Letzte Erzählungen. William Trevor

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Название Letzte Erzählungen
Автор произведения William Trevor
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783455008296



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wenn er seine Stücke zu Ende gespielt hatte, dazu bringen, mit ihr zu reden. In endloser Wiederholung versuchte sie ihm anzuvertrauen, dass sie der besonderen Schachtel ihres Vaters einmal eine Praline entnommen hatte, vermochte es aber nicht; und wenn sie, wieder wach, in der Dunkelheit dalag, merkte sie, dass sie nie gekannten Gedanken anheimfiel. Sie fragte sich, ob ihr Vater wirklich so gewesen war, wie er nach außen gewirkt hatte, ob der Mann, den sie so lange bewundert und geliebt hatte, ihre Zuneigung ausgenutzt hatte. Waren die Pralinen ihres Vaters ein Anreiz gewesen, bei ihm im Haus zu bleiben, war es verkappter Eigennutz? Hatte der Mann, der seine Frau betrogen hatte, auch seine Geliebte betrogen, weil Betrug zu seinem Wesen gehörte? Waren in die Leidenschaft, die es zweifellos gegeben hatte, Lügen eingestreut gewesen?

      In der Dunkelheit schob sie all dies von sich, ohne zu wissen, woher es kam oder weshalb es mit den jetzigen Vorfällen verknüpft schien; und doch kehrte es immer wieder zurück, so als werfe eine Wahrheit, die sie nicht begriff, ihr Licht auf Schatten, die sie früher getäuscht hatten. War Diebstahl belanglos? Die entwendeten Gegenstände waren so klein, und es blieb so viel zurück. Falls sie es ansprach, würde ihr Schüler nicht mehr wiederkommen, selbst wenn sie sogleich hinzufügte, dass sie ein so geringfügiges Vergehen verzeihe. So wenig sie auch sonst wusste, dessen war sie sich sicher; und oft schaute sie gar nicht erst nach, um herauszufinden, was fehlte.

      Der Frühling jenes Jahres wich dem Sommer, einer Hitzewelle staubtrockener Tage, die bis zu den Regenfällen im Oktober anhielt. Die ganze Zeit hindurch klingelte es freitagnachmittags an der Tür, und dann stand er da, der stumme Junge, der seine Mütze auf die Garderobe legte, sich an ihr Klavier setzte und sie mitnahm ins Paradies.

      Auch Miss Nightingales andere Schüler kamen und gingen, doch nur der Junge bat nie um einen anderen Tag, eine andere Uhrzeit. Nie hatte er einen Brief dabei, nie brachte er eine Ausrede vor, nie stellte er Unfug an, den sie ohnehin gleich durchschaut hätte. Graham erzählte von seinen Haustieren, um das Vorspielen eines Stückes hinauszuzögern, das er nicht geübt hatte, Diana weinte, Corins Finger schmerzten, Angela gab auf. Und dann kam, im gleichmäßigen Verlauf der Zeit, ein weiterer Freitag und nahm als glückseliger Nachmittag seinen Platz im Zentrum ihres Lebens ein. Doch jedes Mal, wenn der Junge gegangen war, lag eine Art Spott in der leise nachhallenden Musik.

      Die Jahreszeiten wechselten, dann wechselten sie ein weiteres Mal, bis der Junge eines Tages nicht mehr wiederkam. Den Klavierstunden und seiner Schule war er entwachsen und wohnte inzwischen woanders.

      Sein Ausbleiben bescherte Miss Nightingale Gelassenheit; und auch das Fortschreiten der Zeit besänftigte ihre Unruhe. Falls ein einsamer Vater ein selbstsüchtiger Mann gewesen war, so wog der Gedanke mittlerweile weniger schwer als früher, als er noch roh gewesen war. Falls ein geliebter Liebhaber die Liebe missachtet hatte, so wog im tröstlichen Rückblick auch dies weniger schwer. Auch ein Opfer des Jungen war sie gewesen, der ihr eine andere Art Fingerfertigkeit vorgeführt hatte. Sie war ein Opfer ihrer selbst gewesen, ihrer fahrlässigen Gutgläubigkeit, ihres Wunsches, dem Augenschein zu trauen. All dies, spürte sie, traf zu. Irgendetwas aber quälte sie noch immer. Fast glaubte sie ein Anrecht darauf zu haben, es besser zu begreifen.

      Lange danach kehrte der Junge zurück – grober, größer, ruppiger, in ungelenker Adoleszenz. Er kam nicht, um ihr ihr Eigentum zurückzugeben, sondern stiefelte geradewegs herein, setzte sich hin und spielte ihr vor. Das Mysterium der Musik lag auch in seinem Lächeln, als er endete und auf ihre Billigung wartete. Und als sie ihn anschaute, begriff Miss Nightingale, was sie zuvor nicht begriffen hatte: Dieses Mysterium war ein Wunder in sich selbst. Sie hatte kein Recht darauf. Als sie zu begreifen versuchte, wie sich menschliche Hinfälligkeit mit Liebe verband oder mit jener Schönheit, die den Begabten innewohnte, hatte sie zu viel angestrebt. Jetzt war ein Ausgleich gefunden; das war genug.

