Gesang der Fledermäuse. Olga Tokarczuk

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Название Gesang der Fledermäuse
Автор произведения Olga Tokarczuk
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701231



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das Herz oder gar das Gehirn. Das sind nur Organe, ohne Bedeutung. Auch wenn diese Bedeutung immer überschätzt wird. Doch es sind die Füße, in denen das ganze Wissen zum Thema Mensch liegt. Der wichtigste Sinn dessen, was uns wirklich ausmacht, fließt aus dem Körper in die Füße. Wie wir uns der Erde gegenüber verhalten. In der Berührung mit der Erde, dort wo die Erde auf den Körper trifft, steckt das ganze Geheimnis: dass wir aus den Grundelementen der Materie gebaut und gleichzeitig dieser Erde fremd sind, losgelöst von ihr. Die Füße – das sind unsere Kontaktstecker. Und jetzt waren diese nackten Füße für mich der Beweis, dass Bigfoot woandersher stammen musste. Er konnte kein Mensch sein. Es musste sich um eine namenlose Form handeln, eine von denen, die – wie unser Blake sagt – Metalle in der Unendlichkeit auflöst, ihre Ordnung in Chaos verwandelt. Vielleicht war er so etwas wie ein Dämon. Dämonische Wesen kann man immer an den Füßen erkennen, sie haben eine andere Art, wie sie der Erde ihren Stempel aufdrücken.

      Diese Füße, lang und schmal, mit ihren schlanken Zehen, mit ihren schwarz umrandeten, eingewachsenen Nägeln, schienen Greiforgane zu sein. Die große Zehe stand etwas von den anderen ab, wie ein Daumen. Sie waren dicht und schwarz behaart. Hat irgendwer so etwas schon gesehen? Matoga und ich wechselten einen Blick.

      Im fast leeren Schrank fanden wir einen kaffeebraunen Anzug, er hatte ein paar Flecken, schien aber sonst kaum getragen. Ich hatte Bigfoot nie darin gesehen. Er lief immer in Filzstiefeln und verschlissenen Hosen herum, dazu ein kariertes Hemd und eine Steppweste, egal zu welcher Jahreszeit.

      Das Ankleiden des Verstorbenen erinnerte mich an Liebkosungen. Ich glaube nicht, dass Bigfoot zu Lebzeiten je irgendwelche Zärtlichkeiten erfahren hatte. Wir hoben ihn vorsichtig an den Schultern hoch, um ihn anzuziehen. Sein Gewicht drückte auf meine Brust, und eine Welle natürlichen Ekels überlief mich. Mir wurde übel. Doch dann kam es mir plötzlich in den Sinn, diesen Körper an meinen zu drücken, ihm auf den Rücken zu klopfen und etwas Beruhigendes zu sagen: Mach dir nichts draus, wird schon wieder. Ich tat es nicht, mit Rücksicht auf Matoga. Es wäre ihm wahrscheinlich irgendwie pervers vorgekommen.

      Die nicht ausgeführte Geste verwandelte sich in einen Gedanken. Bigfoot tat mir leid. Vielleicht hatte ihn seine Mutter ausgesetzt, und er war sein ganzes trauriges Leben lang unglücklich gewesen. Langjähriges Unglücklichsein zerstört einen Menschen mehr als eine tödliche Krankheit. Ich hatte bei ihm nie Gäste gesehen, weder Familienmitglieder noch Freunde kamen zu ihm. Nicht einmal die Pilzsammler blieben bei seinem Haus stehen, um ein wenig zu plaudern. Die Leute hatten Angst vor ihm, keiner mochte ihn. Offenbar unterhielt er nur mit den Jägern ein wenig Kontakt, wenn auch selten. Ich glaube, er war um die fünfzig, ich hätte viel gegeben, um sein achtes Haus zu sehen, ob es da bei ihm nicht zufällig irgendwelche miteinander vermischten Aspekte von Neptun und Pluto und Mars im Aszendenten gab. Mit der Kettensäge in seinen Händen hatte er immer an ein Raubtier erinnert, das nur lebt, um den Tod zu säen und Leiden zuzufügen.

      Um ihm die Jacke anzuziehen, hievte ihn Matoga in die Sitzposition, und da sahen wir seine große geschwollene Zunge und dass er noch etwas anderes im Mund hatte. Ich zögerte. Doch dann biss ich die Zähne zusammen und griff, vor Ekel schaudernd, vorsichtig nach der Spitze dieses Etwas, wobei meine Hand immer wieder zurückzuckte. Endlich hielt ich zwischen den Fingern einen kleinen Knochen, lang und dünn, spitz wie ein Stilett. Den leblosen Lippen entfuhr ein kehliges Glucksen und etwas Luft, ein leises Pfeifen, fast wie ein Seufzer. Wir schreckten beide vom Toten zurück, und sicher fühlte Matoga dasselbe wie ich: nacktes Entsetzen. Besonders, als kurz darauf aus seinem Mundwinkel ein wenig dunkelrotes, fast schwarzes Blut quoll. Es war etwas Unheilvolles, das aus ihm heraussickerte.

      Wir erstarrten wie im Schock.

      »Also das war es.« Matogas Stimme zitterte. »Er ist erstickt. An einem Knochen erstickt. Der Knochen ist ihm im Hals stecken geblieben. Er hat ihn nicht rausgekriegt, und er ist daran erstickt.« Nervös wiederholte er den gleichen Satz ein ums andere Mal. Und dann, als wolle er sich selbst beruhigen: »An die Arbeit. Es ist nicht angenehm, aber die Pflicht gegenüber dem Nächsten ist nun einmal selten angenehm.«

      Er hatte sich zum Befehlshaber dieser Nachtschicht ernannt, und ich fügte mich.

