Название | Das Wolfskind und der König |
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Автор произведения | Bettina Szrama |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347127289 |
„Seht nur, was macht er denn jetzt? Der Tölpel küsst die Erde“, tönte es nach einem Moment der Stille aus der Menge der Unverbesserlichen. Schon bald erntete der vorwitzige Rufer neue Lacher, als er das Gehabe des Knaben possenhaft nachzuahmen begann. Dabei kam er dem Wilden einen Schritt zu nahe. Der Wolfsknabe stürzte sich auf ihn und riss ihm das Hemd über der Brust auf. Der Angegriffene war starr vor Entsetzen und auch die Burschen hinter ihm hielten den Atem an. Erst als Meyer wütend brüllte: „Lasst uns endlich durch, damit ich ihn ins Armenhaus bringen kann! Sonst rufe ich die Stadtwache“, endete das Spektakel.
Verhaltene Drohungen der um ihren Spaß gebrachten Jugend begleiteten das Fuhrwerk noch einen Moment, das sich nun langsam seinen Weg durch sie hindurch bahnte. Diesen Augenblick nutzte Grete, um dem Knaben die Hose zuzuwerfen. Doch gerade, als sie den Arm ausstrecken wollte, spürte sie einen eisernen Griff am Handgelenk. Als sie erschrocken aufblickte, sah sie in die verblüfften Augen des Vaters. Einem Reflex gleich, duckte sie sich, um eventuellen Schlägen zu entgehen.
Diese Unachtsamkeit nutzte der Knabe. Blitzschnell sprang er nach vorn auf die Hose zu, riss sie ihr aus den Fingern und biss ihr dabei in den Unterarm. Blut tropfte aus der Wunde und Grete schrie vor Schmerz auf. Der Knabe zog sich mit seiner Beute in den Schutz des Fuhrwerks zurück, beroch die Hose mit der Nase und zerfetzte sie dann wie ein Wolf mit den Zähnen.
„Hier finde ich dich also. Dein Ungehorsam wird dir noch leidtun“, hörte sie den Vater schimpfen und sah, wie er die Hand zum Schlag erhob. Schützend hielt sie den gesunden Arm über den Kopf. Doch die erwartete Strafe blieb aus. Stattdessen erklangen herrische Stimmen, und als sie vorsichtig unter ihrem erhobenen Arm hervorblinzelte, sah sie die Männer der Stadtwache, wie sie zu Pferd die Menge auseinandertrieben. Gleichzeitig ratterte eine Kutsche über das Pflaster und hielt neben dem Fuhrwerk. Eine Hand in einem Spitzenhandschuh winkte Meyer vom Fenster aus zu sich. Der Brauer sprang flink vom Bock und warf Johannes die Zügel zu.
„Was bringt Er uns da, Mann?“, schnarrte eine Stimme und Grete sah eine vogelartig gebogene Nase, zwei buschige Brauen und einen geschminkten Mund. „Einen Findling, den ich im Holz gefunden habe, Euer Ehren“, hörte sie Meyer mit einer Verbeugung antworten. Wie alle jungen Mädchen war Grete neugierig auf den hohen Herrn in der Kutsche und richtete sich auf, um besser sehen zu können. Da mit dem Eintreffen der Kutsche alle, selbst der Vater, eine unterwürfige Haltung angenommen hatten, fürchtete sie keine weiteren Schläge. Für einen Moment vergaß sie sogar den Vater und stellte sich auf die Zehenspitzen. Doch seine Pranke, wie eine Zange fest im Nacken, holte sie wieder auf den Boden zurück. Er roch nach Bier und knurrte leise: „Wirst du wohl unten bleiben und unserem Bürgermeister und dem Herrn Stadtschulzen die gebührende Ehrerbietung entgegenbringen, dumme Trine?“ Er drückte sie neben sich so tief zu Boden, dass sie mit der Nase fast den Boden berührte. An der Festigkeit des Griffes spürte sie, welches Vergnügen es ihm bereitete, sie die Macht spüren zu lassen, die er über sie besaß. Doch gerade, als sie glaubte vornüberzufallen, tauchten zwei blank gewichste Stiefel vor ihr auf und nun war es plötzlich der Vater, der neben ihr unterwürfig die Erde küsste.