      Der verkrüppelte Mann

      »Also, das wäre eure Arbeit, wenn ihr wollt«, sagte der verkrüppelte Mann. »Um die Fassade muss sich schon lange jemand kümmern. Ihr müsstet den Putz ausbessern.«

      Die beiden Männer, die zu dem Gehöft gekommen waren, berieten sich miteinander, ohne zu reden, nickten und gestikulierten nur. Dann nannten sie einen Preis für den Anstrich der Außenwände, doch der verkrüppelte Mann meinte, das sei ihm zu teuer. Er nannte eine geringere Summe und sagte, so viel habe es beim letzten Mal gekostet. Die Männer, die auf Arbeitssuche waren, erwiderten nichts. Der Größere zog seine Hose hoch.

      »Wenn das so ist, kommen wir uns auf halbem Wege entgegen«, sagte der verkrüppelte Mann.

      Die beiden Männer sagten noch immer nichts, sondern schüttelten nur den Kopf.

      »Dann schert euch davon«, sagte der verkrüppelte Mann.

      Aber sie gingen nicht, so als hätten sie nicht verstanden. Das war eine Masche von ihnen: so zu tun, als würden sie nicht verstehen, die Stirn in Falten zu ziehen und Verwirrung vorzutäuschen, denn in jedem Gespräch war es manchmal vorteilhaft, ratlos zu wirken.

      »Sprechen wir von zwei Anstrichen?«, erkundigte sich der verkrüppelte Mann.

      Der Große bejahte. Er wirkte älter als sein Kollege, in seinem Haar zeigte sich das erste Grau, aber das war verfrüht: Beide waren noch jung, in ihren Zwanzigern.

      »Kommen wir uns auf halbem Wege entgegen?«, schlug der verkrüppelte Mann erneut vor. »Zwei Anstriche, und wir treffen uns in der Mitte?«

      Der jünger aussehende der Männer, mit einem runden Mondgesicht und einer Drahtbrille, nannte eine andere Summe. Er starrte auf die grauen, ziemlich rissigen Steinplatten des Küchenbodens und wartete auf eine Antwort. Der Große, der seine Arme herabhängen ließ, locker und schlaksig wie sein ganzer Körper, saugte an seinen Zähnen, das war eine seiner Angewohnheiten. Wenn es neunzehn Jahre her sei, dass das Haus gestrichen wurde, sagte er, wäre die Bezahlung niedriger, als dass es sich für sie noch lohnen würde. Dass es neunzehn Jahre her war, war ihnen gesagt worden.

      »Seid ihr Polen?«, fragte der verkrüppelte Mann.

      Sie bejahten. Manchmal gaben sie das zur Antwort, manchmal nicht, je nachdem, was sie vorher über die Anwesenheit anderer Polen in der Gegend in Erfahrung gebracht hatten. Sie waren Brüder, auch wenn sie nicht wie Brüder aussahen. Sie waren keine Polen.

      Eine schwarze Katze schlich auf der Suche nach Insekten oder Mäusen in der Küche umher. Hin und wieder attackierte sie ein Stück Borke, das vom Brennholz abgefallen war, oder einen Schatten. Die Malerarbeiten würden vierzehn Tage in Anspruch nehmen, sagte der Jüngere, sie würden auch sonntags arbeiten; dann ging es wieder um den Lohn. Man einigte sich auf einen Preis.

      »In Scheinen«, sagte der Große und rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »In bar.«

      Auch darauf einigte man sich.

      Martina fuhr langsam, wie immer auf dem Rückweg von Carragh. Mehr als einmal hatte der alte Dodge auf dieser Strecke versagt, und sie hatte zu Fuß zu Kirpatrick’s Garage gehen müssen, um Hilfe zu holen.

      Jedes Mal sagte ihr derselbe Mechaniker, ihr Auto gehöre zur Oldtimerbrigade und hätte schon vor vierzig Jahren aus dem Verkehr gezogen werden müssen. Aber der uralte Dodge gehörte zu ihren Lebensumständen; weil er unerlässlich war, musste sie sich mit ihm abfinden. Und wenn sie langsam fuhr, brachte er sie meist ans Ziel.

      Um das halbe Pfund voll zu machen, wie er sagte, hatte Costigan zwei Scheiben durchwachsenen statt mageren Speck dazugetan, dabei aber mageren berechnet. Sie hatte nichts erwidert; bei Costigan tat sie das nie. »Kommen Sie mit zum Schuppen, dann schauen wir mal«, hatte er früher immer gesagt, dann war sie mit ihm zum Schuppen gegangen, wo die Tiefkühltruhe stand, um sich ein gefrorenes Schweinesteak oder Geflügelkeulen auszusuchen, deren Anblick ihr zusagte, und er hatte sie begrapscht. Inzwischen forderte er sie nicht mehr auf, ihn zur Tiefkühltruhe zu begleiten, doch die Tage, als er sie noch dazu eingeladen hatte, standen immer zwischen ihnen, und nie aß sie ein Schweinesteak oder Hähnchenschlegel, ohne daran erinnert zu werden, wie er hinterher, wenn sie bezahlen wollte, das Geld zurückschob und sie es im Bauernhaus in einer Gold-Flake-Dose versteckte.

      Sie fuhr an den Tinkern am Cross