Die Verzeitlichung der Potenzialität. Jan-Philipp Schramm

Читать онлайн.
Название Die Verzeitlichung der Potenzialität
Автор произведения Jan-Philipp Schramm
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783347075504



Скачать книгу

Art, unsere Freiheit zu betrachten, auch zu einer Frage der Individualität wird, denn der mehrheitliche Standard, wie wir ihn ausdrückten, ist darauf ausgelegt, die Freiheit einer Gesellschaft einordnen zu können.

      Der Einzelne wird sich fragen, was ihn oder die anderen in einer homogenen Gesellschaft mehr oder weniger frei macht als den Durchschnitt. Durch diese Frage landen wir fast wieder bei dem absoluten Begriffsverständnis der Freiheit. Wir können uns, um frei zu sein, nicht gänzlich von unserer Umwelt lösen, aber vielleicht reicht es ja schon, manche Umwelteinflüsse auszuschalten, um nur freier als alle anderen zu sein. Die Möglichkeit, sich von dem ein oder anderen Umwelteinfluss befreien zu können, steht zugleich für das von uns beschriebene Wechselwirkungsprinzip, denn auf diese Weise werden wir selbst von unserer Umwelt beeinflusst.

      Diese Art des Umwelteinflusses ist schon lange Teil eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens, aber er war nie mit der Frage verknüpft, ob wir durch unser Verhalten oder unsere Reaktion darauf das Maß unserer Freiheit verändern können. Die Werbestrategie einiger Industriegrößen besteht mitunter darin, künstliche Probleme zu erzeugen und zu dramatisieren, vor denen wir uns dann durch unser Kaufverhalten schützen können. Die Idee besteht nicht nur darin, uns von der Zweckmäßigkeit eines bestimmten Produkts zu überzeugen, sondern darüber hinaus nach Möglichkeit einen Trend auszulösen. Der Verzicht auf bestimmte Eigenschaften des beworbenen Produkts soll uns unglücklich machen. Diese Eigenschaften sind für uns das Motiv, durch das unser Handeln bestimmt ist. Unser Zweck besteht darin, uns durch diese Eigenschaften zu befreien. Wenn die Eigenschaft beispielsweise darin besteht, den Komfort zu steigern, dann können wir diese Eigenschaft für uns wählen und uns auf diese Weise aus einer Ausgangslage befreien, in der es diesen Komfort nicht gibt. Zur gleichen Zeit aber verschiebt sich der Komfortstandard insgesamt und verschlechtert sich für alle anderen in Relation zum Voranschreiten dieses Standards. Das bedeutet, dass wir in dieser Relation nach unserem Verständnis von Freiheit auch freier sind als alle anderen, denn während wir uns befreien und unseren Komfort erhöhen, müssen sich alle anderen noch mit einem schlechteren Komfort herumschlagen.

      Unser Verständnis von Freiheit ist auf diese Weise längst zu einer Art Lebensstil geworden. Dieser Lebensstil muss sich nicht notwendigerweise über Konsum definieren, aber wir müssen ehrlicherweise sagen, dass er unseren Lebensstil – vorsichtig ausgedrückt – überproportional repräsentiert. Unser Verständnis von Freiheit stellt den Menschen in den Mittelpunkt eines Bildes, von dessen Zentrum aus wir von unserer Umwelt umkreist werden. Dieses Verständnis von Freiheit benötigt für ihre Bedeutung immer einen Vergleich: Wie frei sind die Menschen in einer Demokratie, verglichen mit denen in einer Diktatur? Wie frei sind die Menschen, die ihren Lebensstil selbst gestalten können, verglichen mit denen, die sich diese Gestaltungsfragen nicht leisten können?

      Die Ausgangslage unserer Untersuchung über die Freiheit des Menschen ist mit der Vorstellung verknüpft, dass der Mensch von seiner Umwelt beeinflusst wird. Wir haben gefragt, inwieweit der Mensch in Anbetracht der ihn umgebenden Umwelt frei sein kann. Aus diesem Grund haben wir versucht, die Freiheit des Menschen in einem Spannungsfeld zwischen ihm und der Umwelt zu ergründen. Dabei haben wir unterstellt, dass der Mensch in seiner Umwelt ist, von dieser umgeben wird und dass er, weil er in seiner Umwelt ist, nicht frei von ihr sein kann. Da niemand behaupten kann, frei von seiner Umwelt zu sein, haben wir, um die Freiheit des Menschen in unserem eigenen Interesse erhalten zu können, den absoluten Freiheitsbegriff relativiert, indem wir den Umwelteinfluss auf den Menschen in einen Standard und einen Individualismus unterteilt haben. Der Standard, also der Teil jener Umwelteinflüsse, die auf jeden Menschen beispielsweise in Form von Grundbedürfnissen zutreffen, können deswegen nicht der Maßstab sein, durch den wir unsere Freiheit bestimmen. Das aber bedeutet, dass nur der Individualismus, also der Teil jener Umwelteinflüsse, die sich dem Menschen als individuelle Zustände zeigen, auf ihre Freiheit hin untersucht werden können.

