Название | ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG |
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Автор произведения | Gisbert Haefs |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957659132 |
Sie haben den Ausdruck gelesen und wahrscheinlich zumindest teilweise verstanden. Ich weiß, dass sie sich gerne einfältiger geben, als sie tatsächlich sind. Und ja: Es ist genau das, was es zu sein scheint. Es ist unser aller Totenschein. Blanko sozusagen.
Die Analyse des Verstorbenen Malik Perwane ergab im Bereich des Nervensystems eine auffällige Anlagerung von leitenden Metallen. Silber, Eisen … die üblichen Verdächtigen, wenn es um elektrische Leitfähigkeit geht. Konzentration im Nanobereich; der Prozess läuft, seit der HealthChip eingesetzt wurde. Wahrscheinlich ist das bei uns allen der Fall. Besonders hoch ist die Konzentration im Bereich des Stammhirns – dort werden die unwillkürlichen Prozesse des Körpers gesteuert: Herztätigkeit, Atmung und so weiter.
Solange wir im weitesten Sinne produktiv sind – also Mehrwert schaffen –, geschieht überhaupt nichts. Sobald aber der soziale Index ins Negative abrutscht, startet das Programm. Sie werfen keinen Gewinn mehr ab? Dann sind Sie überflüssig.
Ich bin nicht sicher, ob Sie wissen, was NEMS sind. Nano-Electro-Mechanical Systems. Nichts anderes, als Nanogeneratoren, die Elektrizität erzeugen. Wenn also der Befehl kommt, erzeugen diese Nanokraftwerke elektrische Impulse, die die Leiterbahnen des vegetativen Nervensystems blockieren. Die Aktionspotenziale werden ausgebremst – und Sie sterben. Ihr Herz weiß nicht, dass es schlagen soll, Ihre Atemmuskulatur nicht, dass Sie Sauerstoff brauchen.
Es ist so perfide. Sie … wir denken uns selbst zu Tode. Das geschieht nicht automatisch. Aber irgendwann beantworten Sie unbewusst die Frage, ob Sie gerne sterben wollen, positiv. Wenn die depressive Phase stark genug ist …
Seit etwa fünfzehn Jahren ist Suizid nicht mehr strafbar. Die Beihilfe auch nicht, geschweige denn, eine Dienstleistung.«
Sperling lachte bitter. »Oh, ja, sie sorgen gut für uns! Zu unserem Besten.
Der Chip, den ich dem Toten entnahm, war zunächst offline. Später ergab sich eine Verbindung und das komplette Protokoll wurde an Healthcare übermittelt. Der Inhalt des Chips wurde sofort gelöscht. Aber sie haben ohne Frage mitbekommen, dass der Chip hier ausgelesen wurde – und meine GPS-Verortung erfolgt standardmäßig. Wie bei uns allen. Sie wissen, wo wir wann wie lange sind. Was wir tun, was wir lassen, was wir wollen oder uns wünschen.
Sie haben den Prozess bereits freigeschaltet.
Wissen Sie, was eine selbsterfüllende Prophezeiung ist? Ich bin sicher, wir sehen uns nicht wieder.«
Das Bild verschwand. Wie Sperling selbst.
Venter fror.
›Ich bin mein Richter und mein Henker. Alles zu meinem Besten‹, dachte er niedergeschlagen.
Er war gläsern, wie alle anderen. Alles war transparent und entsprach den Vorschriften und Regeln. Niemand wurde zu etwas gezwungen.
Wer konnte wissen, welchen Status ihm die Gemeinschaft noch zubilligt? Niemand. Er würde diesen Gedanken nie wieder loswerden. Und irgendwann würde er deprimiert genug sein.
Das war nur eine Frage der Zeit.
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Ein Dienst Ihrer zuständigen Krankenkasse.
Sie wissen, dass Sie nutzlos sind.
Möchten Sie Ihr Leben beenden?
VOTE: Yes / No
Martina Schleich: Trautes Heim
Am 1. Januar 2084 war Julian Bäumler eingezogen, aber er hasste das Haus von Anfang an.
