Geschichten am Schienen#Strang. Johannes Glöckner

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Название Geschichten am Schienen#Strang
Автор произведения Johannes Glöckner
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347060418



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um die Gesetze der Bewegung richtig verstehen zu können, eine richtige Eisenbahn lebt, sie atmet Abenteuer, die Gleise weisen in die Ferne, hinter den Horizont, es gibt die tollsten Dampfrösser, die Mädchen am Bahndamm winken den todesmutigen Maschinenmännern zu, überall lauern nie gekannte Gefahren: Kesselexplosionen, Zusammenstöße, einstürzende Brücken oder auch eine unglaubliche Liebschaft - genau das, Mademoiselle, das ist ein richtiges Spielzeug, und es ist einfach so da, für jeden, unabhängig von der Gunst der Eltern oder Lehrer, für Jungen und Mädchen genauso, jeder Bub wäre selig, würde das Mädel mit ihm zusammen mit Volldampf in die Welt brausen, aber für so etwas ist die Evolution noch nicht weit genug vorangekommen, deshalb muss es der Mann alleine tun, als Held zurückkommen, eine Familie gründen, um dann seine Kinder aufs richtige Gleis zu setzen, nun, ich sehe es an Ihrem fragenden Blick, ob es denn Autos, Schiffe, und Flugzeuge nicht auch tun würden - nein, Mademoiselle, Autos sind untreu, sie halten keine hundert Jahre wie so eine Dampflok, die Leute auf den Schiffen erzählen doch nur Seemannsgarn, darauf ist kein Verlass, und erst die Fliegerei, sie hat nur langweilige Flughäfen mit endlosen Pisten aus Beton zu bieten, keine lauschigen Bahnhöfe, keine Strecken, die sich lieblich in die Landschaft einfügen, an denen überall Menschen leben, keine Bahnübergänge, wo sich die Lebenslinien von Bäuerinnen und Lokführern kreuzen, keine gemütlichen Feldwege, keine Wälder mit romantischen Plätzen, wo man sich lieben könnte - aber das wichtigste ist, wenn es mal eng wird, wenn der Amoklauf kurz bevorsteht, wenn alles in Kälte erstarrt - dann ist die Dampflok da, sie taut jedes Herz auf, sie wärmt die Seele, sie ist die Heimat, die überall hin mitkommt, die mit Öl verschmierten Männer auf den Maschinen sind deine Familie, die immer mitreist, die immer da ist, sie sehen sofort jedes Problem, sie wissen, niemand muss sich vor den Zug werfen, ganz im Gegenteil, die Eisenbahn ist die Lösung, sie bringt dich, wenn du erfrierst, zu neuen Zielen, die öligen Männer holen dich bei der ärgsten Kälte auf ihre warme Lok, das Feuer lodert, der Kessel kocht, der Druck steigt, die Manometer sind am Anschlag, das Sicherheitsventil ist kurz vor dem Abblasen, der Heißdampf kann es nicht mehr erwarten und dann geht es ab in eine neue Welt, auf der warmen Dampflok verschmelzen Kälte und Hitze, die Welt wird eins, kein Gedanke an das, was man zurücklässt, keine Heimat, die nicht gegen eine bessere einzutauschen wäre, kein Gedanke lieblicher, als der an ein Mädchen, dass bequem im Zug sitzt und gerade von so einem Helden träumt, der mit seiner Lok wie mit einem wilden Hengst von dannen stiebt - Mademoiselle, Sie wissen wovon ich rede, am Ende der Odyssee sinkt der Held in Ihre Arme, rußig und ölverschmiert, aber den Fängen einer miefigen Kleinstadt und herzlosen Eltern entronnen, im Besitz des Wissens, wie man der Welt, die einen erdrückt, ganz einfach entflieht, wie gut es klingt, wenn Eisenräder auf Eisenschienen dahin rollen, das ist Erfahrung durch fahren, man lernt mit der Liebe zur Eisenbahn die Liebe zum Leben, ich weiß, wovon ich rede, in einem Zug traf ich die geheimnisvolle Mata Hari, wir verstanden uns sofort, weil wir wissen, wie man mit der Liebe und mit Geheimnissen umgehen muss, wir hatten ein Schlafwagenabteil für uns, sie suchte erst nach Wanzen, danach erzählte sie mir, Charlie Chaplin sei unterwegs zum Schwarzen Meer, es ging um schwarzen Humor, ein Kongress, zu dem auch Sergei Eisenstein kommen sollte, er wollte in Sewastopol einen potemkinschen Bahnhof bauen, in dem Lenin mit einer finnischen Dampflok ein- und ausfahren sollte, dann aber hatte Eisenstein einen Nierenstein, so fiel alles ins schwarze Meerwasser, doch vergeblich war nichts, Mata Hari, die eigentlich Margarete Gertrude heißt, hatte im Zug Charlie Chaplin nach dem Großen Diktator ausgefragt, weil Stalin von ihm wissen wollte, ob man auch Menschen humorvoll verschwinden lassen könnte, vielleicht einfach so mit einem lustigen Zylinder, Mata wusste einfach alles, sie hat mir stolz die kleine Kamera in ihrem Ausschnitt gezeigt, so wusste auch ich alles