      Wir haben versucht, für die Untersuchung unserer Freiheit ein Spannungsfeld zwischen uns und unserer Umwelt aufzubauen. Aber wie wir gesehen haben, ist dieses Spannungsfeld zunächst in sich zusammengebrochen, denn wir betrachten unsere Freiheit anhand des uns umgebenden Umwelteinflusses. Dadurch kommt es zu einer sich selbstbestätigenden Annahme dieser Freiheit, die nur noch von unserer Umwelt abhängt. Insoweit haben wir nichts anderes getan, als das absolute Begriffsverständnis von Autonomie in das Gegenteil zu drehen.

      Um ein Spannungsfeld zwischen dem Menschen und seiner Umwelt aufzubauen, müssen wir vielmehr fragen, was der Mensch seiner Umwelt, von der er ohnehin beeinflusst wird, entgegensetzen kann. Auf diese Weise können wir untersuchen, ob der Mensch frei ist, denn es erlaubt die Frage, ob es etwas gibt, das der Mensch seiner Umwelt entgegensetzen kann. Indem wir daran denken, wie der Mensch das Gegebene in seiner Umwelt zu etwas machen kann, das seinen Zwecken dient, erschaffen wir ein Spannungsfeld, bei dem wir uns nur noch fragen müssen, ob unsere Zwecke tatsächlich unsere Zwecke sind, und nichts, was uns von unserer Umwelt auferlegt wird.

      Aber wir erkennen bereits an der bloßen Möglichkeit des menschlichen Handelns einen ersten Widerstand. Wenn wir wählen können, zu handeln, können wir auch wählen, nicht zu handeln. Wenn wir aber zwischen Handeln und Nicht-Handeln wählen können, ist unsere Wahl immer ein Handeln. Ein Nicht-Handeln ist immer das Ergebnis unserer Wahl, nicht zu handeln. Es ist somit unmöglich, nicht zu wählen, nicht zu handeln.

      Erst die Art und Weise des menschlichen Handelns erlaubt uns einen Rückschluss auf die Freiheit des Menschen. Unsere vorherigen Schritte aber waren nicht vergebens, haben sie uns doch erst zu der Erkenntnis geführt, woran die Freiheit des Menschen auszumachen ist. Das menschliche Handeln konstituiert die Freiheit nicht in zeitlicher Hinsicht, sondern in einem Prozess seiner Funktionalität. Ohne das menschliche Handeln kann es keine Freiheit geben, denn jede Handlung versteht sich als Wahl, durch die wir frei sind, weil wir nicht nichtwählen können. Wir sind nicht frei von der Wahl unseres Handelns, aber frei durch die Wahl unseres Handelns.

      Allerdings können wir uns, als Versuch eines Gegenentwurfes, leicht in eine Situation hineinversetzen, in der wir annehmen müssten, es gäbe keine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, keine Wahl des Handelns oder Nicht-Handelns. Nehmen wir an, uns wird der Lauf einer Pistole auf die Brust gesetzt und unser Gegenüber verlangt von uns eine nicht unwesentliche Geldsumme, während er seinen Finger um den Abzug gelegt hat. Wenn wir uns dieser Forderung nicht widersetzen, sondern Sie erfüllen, kann die Kooperation nur die Wahl des Handelnden sein, zu kooperieren. Niemand sonst kann für uns entscheiden, kein anderer für uns handeln. Je nachdem ob wir den Zweck verfolgen, am Leben zu bleiben, oder wir die ganze Szenerie für einen Bluff halten, können wir kooperieren oder uns der Forderung verweigern. Wir sehen jedoch, dass, ganz egal, wie sich uns die Ausgangslage darstellt, wir selbst den Zweck unserer Handlung setzen. Man kann uns zu der Vornahme einer Handlung zwingen, aber die Handlung an sich, der Zweck, den wir damit verfolgen, bleibt unser eigener.

      Der Mensch ist nicht frei von der Umwelt, aber frei in seiner Handlung, in der Möglichkeit, das Gegebene in seiner Umwelt, von der er nicht frei ist, zu etwas werden zu lassen, das seinen Zwecken dient.

      Wenn wir nun annehmen, wir würden nicht kooperieren und uns der Forderung widersetzen, so wäre die Wahl der Handlung wieder auf der Seite unseres Gegenübers. Wir können nicht wissen, von welcher Möglichkeit unser Gegenüber Gebrauch macht. Sicher ist nur, dass unsere Wahl der Handlung den Angreifer ähnlich unter Zugzwang setzt, wie uns der Lauf seiner Pistole auf der Brust. Sicher ist auch, dass unser Angreifer die Wahl hat, den Abzug zu betätigen oder den Finger vom Abzug zu nehmen. Ihn unter Zugzwang zu setzen bedeutet nicht, dass wir ihm die Möglichkeit nehmen, uns zu erschießen. Ebenso wie uns der Lauf seiner Pistole auf der Brust nicht daran hindert, uns seiner Forderung zu widersetzen.

      Wenn der Mensch nicht frei von seiner Umwelt, aber frei in seinem Handeln ist, wird man sagen können, dass der Mensch nicht autonom ist. Wenn der Mensch jedoch frei in seiner Wahl des Handelns ist – eben weil sein Handeln mindestens die Wahl zwischen Handeln und Nicht-Handeln, sein Nicht-Handeln aber immer die Wahl seines Handelns ist, nicht zu handeln –, müssen wir untersuchen, was diese Wahl beeinflusst.

      Wir sagten, dass der Mensch immer selbst den Zweck seiner Handlung setzt. Aber können wir diese Aussage angesichts unseres Beispiels aufrechterhalten? War es nicht die Entscheidung des Angreifers, die es für uns