Der Mann aus Samangan. Heidrun Wolkenstein

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Название Der Mann aus Samangan
Автор произведения Heidrun Wolkenstein
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347149496



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bist.“ Dann fuhren wir nach Hause. Ich fand kaum Schlaf. Wahrscheinlich bin ich irgendwann eingenickt und war trotzdem um 7.00 Uhr wieder wach. Glücklicherweise war Sonntag. Hellwach sprang ich aus dem Bett, machte mich im Bad frisch, um nicht wie ein Zombie auszusehen. Schnell trank ich noch eine Tasse Kaffee, schnappte Felix und fuhr mit ihm los, nachdem auch er seine Geschäfte verrichten konnte. Ich machte mich auf den Weg zu Farids Wohnung. Er hatte gesagt, dass er am frühen Morgen einem Freund helfen musste, also erwartete ich nicht, ihn dort zu treffen. Aber seine drei Freunde wollte ich treffen. Ich wollte wissen, was sie zu der Situation sagten und ich wollte ihnen erzählen, was mir Ismat und Samir in der Nacht erzählt haben. Fast eine Stunde entfernt, in einer kleinen Ortschaft, war die Wohnung der vier Jungs. Ich lief in den Innenhof – wieder ließ ich Felix im Auto zurück, schließlich hatte ich nicht vor, lange zu bleiben. Ich klopfte an die bescheidene Eingangstür und Hamid machte mir auf. Sie dachten, ich wäre Hamids und Arashs Chef, denn dieser wollte sie zum Arbeiten abholen. „Kann ich kurz mit euch reden?“, fragte ich. „Ja natürlich“, antwortete Hamid. „Aber Erich kommt gleich“. „Kein Problem“, entgegnete ich. „Ich will euch auch gar nicht lange aufhalten.“ Er ließ mich in die Wohnung hinein und da stand er plötzlich – in der Küche – ohne Shirt – Farid – mit seinem durchtrainierten Körper und nur mit einem weißen Badetuch um die Taille bekleidet. „Du bist hier?“, fragte ich überrascht. Schließlich hat er mir gestern gesagt, dass er früh weg musste. „Ja“, sagte er leise. „Ich habe bei meinem Freund die ganze Nacht gearbeitet und bin erst vor einer Stunde heimgekommen. Ich brauche doch Geld für meine Reise.“ Er kam zu mir und küsste mich sanft. Es war ihm egal, dass seine Freunde uns beim Küssen sehen konnten. Obwohl er mir einmal erklärt hat, dass man vor Afghanen nicht küsst. Wir setzten uns ins Wohnzimmer und wieder nahm ich auf der durchgesessenen, grünen Couch Platz. Aber diesmal war das Gefühl anders als beim letzten Mal. Nicht mehr so unbeschwert – im Gegenteil – es war diesmal sogar sehr schwer. Wir konnten nicht lange reden, weil Erich schon nach wenigen Minuten bei Hamid anrief, um ihm zu sagen, dass er vor der Tür wartete. „Komm einfach mit!“, meinte Hamid. „Heute ist Sonntag und wir haben nicht viel zu tun in dem Park. Die Saison hat noch nicht angefangen und die Leute kommen erst in ein paar Wochen.“

      Gerne wollte ich dieses Angebot annehmen, schließlich wusste ich sowieso nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Und natürlich kam Farid auch mit. Und so fuhren wir gemeinsam in den Park. Farid fuhr mit mir und Felix im Auto mit. Im Park konnte Felix wenigstens ein bisschen ohne Aufsicht herumlaufen. Erich hat einen Frühstückstisch vorbereitet und freute sich sehr, mich zu sehen. Schließlich habe ich ihm zwei wunderbare Arbeiter verschafft. Mir war nicht nach frühstücken und lustig sein. „Erich, können wir am Donnerstag frei haben, weil wir machen eine Abschiedsparty für Farid?“, fragte Hamid. Mir war so, als müsste ich gleich tausend Tode sterben, als er das sagte. Eine Abschiedsparty? Für Farid? Und ich war da nicht eingeladen? Warum eigentlich nicht? Viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Aber ich stellte diese Fragen nicht. Ich wollte mich nicht aufdrängen. Wenn er mich nicht bei der Party dabeihaben wollte, dann konnte ich auch nichts machen. Trotz aller Beherrschung, die ich von meinem Vater gelernt hatte, konnte ich mich an diesem Tag nicht mehr zurückhalten. Ich begann an diesem Frühstückstisch zu weinen. Mein Vater hat immer gesagt: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ Das sagte er immer, als ich noch klein war und meine Knie zerschunden waren, vom Sturz mit dem Fahrrad, oder weil ich über meine eigenen Beine gestolpert bin. Wenn mein Vater diesen Satz zu mir sagte, schluckte ich krampfhaft meine Tränen hinunter. Ich wollte meinen Vater nicht enttäuschen und unbedingt sein Indianer sein. Er sollte doch auf mich stolz sein! Vergebens dachte ich an diesen Satz, der meine Tränen früher immer ganz schnell zum Trocknen gebracht hat. Es gelang mir diesmal überhaupt nicht! Ich weinte und ließ alle Tränen los. Farid nahm mich in den Arm und Erich wusste nicht, was er sagen sollte. Niemand fand in dem Moment tröstende Worte für mich. Und plötzlich schämte ich mich auch nicht mehr für meine Tränen. Ich ließ sie einfach los. Alle waren ruhig an diesem Frühstückstisch. Niemand erklärte mir, dass es einen anderen Ausweg gab. Ich fühlte mich hoffnungslos verloren. Und obwohl ich Farid nicht lange kannte und auch noch nicht oft gesehen hatte, wusste ich, dass ich diesen Mann unendlich liebte. Ich spürte ganz tief in meinem Herzen, dass das mein Seelenverwandter war. Er war der Mann, den ich mir schon lange gewünscht und den ich oft in meinen Träumen gesehen habe. Er hatte alles – nicht nur sein gutes Aussehen – sondern auch seine Intelligenz, seinen Humor, seine Weisheit – ich liebte alles an ihm. Irgendwann an diesem Vormittag fuhr ich mit Felix nach Hause. Dunkle Augenringe, schmerzende Augen und zerzauste Haare ließen meinen Anblick sicher nicht gerade attraktiv erscheinen. Farid kam nicht mit mir mit. Ich wollte ihn auch nicht darum bitten. Den restlichen Tag verbrachte ich wie ferngesteuert und wie traumatisiert und ging früh schlafen. Was war das für ein schreckliches Jahr? Zuerst der Tumor, dann verliebe ich mich in jemanden, der nicht bleiben kann! Und von dem ich nicht einmal wusste, ob ich ihm überhaupt etwas bedeutete. Wie schlimm konnte dieses Jahr noch werden? Irgendwie spürte ich, dass mir dieses Jahr noch mehr Prüfungen auferlegen würde. Angst stieg in mir hoch. Die Angst, dass ich eventuell diese Prüfungen nicht bestehen konnte.

