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überlegte gerade, wie ich dieses Date noch in meinen übervollen Terminkalender quetschen sollte, als mein Handy klingelte. Vermutlich war es Julia, die mir Fotos von verschiedenen Outfits zur Begutachtung schicken und wissen wollte, ob ich on war. »Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte sie und klang, als sei sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

      »Nichts Besonderes. Ich wollte vielleicht den Brief an meinen Vater schreiben, den Dr. Hahn bis Dienstag haben will, und danach früh ins Bett, weil ich morgen arbeite. Wieso?«

      »Stimmt, du musst in die Bäckerei«, kam es enttäuscht vom anderen Ende der Leitung. »Das ist ja doof, denn ich wollte dich bitten, spontan als Babysitter für Finchen und Elric einzuspringen. Meine Eltern sind zu einem wichtigen Geschäftsessen eingeladen und Nele, die sonst aufpasst, ist plötzlich krank geworden.«

      »Und du bist mit André verabredet«, antwortete ich, als mir klar wurde, was für Julia auf dem Spiel stand. »Kein Problem, wann soll ich da sein?«

      Punkt halb sieben traf ich bei den von Menkwitz’ ein, stürmisch begrüßt von Finja, die sich schon genau überlegt hatte, wie sie den Abend verbringen wollte. Da sie gerade auf dem Märchen-Trip war, türmten sich auf dem Wohnzimmertisch bereits ein Märchen-Memory, diverse Puzzles, sechs leere Wasserflaschen und eine große Schüssel mit getrockneten Linsen und Erbsen. »Na, da hast du ja einiges vor«, lachte ich und zwinkerte Julias Mutter Gesa zu. »Wann muss Finchen denn ins Bett? Wenn ich mir das so anschaue, haben wir ein Programm für das ganze Wochenende.«

      »Au ja, Marie bleibt bis Montag«, klatschte Finja begeistert in die Hände, kniete sich auf ein kuscheliges Kissen und begann, die Memory-Karten zu mischen. »Heute darf sie ausnahmsweise bis zehn aufbleiben. Aber danach verschwindest du brav in den Federn und bleibst auch da, nicht wahr, Mäuschen?« Finja schenkte ihrer Mutter einen Blick aus babyblauen Augen, als könne sie kein Wässerchen trüben. Gesa seufzte, schließlich kannte sie ihre quietschlebendige, stets zu Streichen aufgelegte Tochter ganz genau.

      »Wo sind denn Julia und Elric?«, fragte ich und folgte Gesa in die stylishe Küche mit Mobiliar aus Edelstahl, wo Abendessen für uns drei bereitstand. »Da bin ich schon«, trompetete Julia und baute sich vor mir auf. »Wahnsinn! Du siehst toll aus«, lobte ich. »Also wenn das André nicht umhaut, dann weiß ich auch nicht.« Julia tippelte eine Weile in der Küche auf und ab, die hohen Absätze ihrer schwarzen Overknee-Stiefel klackerten auf dem Marmorboden, was ihrem Vater garantiert den Schweiß auf die Stirn getrieben hätte. Sie trug einen schwarzen Cord-Mini und darüber einen engen roten Rollkragenpulli, der ihre weiblichen Rundungen bestens zur Geltung brachte. Das rotbraune Haar mit den Goldsträhnchen hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, ähnlich wie Blake Lively aus Gossip Girl. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten durch den pudrigen Lidschatten noch wärmer als sonst, die vollen Lippen waren durch einen farblosen Gloss betont.

      »Einfach zum Verlieben«, kommentierte nun auch Gesa den Auftritt ihrer Ältesten und nahm sie in den Arm. »Ich wünsch dir einen wunderschönen Abend, mein Schatz. Stell uns André ruhig bald mal vor, wenn es … du weißt schon … ernst mit euch werden sollte.«

      »Mann ey, wie siehst du denn aus. Gab’s die Stiefel nicht noch eine Nummer höher?«, zerstörte Elrics Kommentar die Stimmung und ließ Julias Mundwinkel augenblicklich nach unten rutschen. »Was wissen zwölfjährige Jungs schon von hippen Outfits?«, konterte sie und kniff ihren Bruder in die Wange. »Wir sprechen uns, wenn du mir deine erste Freundin vorstellst!« Elric murmelte etwas, das verdächtig nach »Da kannst du aber lange warten« klang, und beäugte dann misstrauisch das Abendessen. »Keine Frikadellen?«, fragte er enttäuscht. »Keine Frikadellen, dafür Mini-Veggie-Burger und Kartoffelsalat«, antwortete Gesa ungerührt und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du für Nele eingesprungen bist und dich heute Abend um die beiden kümmerst. Wenn Elric frech wird, ignorier ihn einfach, und was Finchen betrifft, nun ja, du kennst sie. Wir versuchen, vor Mitternacht daheim zu sein. Leg dich einfach schon hin, wenn du müde bist. Unsere Handynummer hast du ja.«

