in eine eisfreie Hölle. Es gingen elf Knochenjahre ins Land, in denen ich zum Frühstück eine Scheibe Knäckebrot mit fettreduziertem Quark, garniert mit Tomaten- und Gurkenscheiben und eine Tasse Basentee zur Gewährleistung eines ausgewogenen Säure-Basen-Haushaltes bekam.

      Wenn meine Mitschüler in den Pausen erwartungsvoll die Brotdosen öffneten, verbreitete sich der verbotene Geruch von Bifiwürsten, Hackfleischbällchen, mit Butter und Leberwurst oder Nutella bestrichenen Weißbrotscheiben, Milchbrötchen mit Schmelzkäse und Schokokussbrötchen. Das Wertvollste waren allerdings die kleinen Liebesbeweise der Mütter in Form von Süßigkeiten oder Selbstgebackenem. Um das elterliche Gewissen zu beruhigen, enthielten einige Dosen noch Kirschtomaten oder geschälte Apfelstücke, die meist unbeachtet in der Dose liegen blieben. Meiner Brotdose entströmte nichts außer der miefende Wunsch der Mutter, ihre gerade einmal achtjährige Tochter auf Modelmaße zu trimmen, der sich in geruchsneutraler Rohkost manifestierte. Die anderen zeigten sich gegenseitig ihre Schatzkisten und begannen die Leckereien zu tauschen, was bei mir darauf hinauslief, dass ich für Möhre, Paprika und Tomate ähnlich wenig Begehrtes wie Gurke, Apfel und Kohlrabi bekam. Dieser Handel frustrierte mich derart, dass ich es vorzog, den traurigen Inhalt meiner Dose auf dem Weg zur Schule an die Pferde zu verfüttern und lieber mit leeren Händen dem Tauschhandel in den Pausen zuzusehen, als daran gedemütigt teilzunehmen.

      Allein meine Box aus dem Schulranzen zu nehmen, war eine Zumutung, denn statt einer grünen, blauen oder roten Dose mit dem Aufdruck der Comichelden unserer Kindheit prangten auf meiner Dose schwarze weibliche Beine in lasziver Haltung auf rosa Grund. Auf die verdutzten Blicke meiner Mitschüler antwortete ich mit einem unschuldig-unwissenden Schulterzucken und verwies auf einen Spleen meiner Mutter. Niemals durften sie erfahren, dass die Dose ursprünglich ein Epiliergerät enthielt, das Mutter als Dankeschön für ihr Abonnement der Vogue erhalten hatte.

      Die Marke, der ich meine übrige schulische Ausstattung zu verdanken hatte, TOPModel by Depesche, hatte scheinbar keine Pausenbrotdose im Repertoire - wofür auch: Topmodels essen in den Pausen nichts -, dafür enthielt meine mit glänzenden Sternen aus Streichpailletten bestickte lilafarbene Schultasche einen TOPModel Radierer in Lippenstiftform und TOPModel Bleistifte mit Plüschbommel, die ich vergeblich versuchte als Tauschobjekte gegen eine der Leckereien meiner Mitschüler einzusetzen.

      Aus Mitleid überließen sie mir ihre Brotreste, die mir eine Ahnung davon gaben, wie Mutterliebe schmecken könnte. In der dritten Klasse schaffte ich es, meine Großmutter dazu anzustiften, mir hinter dem Rücken Mutters ein monatliches Taschengeld von zehn Mark zu geben, die ich zu einhundert Prozent in Süßigkeiten investierte und so endlich an dem Süßwarenbasar teilnehmen konnte.