      3

      AUFBRUCHSTIMMUNG

      Ein paar Tage später besuchte ich meinen Vater. Ich liebte meinen Vater sehr. Er ist in den letzten Jahren erblindet, hatte Demenz und wurde schon seit dem Tod meiner Mutter vor neun Jahren, von Pflegerinnen aus Rumänien betreut. Durch seine Intelligenz gelang es ihm sehr lange, gegen das Fortschreiten der Demenz anzukämpfen. Wir hatten schon seit einigen Jahren zwei sehr liebe und verlässliche Pflegerinnen: Gabi und Elena. Diesmal war Elena bei ihm. „Adriana, ich muss mit dir reden“, sagte Elena, als ich gerade mal eine halbe Stunde dort war. Das klang nicht nach einer netten Unterhaltung und gerade jetzt in meiner Situation mit Farid und in meiner finanziellen und beruflichen Situation, sowie mit der Aufregung wegen des Tumors, konnte ich wirklich kein weiteres Problem brauchen. „Die beiden Katzen müssen weg!“, forderte Elena. „Wir müssen uns um deinen Vater kümmern! Die Pflege wird nicht einfacher. Und überall sind Katzenhaare! Ich kann mich nicht um die Katzen auch noch kümmern. Gabi sieht das genauso! Wir können gerne einen Videocall mit ihr machen.“ Elena ließ mich überhaupt nicht zu Wort kommen und rief sogleich Gabi über Messenger an.

      Es schien, als wäre Gabi gut vorbereitet auf dieses Gespräch gewesen, denn sie hob nicht nur gleich ab, sondern wusste sofort, worum es jetzt gehen sollte. „Elena hat Recht“, sagte Gabi. „Die Katzen sind nur Arbeit für uns. Dein Papa hat überhaupt nichts von den Katzen! Außerdem wollen wir mehr Geld. Wir sind beide schon einige Jahre bei euch und verdienen immer das gleiche. Wir sind beide gut ausgebildet und woanders zahlen sie auch mehr. Wir wollen mehr Geld haben. Ansonsten, es gibt genug andere Pflegerinnen und wir können auch einen anderen Arbeitsplatz haben.“ Dieses Gespräch überstieg nun wirklich meine Kräfte. Nicht nur, dass die geliebten Katzen meines Vaters weg sollten? Die beiden wollten auch mehr Geld haben? Ich zahlte von meinem Geld dazu, damit mein Vater in seiner Wohnung seine spezielle Betreuung haben konnte und jetzt sollte ich noch mehr zahlen? Das war mir überhaupt nicht möglich! Am liebsten hätte ich geschrien vor Verzweiflung. Am liebsten hätte ich mich irgendwo hinuntergestürzt, weil ich dieses Leben mit all seinen Schwierigkeiten, die derzeit so geballt auf mich einprasselten, nicht mehr aushalten konnte. Aber wieder dachte ich daran, dass ein Indianer keinen Schmerz kennt und wieder beherrschte ich mich, obwohl ich innerlich kochte vor Enttäuschung und Verzweiflung.

      Nach dem Gespräch ging Elena einkaufen und ich war mit meinem Vater allein. „Was sagst du dazu?“, fragte ich Paps. „Warum hast du jetzt nichts gesagt? Die beiden wollen, dass ich deine Katzen weggebe!“ Paps wirkte verstört. Er hatte die ganze Zeit nichts gesagt, obwohl er genau gehört hatte, was Elena und Gabi mit mir besprochen haben. „Meine Katzen bleiben da“, sagte er bestimmt, aber verunsichert. „Dann müssen eben andere Pflegerinnen hierher kommen“, ergänzte er. Und genau das war die Antwort, die ich für meine Entscheidung gebraucht habe. In dem Moment entschied ich mich dafür, die Katzen zu behalten und eine Agentur zu engagieren, damit Gabi und Elena ihr Glück bei einer anderen Familie finden konnten. Meine Entscheidung stand fest und noch am selben Tag rief ich bei einer Pflegeagentur an und teilte erst ein paar Tage später den beiden mit, dass sie sich eine andere Arbeit suchen mussten. Sie waren schockiert, denn sie hatten mit dieser Entscheidung nicht gerechnet. Hätte ich nur einen