      Wir konzentrierten uns nun auf die undankbare Aufgabe, Bigfoot in den kaffeebraunen Anzug zu stecken und ihn in eine würdige Position zu lagern. Ich hatte lange keinen fremden Körper berührt, schon gar keinen Toten. Ich spürte, wie die Starre ihn mehr und mehr durchdrang, wie sein Körper von Minute zu Minute versteinerte. Wir beeilten uns. Und als Bigfoot bereits im Sonntagsanzug vor uns lag, verlor sein Gesicht endgültig seinen menschlichen Ausdruck: Nun war er ein Leichnam, daran bestand kein Zweifel mehr. Allein der rechte Zeigefinger wollte nicht gehorchen und in der traditionellen Position brav gefalteter Hände bleiben. Er ragte nach oben, als wolle er damit unsere Aufmerksamkeit erregen, als wolle er unsere nervösen, hastigen Anstrengungen unterbrechen. »Und jetzt aufgepasst!«, sagte der Finger. »Jetzt passt mal auf, denn hier ist etwas, was ihr nicht seht, es ist der wesentliche Ausgangspunkt eines Prozesses, der euch verborgen ist, und er ist höchst bemerkenswert. Ihm ist es zu verdanken, dass wir uns alle an diesem Ort eingefunden haben, zu dieser Zeit, in diesem kleinen Haus auf dem Hochplateau, tief im Schnee, tief in der Nacht. Ich als toter Körper, und ihr, zwei ältliche Menschenwesen, die keinerlei Bedeutung haben. Doch das ist erst der Anfang. Erst jetzt geht alles richtig los.«

      Matoga und ich standen in der feuchtkalten Kammer, in dieser frostigen Einöde, in dieser grauen Stunde, und ich dachte, dass dieses Etwas, das aus einem toten Körper ausfährt, ein Stück Welt mit sich fortnimmt. Ganz egal, ob böse oder gut, schuldbeladen oder makellos, was zurückbleibt, ist ein großes Nichts.

      Ich blickte durchs Fenster. Der Morgen graute, und langsam füllte sich dieses Nichts mit behäbigen Schneeflocken. Sie fielen gemächlich, sie drehten sich in der Luft um die eigene Achse wie Federn.

      Bigfoot war von uns gegangen, also konnte man ihm gegenüber schwerlich Wut oder Groll hegen. Nur sein Körper war geblieben, tot, in einen Anzug gesteckt. Er schien jetzt ruhig und zufrieden zu sein, als freute sich sein Geist über die Befreiung von der Materie und als freute sich die Materie über die Befreiung von seinem Geist. In kurzer Zeit hatte sich eine metaphysische Scheidung vollzogen. Schluss.

      Wir setzten uns in die Küche, und Matoga nahm eine halbvolle Wodkaflasche vom Tisch. Er fand zwei saubere Gläser und schenkte ein, erst mir, dann sich selbst. Durch das zugeschneite Fenster sickerte langsam das Morgengrauen, milchig wie Krankenhauslicht, und in diesem Licht sah ich, dass Matoga unrasiert war und seine Bartstoppeln genauso grau waren wie mein Haar, ich sah seinen verwaschenen, blauweiß gestreiften, schlabberigen Pyjama unter seinem Schaffellmantel, und ich sah alle möglichen Flecken auf dem Mantel.

      Ich trank ein großes Glas Wodka, und mein Inneres erwärmte sich.

      »Ich glaube, wir haben ihm gegenüber unsere Pflicht getan. Wer sonst hätte es tun sollen?« Matoga sprach mehr zu sich selbst als zu mir. »Er war ein armer kleiner Dreckskerl, aber was soll’s?«

      Er schenkte sich noch ein Glas ein, kippte es hinunter und schüttelte sich angewidert. Er hatte sichtlich keine Übung darin.

      »Ich gehe telefonieren.« Er ging hinaus, vielleicht war ihm schlecht geworden.

      Ich stand auf und inspizierte das entsetzliche Durcheinander in der Hoffnung, irgendwo Bigfoots Personalausweis mit seinem Geburtsdatum zu finden. Das wollte ich wissen, ich wollte seine Rechnungen überprüfen.

      Auf dem mit verschlissenem Wachstuch bedeckten Tisch stand eine Pfanne mit den gebratenen Stücken eines Tieres, und im Kochtopf daneben schlummerte unter einer weißen Fettschicht eine Rote-Bete-Suppe. Eine abgeschnittene Brotscheibe, Butter in goldener Folie. Auf dem mit abgetretenem Linoleum ausgelegten Boden lagen noch weitere Tierreste, die mit dem Teller auf den Boden gefallen waren, auch Gläser und Kekskrümel. Alles war auf dem schmutzigen Boden zertrampelt und verschmiert.

      Plötzlich fiel mein Blick auf etwas, das mein Gehirn erst nach längerem Hinsehen erkannte, weil es sich dagegen wehrte: Auf einem Blechtablett auf der Fensterbank lag ein sorgfältig abgetrennter Rehschädel. Daneben vier Rehbeine. Die halb offenen Augen hatten unser Hantieren die ganze Zeit aufmerksam verfolgt.

      Es war eines