von wegen früher war alles besser. Hermann Grabher

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Название von wegen früher war alles besser
Автор произведения Hermann Grabher
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783347024359



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bleibst Du da! Ich bin Dein Lehrer!» Aber der Kerl konnte mir in dieser Situation befehlen was er wollte, ich machte einen Bogen um ihn und verliess wortlos das Klassenzimmer. Meine Eltern erschraken, als ich blutüberströmt nachhause kam und den Vorfall schilderte. Der Vater läutete sofort in die Schule an, während die Mutter meinen Kopfschwarten-Riss verarztete. Im Gespräch mit meinem Vater gab sich Doktor Z so, als wäre er sich überhaupt keiner Schuld bewusst. Im Gegenteil, er beklagte sich über diese unsere Klasse, die er „Sauklasse“ nannte, wegen ihres ungezogenen Verhaltens und zeigte sich sogar grosszügig und kulant: Wenn sich der Grabher (er nannte mich im Gespräch mit meinem Vater nicht mit dem Vornamen) entschuldigen würde, dürfte er auch wieder zurück in die Klasse kommen – trotz seines unakzeptablen, ja unverzeihlichen Ungehorsams. Wenn das nicht ausgesprochen grossherzig war!

      Meine Entscheidung stand fest: Nie wieder wollte ich je an diese Schule zurückkehren – ohnehin nicht mehr zu diesem Lehrer. Mein Vater bearbeitete mich intensiv und liebevoll: «Es war ungerecht, was dieser Lehrer machte. Es war auch ungerecht, wie er sich nachher Dir gegenüber verhielt. Aber wir können es nicht mehr ändern. Bring dieses letzte Halbjahr, diese paar Monate noch hinter Dich. Nachher beginnt ein neuer Lebensabschnitt für Dich!» Ich liess mich von meinem Vater überreden und war am nächsten Tag wieder in der Schule. Ich entschied mich vor allem deshalb dafür und sprang über meinen eigenen Schatten, weil ich meiner Familie nicht Probleme bereiten wollte. Immerhin war Werner gleichzeitig mit mir auch ein Schüler dieser Sekundarschule zwei Jahrgänge unter mir. Und danach kamen noch zwei weitere meiner Geschwister nach. Ich wollte nicht, dass unsere Familie negativ auffiel, ich wollte meinen Brüdern und der Schwester keinen Bärendienst erweisen.

      Am nächsten Tag verhielt sich Z so, als wäre nie etwas Besonderes vorgefallen. Natürlich änderte er auch in diesem meinem letzten Schulhalbjahr seinen Stil um kein Jota. Und es tut mir heute noch leid, dass ich mich einmal in der Folge hinreissen liess, als falscher Fünfziger zu agieren. Und das kam so: Da stand nämlich wieder eine dieser unsäglichen Lektionen in Physik an. In der Pause sagte ich beiläufig zu einem Kollegen aus der Parallel-Klasse, der eben seine Physik-Stunde hinter sich gebracht hatte: «Ihr könnt glücklich sein Euren heutigen Krieg mit Z abgehakt zu haben!» Seine Antwort: «Es ist ja immer das gleiche. Der Kerl frägt etwas, das niemand wissen kann und dann quält er die Klasse bis zum Schluss und teilt Idioten, blödes Pack, dümmste Klasse, die er je unterrichtete aus. - Ich erkläre Dir jetzt, worum es geht, nämlich um die kinetische Energie. Es ist die Bewegungs-Energie, die man so nennt. Z wird zu Beginn nach Begriffen fragen, welche mit Bewegung zu tun haben. Er will dabei aber nur ein einziges Wort hören, nämlich Kino. Beim Kino bewegen sich die Bilder, weshalb dieser Begriff abgeleitet wurde!» OK, verstanden! Die Lektion begann wie immer, er fragte nach Begriffen, die von der Bewegungs-Energie abgeleitet würden. Der Lehrer sagte, dass er ein Wort suche, einen Begriff, den wir gut kennen würden. Ich streckte meine Hand auf und sagte: «Es ist die kinetische Energie. Und den Begriff, den Sie hören wollen, ist das Kino, da geht es ja um bewegte Bilder!» Z war perplex. Die Kreide fiel ihm unvermittelt aus der Hand. «Eine perfekte Antwort!» lobte er mich. Mir ging es aber zu allerletzt darum, irgendwelche Anerkennung oder Lob einzuheimsen (was ich ja nicht verdiente). Mir ging es lediglich darum ihm den Wind aus den Segeln nehmen. Ich wollte mich und meine Klasse in dieser Lektion vor seinen endlosen, quälenden Schimpftiraden verschonen. Wäre Z nicht so in seinen eigenen Kreisen gefangen gewesen und wäre er in der Lage gewesen nur auf fünf zählen zu können, hätte er mir auf meinen Kopf sagen müssen: «Hallo, mein Freund, welcher Kollege aus der Parallel-Klasse hat Dir das geflüstert?» Aber um so weit zu denken, war sein gebildetes Hirn viel zu verbaut. Beeindruckend interessant war dann, wie lammfromm er sich in der Folge in dieser Stunde gebärdete, einer Lektion, bei der er sein Pulver offensichtlich gleich zu Beginn verschossen hatte.

