Название | Zorn und Stille |
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Автор произведения | Sandra Gugic |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783455009224 |
Sandra Gugić
Zorn und Stille
Roman
Hoffmann und Campe
Für meine Komplizen
A. und C.
Überleben (SURVIE) [ist] ein ursprünglicher Begriff, der die Struktur selbst dessen darstellt, was wir Existenz oder DASEIN nennen […] Wir sind strukturell gesehen Überlebende. Jacques Derrida
Prolog
Es geht hier nicht um mich. Es geht um ein Auge. Es ist der Blick, der die Geschichte zusammenhält. Der Standpunkt des Auges ist der Ausgangspunkt der Erzählung.
*
Es war ein Tag mit gutem Licht. Schritte hallten in den leeren Räumen, durch die Fenster drangen die Farben und der Lärm des Draußen, die Geräusche der Stadt als beständiges Summen und Dröhnen, hier drinnen war es still. Sie ging die Zimmer ab und versuchte zu verstehen, was geschehen war, wer sie sein würde, welche Version von sich sie bis zu diesem Augenblick gewesen war. In der Mitte des Wohnzimmers hielt sie einen Moment inne, kratzte mit der Schuhspitze den schmalen Spalt zwischen den Dielen entlang. Kies, Erde und Staub hatten sich darunter gesammelt. Diese Räume hatten einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Die Geschehnisse und Begebenheiten, die sich ihren Platz gesucht hatten, befanden sich bereits in der Umerzählung, schon jetzt begann das Möblieren von neuem, das Besetzen, das Zuschreiben. Unten vor dem Fenster trugen fremde Menschen die restlichen Dinge weg, Erinnerungen in verschiedenen Aggregatzuständen, Persönliches, Dinge des Alltags, Souvenirs, nein, keepsakes, in Gedanken nahm sie Wörter zurück, um sie gegen geeignetere zu ersetzen, als wäre das Denken die Arbeit an einer Struktur, die wieder und wieder verbessert werden musste, und als läge die Wahrheit im andauernden Verschieben der Perspektive. Die Dinge, die sie freigegeben hatte, wechselten ihre Besitzer, verbanden Fremde für einen Moment miteinander. Wahrscheinlich sind wir alle ebenso verbunden, wie wir voneinander getrennt sind, ob wir es nun anerkennen oder nicht. Sie lehnte sich gegen das Fenster, ihr Blick wanderte über eine überschaubare Menge Vergangenheit, einen Stapel Holzstühle, ein grünes Sofa, einen Tisch mit abgeschlagenen Ecken, klein- und großformatige Bilder, Schuhschachteln voller unbelichteter Filme und Kleinkram, dazwischen bewegten sich die Köpfe der Fremden, wechselten ihre Position, ihre Hände suchten, griffen nach etwas, um es ausgiebig zu begutachten, es zurückzulegen und gegen etwas anderes zu tauschen. Eine Choreographie von Entscheidungen, ausgeführt von Schritten und Händen. All diese Dinge, die sie nicht mehr im Detail beschreiben hätte können, schienen farblos geworden zu sein, hatten ihre Form und alle Besonderheit verloren. Die Kartons, die sie am Gehsteig aufgereiht hatte, leerten sich nach und nach, Menschen trugen ihre neuen Schätze fort, ohne sich nach einer Besitzerin umzusehen. Einen Augenblick lang fror sie die Szenerie ein: Der Mann, der mit beiden Händen in einer Kiste wühlte, und die Frau, die zwei Stühle aufeinandergestapelt hatte, verharrten in ihrer Bewegung, das weiche Licht des Nachmittags zeichnete ihre Gesichter, freezeframe, das Bild fügte sich in all die Bilder des Tages, die sie nicht fotografiert hatte. Heute wollte sie keinen Rahmen um die Dinge ziehen, keinen Ausschnitt wählen und damit einen anderen Blickwinkel, eine abweichende Erinnerung ausschließen. Mit jedem Stück, das fortgetragen wurde, verlor sie an Gewicht, wurde leichter. Sie begann, niemand mehr zu sein. Niemand blickte hoch zu den Fenstern, dorthin, wo sie saß und das Schauspiel verfolgte. In der Ecke des Raumes stand das Festnetztelefon, sie hatte es noch nie benutzt, daneben das Kabel, das nicht mehr in der Wand steckte. Sie hatte vergessen, das Gerät an die Telefongesellschaft zurückzuschicken. Hin und wieder zogen Flugzeuge über dem Haus vorbei, stellten die Uhren für einen kurzen Moment auf Echtzeit, bevor sie verschwanden. Sie erinnerte sich an die Anrufe bei ihnen zu Hause, damals, in den Neunzigern, den rasselnden Klingelton, seine Monotonie, sie war noch ein halbes Kind, sie erinnerte sich an die Aufregung der Stimme auf der anderen Seite der Leitung:
– Seid ihr Serben oder Kroaten? Serben oder Kroaten?
Die Wahrheit auf der einen Seite der Leitung und jene auf der anderen markierten zwei simultane Ereignisse, während der eine sprach, raste auf der anderen die Zeit, zwei parallele, sich gegenseitig ebenso verstärkende wie ausschließende Prozesse. Irgendjemand wollte die Wahrheit in Kategorien stecken, Schwarz und Weiß, Gut und Böse, kein Mensch, nur die Wahrheit von irgendjemand hatte bei ihnen angerufen, während ein Flugzeug über diesem Zuhause hinwegdonnerte, das sich weder in Serbien noch in Kroatien befand, sondern in einer Einflugschneise, andernorts, in Europa, in der Pause zwischen zwei Fliegern, in der Stille, die eine Seite der Wahrheit von der anderen trennte.
Sie folgte mit den Augen den Linien der Kondensstreifen, die den Himmel zerschnitten, und war sich gleichzeitig sicher, dass sie bereits in diesem oder dem nächsten Flugzeug saß und einen Plan fasste, was weiter mit ihr geschehen sollte.
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