      * * *

      Das Beste an der Grundschule waren die Fußballspiele zwischen den Unterrichtsstunden. Noch bevor der Pausengong ausgeklungen war, stürmte ich mit dem Ball auf den schuleigenen Rasenplatz, um möglichst keine Sekunde der wertvollen zwanzig Minuten Spielzeit zu verschenken. Während die anderen eintrudelten und die Mannschaften wählten, versuchte ich meinen Rekord im Ballhochhalten zu brechen. Allerdings war ich mittlerweile so gut darin, dass die Zeit bis zum Anpfiff zu kurz war, um die 587 Fußberührungen zu erreichen. Herr Angenvort, unser Sportlehrer, hatte mein Talent erkannt und mir empfohlen, mich in einem Fußballverein anzumelden. Ich schaute ihn traurig an und beichtete ihm, dass meine Mutter das niemals erlauben würde, da sie aus mir ein Model machen wolle. Er schien die Antwort nicht einordnen zu können und ließ es zunächst dabei bewenden, bot mir aber an, unverbindlich zum Training der D-Jugend-Mannschaft des FC Grün-Weiß Millingen zu kommen, das er leite. Auf dem Weg nach Hause überlegte ich mir, welche Lüge ich Mutter dafür auftischen konnte, dass ich am nächsten Tag länger in der Schule bleiben müsse. Beim mittäglichen Putenbrustsalat gab sie selbst die Vorlage für einen überzeugenden Schwindel: »Weißt Du, wo der Elternbrief mit der Einladung zum Tag der offenen Tür an deiner Schule geblieben ist? Ist der Termin nicht bald? Wenn ich mich recht erinnere, schrieb Frau Barthelmi darin, dass Beiträge zum Büfett willkommen seien.«

      »Ach ja, gut das du fragst, der ist übermorgen. Ich hätte fast vergessen, dir zu sagen, dass ich deswegen morgen etwas länger in der Schule bleibe und beim Aufbau helfe und ein paar Schilder bastele.«

      »Ach herrje, übermorgen schon? Dann gehe ich am besten gleich noch schnell auf den Markt und kaufe frisches Gemüse und die Zutaten für ein paar Dipps. Welche magst du am liebsten?« Um den blamierenden Anblick von Gemüsedipps zwischen duftenden Kuchen zu verhindern, warf ich ein: »Nein, nein, du musst für das Büfett nichts zubereiten, es haben sich so viele Eltern gemeldet, die Kuchen backen, dass wir gar nicht wissen, wohin.

      »Wie, es gibt nur Kuchen, aber dann ist ein gesunder Beitrag doch umso wichtiger.«

      Das war also ein Eigentor. Jetzt half nur noch schmeicheln: »Da hast du recht, aber die Eltern kommen ja nicht, um etwas Gesundes zu essen, sondern um zwischendurch eine kleine Pause mit Kaffee und Kuchen zu machen. Und außerdem können ja nicht alle so schlank sein wie du.«

      Meine Bemerkung erreichte die gewünschte Wirkung und ich schnaufte innerlich durch, als sie mit den Worten: »Wenn du meinst«, von ihrem Vorhaben abließ.

      Ich hatte somit einen Freibrief für den morgigen Nachmittag und Herr Angenvort staunte nicht schlecht, als er mit einem Netz voller Bälle den Platz betrat und mich am Spielfeldrand stehen sah. Er winkte mich zu sich und sagte erfreut: »Da hast du ja nicht lange überlegen müssen, ob du mein Angebot annimmst. Na, dann komm, ich stelle dich kurz den anderen vor.« Er machte keine großen Worte, er freue sich, dass ich zum Probetraining gekommen sei, stellte mich als Lotte vor und wollte gerade das Startsignal zum Aufwärmen geben, als er einen unzufriedenen Blick auf meine Ausstattung warf: Leggins und leichte sporthallentaugliche Schuhe mit glatter Sohle, die Mutter mir unwillig für den Schulsport gekauft hatte, obwohl sie der Meinung war, dass Gymnastikschläppchen reichen müssten.

      »Mit den Schuhen kannst du nicht Fußball spielen, damit kommst du mit Glück mit blauen Flecken davon, wahrscheinlich wirst du aber mit ordentlichen Prellungen und gebrochenen Zehen vom Platz humpeln.« Tränen vor Enttäuschung und Wut auf Mutter traten mir in die Augen und ich konnte Herrn Angenvort auch nicht mit dem Versprechen überzeugen, dass ich besonders aufpasse. Frustriert schlenderte ich mit hängendem Kopf vom Platz. Da rief mir plötzlich jemand hinterher: »Kannst die von meinem Bruder haben, falls sie dir passen!« Meinte er mich? Ich drehte mich um und sah, wie ein Junge mit der Nummer fünf und dem Namen Chris auf dem Trikot Fußballschuhe aus seiner Tasche kramte und sie mir hinhielt. Freudestrahlend lief ich auf ihn zu und nahm sie überschwänglich dankend entgegen. Er sagte: »Ist schon gut, das sind eh bloß meine