Seine Aversion ging so weit, dass er sich beinahe geweigert hätte, die kostenfreie Bleibe anzunehmen. Lediglich die Überlegung, sich als illoyaler Mitarbeiter zu outen und zu riskieren, als »undankbares und gefährliches Subjekt« und »eliminierungswürdig« eingestuft zu werden, hielt ihn dann davon ab, das Geschenk abzulehnen.
Niemand durfte von dem Abscheu erfahren, den das Häuschen ihm einflößte, das auf jeden Nichteingeweihten einen ganz normalen Eindruck machte: Ein moderner Neubau im Bungalowstil, vier Zimmer, Küche, Bad, nebst Abstellraum, dazu ein hübscher kleiner Garten – davon konnte ein Alleinstehender im Jahr 2084 nur träumen!
Seine wenigen Bekannten klopften ihm auf die Schulter und beglückwünschten ihn zu seinem großzügigen Arbeitgeber.
»Freu dich drüber! Das beweist, dass du den beruflichen Aufstieg geschafft hast«, meinte sein bester Freund ahnungslos.
Julian teilte diese Ansicht nicht. Sein altes Zuhause hatte ihm vollauf genügt und einen Garten brauchte er erst recht nicht.
Nur das Allernötigste an Möbeln und Hausgerätschaften schaffte er sich an – ganz so, als zöge er sehr bald und vor allem sehr schnell wieder aus.
Alles, was mit der ominösen »Gesellschaft«, für die er tätig war, zusammenhing, war topsecret und wer glaubte, so altmodischen Begriffen wie »Demokratie« und »Mitbestimmung« verpflichtet zu sein, landete nicht auf der Straße (das wäre ja noch zu verschmerzen gewesen), sondern verschwand sang- und klanglos. Vor allem spurlos und dauerhaft.
Julian Bäumler war nicht dumm. Zahllose Beispiele, wie man mit Menschen umging, die sich gegen Manipulation und beschnittene Bürgerrechte wehrten, widerten ihn an, aber ängstigten ihn auch zugleich.
Dass das Haus nicht herkömmlich gebaut, sondern aus einem brandneuen, unter größter Geheimhaltung entwickelten Kunststoff errichtet war, wusste er als am Rande damit befasster Chemiker ganz genau. Auch die dahinter stehende Intention war ihm bekannt:
Die Bausubstanz sollte langsam, aber sicher, dank neu entwickelter, integrierter Module auf das Gehirn der Bewohner dergestalt einwirken, dass diese zunehmend unkritisch wurden, dafür leicht lenkbar und mit allem einverstanden, was als Weisung »von oben« kam…
Im Augenblick befand man sich in der Testphase der zwölf neuen Wohngebäude. Julian argwöhnte, die Bosse hätten bewusst Firmenangestellte ausgewählt, die als »etwas schwierig« galten. Anders ausgedrückt: Herz und Hirn waren durch Propaganda und Korruption noch nicht verdorben, sondern gehorchten noch dem gesunden Menschenverstand sowie etwas so Altmodischem – und das galt besonders für ihn – wie einem Gewissen.
Letzteres galt als äußerst »staatsgefährdend« und war sukzessive zu vernichten. Julian musste beim Aushebeln der Regierungspläne daher listig sein.
Der Spagat zwischen kontraproduktiver, subversiver Tätigkeit und geheucheltem Gehorsam forderte ihn tagtäglich heraus, sodass er abends erledigt und todmüde auf seine Matratze sank und anfangs von den leeren Wänden seiner Behausung keinerlei Notiz mehr nahm.
Obwohl nahezu überzeugt, allen Beschäftigten würden von der Betriebsleitung Medikamente im Essen verabreicht, die das Denkvermögen in deren Sinn in irgendeiner Art und Weise beeinflussten, konnte Julian sich nicht entschließen, für sich selbst zu kochen. Er schlang sogar das kostenfreie Abendessen, das auf Wunsch in der Betriebskantine ausgegeben wurde, hinunter.
In Bäumlers Küche stand lediglich ein billiger kleiner Getränkekühlschrank, worin er hauptsächlich Gin aufbewahrte – dem er vor dem Schlafengehen eifrig zusprach, um seine desillusionierten Gedanken zu betäuben.
Irgendwann spürte er, dass nicht nur er das Haus verabscheute, sondern dass das Haus auch ihn mit Hass und Abscheu verfolgte. Es schien ihm