„Will Er dem Mädchen das Genick brechen, Amtsaufseher Müller? Mein Gott, wie Er wieder nach Wirtshaus stinkt. Widerlich!“, schnarrte es über ihr und sie vermutete den Stadtschulzen, der den Knaben in Augenschein nehmen wollte. „Hat Er sich den Wilden schon mal angesehen, ob wir ihn im Spital unterbringen können?“, schnarrte es von neuem und Grete spürte, wie ihr Kinn angehoben wurde. Sie fühlte weichen Stoff an der Wange und atmete den Geruch eines süßlichen Parfüms ein. „Ist es Seine Erstgeborene?“
Grete sah in ein dickliches, von einer weiß gepuderten Perücke umrahmtes Gesicht. „Ja, Euer Ehren. Die Grete ist die Älteste von meinen sieben Kindern. Sie ist die Freude meines Alters, mein Augenstern, meine Rosenblüte.“
„Schneide Er nicht so auf, Amtsaufseher. Wir wissen, wie Er seine Kinder behandelt, dass sie mehr Dresche kriegen als seine Bediensteten. Aber schön ist sie. Soviel natürliche Anmut bekommt man nicht oft zu sehen. Was für zauberhafte, blaue Augen, die noch kindliche kleine Nase und ach diese vollen roten Lippen …“ Er verdrehte träumerisch die Augen. „Und alles ungeschminkt. Mit diesem Antlitz wird es die Tochter weit bringen. Wenn Er sie gut behandelt und gut verheiratet.“ Der Schmeichler zwinkerte Grete verschwörerisch zu, bevor er Meyer an seine Seite winkte und sagte: „Binde Er den Knaben vom Wagen los und gebe Er ihm ein Plätzchen im Heu oben auf dem Wagen. Dann kommt er auch schneller vorwärts.“ Darauf rief er in die Menge: „Der randalierende Pöbel entferne sich, sonst lasse ich den Platz mit Gewalt räumen!“
Nachdem seiner Anordnung unterwürfig Folge geleistet wurde, begab er sich zur Kutsche und rief Meyer beim Einsteigen zu: „Beeile Er sich! Wir fahren ihm voraus zum Spital, um den seltsamen Fund eingehend zu inspizieren!“
Du bist ein Mensch, Peter
Das Armenhaus St. Spiritus war ein abgeschlossener Gebäudekomplex außerhalb der Stadt mit mehreren kleinen Steinhäusern und einer eigenen Wasserversorgung. Die düsteren Mauern, die es wie ein Kloster umschlossen, erzählten eine Jahrhunderte überdauernde Geschichte von den Leiden und dem Siechtum der Bettler und Armen. Die kleine Siedlung verfügte über eine eigene Kapelle, einen Friedhof und einen eigenen Wirtschaftshof und wurde viele Jahre finanziell und seelsorgerisch von der Kirche betreut. Nach dem großen Krieg hatte sich die Stadt gegen die Kirche durchgesetzt und nun stand das Spital unter der alleinigen Aufsicht des Bürgermeisters.
Der elternlose August Müller war als junger Mann in das Armenhaus gekommen und hatte dort eine winzige Kammer bewohnt. Der intelligente junge Mann begann sich rasch im Armenhaus nützlich zu machen. Dem Schreiben und Lesen zugetan, verwaltete er schon bald die Bierspende, die 30 Tonnen jährlich erreichte, den Mai- und Herbstlachs vom Kurfürsten, die zehn Klafter Buchen- und Eichenholz vom Rat und die Gelderträge aus den Armenstöcken am Hause und an der Kapelle, sowie die Sammelbüchsen, mit denen wöchentlich in der Stadt gesammelt wurde. Das brachte ihm ein großes Ansehen beim Bürgermeister ein, der den fleißigen, aber armen jungen Mann zum Dank mit einer Hugenottin verheiratete und seinen Aufstieg in die Schuhmachergilde förderte. Dieser bezog alsbald mit seiner Familie das neu errichtete Haupthaus steuerfrei und erhielt zu den Kammern einen Stall und einen Garten vom Bürgermeister, der dem aufstrebenden jungen Gildemeister nun die gesamte Leitung des Armenhauses überantwortete.
Doch die Französin, die mit ihrer Familie vom Kurfürsten nach Hameln geholt wurde, war nicht treu. Müllers Weib gehörte zu den 114 Flüchtlingen des Pfarrers Dubrue aus Lausanne, der aufgrund der Aufhebung des Ediktes von Nantes in Frankreich, wie zahlreiche andere hugenottische Geistliche, des Landes verwiesen wurde und dem seine Gemeindemitglieder wie treue Schafe gefolgt waren. Müller betonte seitdem immer wieder auf seinen zahlreichen Saufgelagen: „Ach, wären doch diese Hugenotten hier niemals angekommen. Dann hätte ich mir nicht so ein zügelloses Hurenweib ins Haus geholt.“ Sein Weib war nämlich schwanger gewesen, von einem Unbekannten. Man vermutete allgemein, dass ihre Älteste, Grete, das Kind des Koloniedirektors Ponnier sei, eines herrschsüchtigen, mit jedem Handel anfangenden Franzosen, der so gar nicht zu den arbeitsamen, strebsamen Hugenotten passen wollte.
Müllers Weib wohnte zuvor an der Kleinen Straße, die von allen nur „La rue francoise“ genannt wurde. Sie hatte es Müller nie verziehen, dass er sie aus der Hugenottenkolonie herausgeholt hatte. Dabei war ihm bekannt gewesen, dass die Hugenotten ihre Bräuche gern unter sich feierten und die eigene Geselligkeit den Hamelner Bürgern vorzogen. Das Weib fühlte sich schnell einsam und um ihr Leben betrogen. Von rassiger Schönheit, mit einem wilden Temperament ausgestattet, verdrehte sie allen vorbeiziehenden Männern, ob Hugenotten oder Hamelner, alsbald den Kopf. Sie bekam rasch ein Kind nach dem anderen und Müller kam ins Zweifeln, ob die Bälger alle von ihm waren. Zudem war sie zänkisch und sprach kein Wort Deutsch mit ihm. Im Laufe der Jahre zog es Müller mehr und mehr in die Wirtshäuser, wo er sich seinen Kummer von der Seele trank. Er kam jedes Mal unzufriedener nach Hause, vernachlässigte seine Aufgaben im Spital und war manchmal tagelang nicht aufzufinden. Dann sah man ihn an den Spieltischen bei dem Versuch sein Glück beim Spiel herauszufordern. Doch das ersehnte Glück war ihm