      Gegen Ende der 3. Klasse wurden wir gedrängt – als Zeichen des Dankes und der Solidarität – dem «Verein ehemaliger Sekundarschüler» beizutreten. Auch ich unterzeichnete, wenn auch widerwillig, denn ich spürte keinen Funken der Dankbarkeit in mir, auch nicht, dass ich irgendwelche Schuldigkeit oder Verpflichtung gegenüber der Schule hatte. Bei der Jahresversammlung des Vereins - kurze Wochen später - waren alle ehemaligen Lehrer anwesend. Die Lehrer schüttelten mir, wie auch allen anderen ehemaligen Schülern die Hand, als wären wir immer beste Freunde gewesen. Nur Doktor Z schnauzte mich von oben herab an, statt einer Begrüssung: «Du bist mir immer noch etwas schuldig. Du hast eine Landkarte, die Du leihweise hattest, nicht zurückgegeben. Als ehemaliger Klassenlehrer bin ich dafür verantwortlich, dass Du diese Karte noch zurückbringst. Und zwar unverzüglich»! Weil ich mir absolut sicher war, dass ich diese Landkarte am Ende des Schuljahres abgegeben hatte, wie alle anderen Leihprodukte auch, antwortete ich: «Herr Doktor. Erstens habe ich die Landkarte abgegeben. Wenn Sie ein schlecht funktionierendes Kontrollsystem haben, ist das nicht mein Problem. Zweitens befehlen Sie mir jetzt und heute nichts mehr, diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Und drittens: Dies ist meine erste und meine letzte Versammlung dieses Vereins. Ich brauche das nicht. Adieu!» Ich drehte mich auf dem Absatz um und verliess den Raum, noch bevor die Versammlung offiziell begonnen hatte.

      Ich war unendlich erleichtert und befreit, dass ich diesem Schulhaus, auf dem in grossen Lettern zu lesen war Das taten unsere Väter den Rücken kehren konnte. Ich mochte es kaum erwarten, in die Firma des Vaters einzutreten, denn dort im Büro wartete eine Menge Arbeit auf mich. Ich hatte den ganzen Tag alle Hände voll zu tun, die telefonischen Bestellungen in Empfang zu nehmen, die Aufträge – auch die schriftlichen – abzuwickeln, Papiere zu erstellen, die Waren zu verpacken und zu spedieren. Während der Sommermonate, in der Hauptsaison, waren 50 Bestellungen und mehr an der Tagesordnung. Ich war auch verantwortlich für den Wareneinkauf. Ich hatte die Lieferantenrechnungen zu bezahlen, Löhne abzurechnen und Lohnzahlungen auszuführen, die Belege für die Buchhaltung vorzubereiten. Der Vater überliess mir diese Arbeit von heute auf morgen, ich ersetzte das bisherige Bürofräulein (wie man damals die entsprechende Fachperson nannte). Endlich konnte Hanny, die treu gediente Dame des Sekretariats in Pension gehen. Diese Arbeit war in keiner Weise neu für mich, denn ich verwendete ja schon während der Schulzeit fast meine gesamte Freizeit – die Ferien sowieso - damit im Büro einzuspringen. Jetzt konnte ich auch mein (schmales) Französisch anwenden, denn viele unserer Kunden stammten aus der Westschweiz. Durch die Praxis wurde mein Französisch mit den Monaten und Jahren etwas besser, ja schon fast passabel – soweit es sich um simple Bestellungsaufgaben handelte. Aber in Wahrheit befand ich mich immer noch Meilen entfernt vom Niveau, das mich glücklich gemacht hätte. Und mein Zehnfinger-System auf der Schreibmaschine war – ohne jetzt vollmundig tönen zu wollen – ziemlich unschlagbar. Zwar beteiligte ich mich nie an einem offiziellen Wettbewerb. Aber als ich einmal las, wie viele Anschläge der Weltmeister machen würde, testete ich mich unverzüglich selbst und sieht da, ich war im Stande eher mehr Anschläge zu leisten als er. Nun, wie ich mich in einem ernsten Wettkampf geschlagen hätte, das bleibt dahingestellt.

      Meine Arbeit in Vaters Firma machte ich gerne und sie befriedigte mich ziemlich. Ich wurde lockerer und meine allgemeine Gefühlslage hob sich auf einen guten Level. Mein Ziel, das ich seit meiner Kindheit mit mir herumtrug, behielt ich hartnäckig weiter im Visier: Ich wollte professioneller Fussballer werden. Es war ein Traum, den ich nicht als vermessen beurteilte, denn ich verfügte über ziemlich viel Talent. Dass ich mit 15 Jahren schon in der ersten Mannschaft unseres Fussball-Clubs eingesetzt wurde, war für mich nur logisch. Ich fühlte mich gut genug und auch der Trainer war offensichtlich dieser Meinung. Wir hatten ein feines Team und einen guten Trainer. Wir stiegen innert zwei Jahren zwei Ligen höher. Auch das betrachtete ich – wie übrigens alle meine Kollegen auch – als völlig normal und die Fortschritte entsprachen unseren nicht eben bescheidenen Ansprüchen. Denn wir trainierten viermal in der Woche intensiv – aussergewöhnlich viel für eine Amateurmannschaft. Im Winter wurde ohne Unterbruch weiter trainiert, bei jedem Wetter und immer an der frischen Luft. Die guten Resultate waren der Lohn, den wir uns verdienten. Andererseits zeigte mein Vater weder Verständnis noch Freude an meinen sportlichen Ambitionen. Im Gegenteil, er verabscheute meine diesbezüglichen Aktivitäten, weil er in ihnen offensichtlich eine Art Konkurrenz sah: Wenn ich Sport machte, konnte er in dieser Zeit nicht über mich verfügen. Überdies war er ein Antisportler in seiner reinsten Form, ein Mensch ohne jeglichen Bezug zum Sport und deshalb in meinen Augen hochgradig inkompetent. Er vertrat die Ansicht, dass ich