      »Danke, Gesa, ich schaff das schon. Grüß Jan. Und mach dir keinen Kopf. Amüsiert euch und bleibt, so lange ihr wollt.«

      »Ich muss dann auch mal los«, sagte Julia und umarmte mich, als es an der Tür klingelte. André war pünktlich auf die Minute und so würden sie es rechtzeitig zum Blankeneser Kino schaffen. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, war ich allein mit Elric, der sich sofort murrend in sein Zimmer verzog, und Finja, die an meinem Bein hing wie eine Klette. »Komm, wir spielen das Aschenputtel-Spiel«, befahl sie und zerrte mich Richtung Wohnzimmer. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, holte tief Luft und schrie mit aller Kraft: »Elric, wir brauchen dich hier unten. Und zwar JETZT!«, woraufhin ihr Bruder erstaunlicherweise sofort erschien.

      Ich verkniff mir ein Grinsen und setzte mich auf den flauschigen Fellteppich, während Finja mit wichtigem Gesichtsausdruck jedem von uns zwei Flaschen gab. »Wenn ich Los sage, dann müsst ihr so schnell wie möglich die Linsen und Erbsen aus der Schüssel nehmen und in die beiden Flaschen stecken«, erklärte sie. »Wer zuerst fertig ist, hat gewonnen und darf ab jetzt den Titel Cinderella Undercover tragen.«

      »Wieso denn undercover? Was für ein Quatsch!«, stöhnte Elric und ließ sich augenrollend zu uns auf den Boden sinken. »Außerdem hab ich keine Lust, den Namen irgendeiner blöden Prinzessin zu tragen. Dann will ich lieber Prinz Eisenherz heißen oder Artus!«

      »Aber die haben nun mal nix mit Linsen zu tun«, entgegnete Finja ungerührt und begann schon mal mit dem Sortieren.

      »Du bist aber heute streng«, sagte ich amüsiert und freute mich, dass der Freitagabend eine so unerwartet schöne Wendung genommen hatte. Ich liebte es, mit Finchen zu spielen, und ich mochte Elric – egal, wie bockig er sich gerade benahm. Das hier gab mir das Gefühl von Geborgenheit und davon, Teil einer Großfamilie zu sein. Deshalb genoss ich jede Minute.

      Den Brief an meinen Vater konnte ich immer noch am Sonntag schreiben.

      9. Lykke Pechstein

      (Freitag, 11. November 2011)

      Dear Diary,

      welch himmlische Ruhe, endlich!

      Marie lässt mal wieder ihrem Helfer-Syndrom freien Lauf, ist babysitten bei Julias Schicki-Familie und Ma ist auf einem Konzert. Sie trifft dort ihren alten Chef und will versuchen, ihn um einen Job anzugraben. Ich persönlich glaube ja nicht, dass das klappt, denn momentan trägt sie einen Stempel mit Großbuchstaben auf der Stirn: BIN VERZWEIFELT – KANN MICH JEMAND RETTEN? Nun ja, ist jetzt nicht zu ändern. Außerdem hab ich genug mit mir selbst zu tun, da kann ich mich nicht auch noch darum kümmern, was den Rest der family so umtreibt. (Die interessiert es ja schließlich auch nicht, wie es mir geht.) Also lese ich lieber schöne Gedichte und träume vor mich hin. Von einem besseren Leben, von einem besseren Ort – von einer besseren Welt. Wilhelm Busch (der ja sonst eher böse, böse ist – ich erinnere nur an die toten Hühner bei Max & Moritz) schreibt in seinem Herbstgedicht so poetisch von einem WUNDERLÄNDCHEN.

      Das klingt so traumhaft, so verheißungsvoll …

      Ob es in diesem Wunderland auch einen Platz für mich gibt? Einen Ort, wo Menschen leben, die mich so akzeptieren, wie ich bin? Mit all meinen Schwächen und Macken. Wo jeder einfach so sein darf, wie er sich fühlt.

      Und werde ich IHN dort treffen? Den einen, der für mich bestimmt ist, genauso wie ich für ihn? Der in mein Herz sieht wie kein anderer, und der meine Seele mit Blicken zu streicheln vermag? Einer, der mich beschützt und an meiner Seite ist, egal was passiert? Der weiß, was ich denke, bevor die Worte meine Lippen verlassen haben?

      Der weiß, wie ich fühle, noch bevor ich es selbst spüre?

      Einer, der mich festhält und nie, nie wieder loslässt …

      10. Marie Goldt

      (Montag, 14. und Dienstag, 15. November 2011)

      Das arme Mädchen musste sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und so viel spinnen, dass ihm das Blut aus den Fingern sprang. Nun trug es sich zu, dass die Spule einmal ganz blutig war, da bückte es sich damit in den Brunnen und wollte sie