      und deshalb ist die Eisenbahn so wichtig, erst recht, wenn man die Welt genauso wie die Frauen erobern will und deswegen kann schon der kleinste Kleinstadtbahnhof zum Nabel des Universums werden, dort nehmen die besten Dinge zuerst ihren Lauf, und weil das so ist können wir beide jetzt auch bis Wladiwostok fahren, oder bis Peking, Pjöngjang oder Saigon, ich könnte noch ein wenig mehr erzählen, etwa davon, dass es besser ist, wenn richtige Fräuleins - auch wenn die Kerle genau davon träumen - eben nicht zwischen Lokomotiven und Gleisen herumklettern sollen, das führt zu nichts, das nimmt den Reiz, die Spannung ist weg, wir leben doch von Gegensätzen, von oben und unten, von schwarz und weiß, von schön sauber und richtig dreckig, von Feuer und Eis, Wasser und Dampf, von Ying und Yang, von Himmeln und Höllen, Heiligen und Teufeln - die Eisenbahn ist etwas für Steppenwölfe, die einsam durch die Welt streifen und nach einer so guten Konversation suchen, so wie wir sie haben, sehen Sie, Mademoiselle, die richtige Eisenbahn muss ein Spielzeug bleiben, die Eisenbahner sollen gute Spielkameraden sein, einen Eisenbahner heiraten bringt meistens Unglück, es verkürzt die Lebenserwartung, es gab einen Hochzeitsfotografen, der hat um die schönen Bilder, wo sie beide vor oder auf der Lok geheiratet haben, immer gleich einen Trauerflor gemacht, die Leute haben es nicht verstanden, dabei wollte er nur sagen, dass der heilige Stand der Ehe in der Regel mit genau der Modelleisenbahn im Keller endet, die in der Kindheit nicht da war, nun aber ist es zu spät, ein früher Tod auf Raten setzt ein, sehen Sie, da bin ich lieber mit dem Hellas-Express von Dortmund nach Griechenland gefahren, damals ein durchgehender Zug, bei dem man nie wusste, ob er auch ankommt, nachts in Jugoslawien hat jemand die Notbremse gezogen, junge Burschen, sie stiegen aus weil sie nicht weit von dort in einem Dorf wohnten, andere stiegen auch aus, holten Sliwowitz für die Eisenbahner, und nach einer gehörigen Runde fuhren wir weiter, alles war in bester Ordnung, die Reisenden haben es gar nicht richtig mitbekommen, ich aber wollte ja nur mit Alexis Sorbas einen Ouzo trinken, ihm erklären, dass eine Zahnradbahn besser gewesen wäre als seine klapprige Seilbahn, die wie eine Reihe Dominosteine komplett von oben bis unten eingestürzt ist, das war filmreif, und was sagt der Kerl, liebe Mademoiselle, es wäre überhaupt nicht tragisch gewesen, er wäre nur vorübergehend unkonzentriert gewesen, weil da eine Frau war, die ihn zu sich gerufen hat, und er war überzeugt, dass ein Mann kommen muss, wenn eine Frau ihn ruft, ja, genauso ist das, und mit dem Herrgott, sagt er, sei das ja auch so und, Mademoiselle, ich habe ihm recht gegeben…

      Die Frau am Regler

      Bahnfahren kann durchaus vergnüglich sein, man erinnert sich heute nur noch selten daran. Manchmal ist Bahnfahren sogar spannend wie ein Abenteuerurlaub. Dabei meine ich nicht einmal die Graffiti-Künstler, die an fahrenden Zügen hängen. Auch nicht die Gaukler, Musikanten und Handtaschenräuber, die schon mal Bahnhöfe und S-Bahnen entern. Ich meine auch nicht die Fahrkartenkontrolleure, die Schwarzfahrer jagen oder die Eisenbahnfreaks, die rechts und links der Strecke mit abenteuerlicher Akrobatik ein extravagantes Foto hinbekommen wollen. Nein, es geht um die grundsätzliche Frage, ob überhaupt eine Bahn kommt.

      Man hat man sich mittlerweile daran gewöhnt, dass keine kommt. Es heißt dann, es wäre kein Lokführer da. Angeblich sind sie alle krank oder im Urlaub. Ganze Strecken werden notgedrungen auf Busbetrieb umgestellt. Wenn aber auch keine Busfahrer aufzutreiben sind, wird einfach gar nicht mehr gefahren. Die Strecke wird sogleich als Wanderweg freigegeben. Das wiederum ruft heftige Proteste der Radfahrer und Mountain-Biker hervor. Sie wollen unbedingt mit ihren dicken Reifen über Schotter und Schwellen brettern. Aber auch die Senioren melden ihre Rechte an. Mit umgebauten Rollatoren, Rollstühlen und Fahrraddraisinen wollen sie ebenfalls auf die Strecke.

      Einfach jeder will nun auf die Bahntrassen. Auf zweigleisigen Strecken mag man das alles noch regeln können, aber wenn nur ein Gleis da ist, dann wird es eng. Wichtige Fragen sind ungeklärt: Wer hat an einem Bahnübergang, der nun nicht mehr durch Rotlicht und Schranken gesichert ist, die Vorfahrt? Das Problem hat der Verkehrsgerichtstag in Goslar noch nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Was passiert, wenn einem plötzlich doch eine verirrte Lokomotive entgegenkommt?

      Das Freigeben der Strecken für jedermann ist keine intelligente Lösung. Die Abenteuerlust der Bahnfahrer kann viel besser befriedigt werden. Stellen sie sich vor sie sitzen in einem gut gefüllten Regionalexpress und warten auf die Abfahrt. Es ist etwa der RE17 von Hagen über Bestwig nach Kassel-Wilhelmshöhe. Auch nach 15 Minuten rührt sich nichts. Dann endlich kommt die Durchsage, dass sich die Abfahrt aus betrieblichen Gründen um wenige Minuten verzögern würde. Etwas später eine Bitte des Triebfahrzeugführers,