Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Heiko Kleve

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Название Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe
Автор произведения Heiko Kleve
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783849782160



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bzw., sollte sie versucht werden, pervertiere die innere Logik und destruiere die konstruktive und kreative Kraft der unsichtbaren Hand des Wirtschaftssystems (grundsätzlich dazu etwa von Hayek 1944). Wichtig sei demgegenüber, dass Individuen und Unternehmen den evolutionären Charakter des wirtschaftlichen Marktes erfahren, dass sie, mit anderen Worten, die Effekte ihrer Handlungen spüren, also diesbezüglich entweder positiv oder negativ sanktioniert werden. Und so treten die klassischen und neuen Liberalen dafür ein, dass der Zusammenhang von Handeln und den Effekten des Handelns nicht durch staatliche Regulierungen außer Kraft gesetzt wird. Wer risikoreich handelt, der muss auch die Folgen dieses Handelns verantworten. Dies generiere Lernen am Markt und stärke die Verantwortung der Akteure.

      Somit wird von neoliberaler Seite beispielsweise auch die staatliche Bankenrettung oder die Griechenlandhilfe grundsätzlich kritisiert und als staatliche Pervertierung der Marktwirtschaft angeprangert. Begrüßt wird dementsprechend andererseits, wenn der Sozialstaat diejenigen stärker in die Verantwortung nimmt, die von staatlichen Transferleistungen leben; denn das Ziel müsse darin bestehen, diese Menschen wieder in die autonome Position eigener Produktivität zu führen. Demnach teilen die Neoliberalen einen sozialpolitischen Leitsatz, den auch die etablierten Parteien vor sich hertragen: »Sozial ist das, was Arbeit schafft.«

      Die benannte unsichtbare Hand des Marktes, die Eigennutz in Gemeinnutz transformiere, habe schließlich mit der Marktsituation grundsätzlich zu tun: Denn die Unternehmen sind dadurch aufgefordert, das zu produzieren und anzubieten, was durch die unzähligen Kaufakte der Kunden tatsächlich nachgefragt wird; genau dies drückt sich bei Erfolg in den unternehmerischen Gewinnen aus und bei Misserfolg eben nicht. Für die individuellen Kunden heißt das, dass sie die Angebote dort nachfragen, wo am ehesten die angestrebte Nutzenmaximierung mit dem Konsum von Gütern und Dienstleistungen zu realisieren ist – beim gleichzeitigen Versuch, dies so preisgünstig wie möglich zu erreichen. Und der Preis wiederum wird im Liberalismus nicht (wie im Marxismus) objektiv zu bestimmen versucht (etwa über die »vergegenständlichte Arbeit« in der Ware), sondern als subjektive und soziale Wertkonstruktion verstanden: Der Preis einer Ware ist so hoch, wie es der Zahlungsbereitschaft von Kunden entspricht. Diese Zahlungsbereitschaft hängt von den individuellen Präferenzen der Bedürfnisbefriedigung ab.

      Diese hier nur äußerst knapp angerissene Dynamik des wirtschaftlichen Marktes, der sich über Angebot und Nachfrage, über den Preismechanismus sowie über das Nutzen- und Gewinnstreben von Unternehmen und individuellen Kunden strukturiert, gilt als ein Kernprinzip des klassischen wie neueren Liberalismus. Besonders elaboriert hat diese Dynamik des Marktes in einer komplexen Gesellschaft der Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek beschrieben, der auch als zentrale Figur des Neoliberalismus gilt. Er trat für eine Gesellschaft ein, in der sich sowohl die Individuen als auch die Wirtschaft so frei wie möglich entfalten können – bei gleichzeitiger rechtlicher Rahmensetzung dieser Entfaltung durch den Staat. Seine Metapher war, den Staat als Gärtner zu verstehen, der für förderliche Rahmenbedingungen sorge, damit sich die individuellen und wirtschaftlichen Kräfte ausbreiten können, der aber nicht versuchen sollte, in diese Prozesse determinierend, steuernd oder überregulierend einzugreifen (von Hayek 1974). Denn dies würde die wirtschaftliche Eigenlogik pervertieren, keine Lösungen, sondern zahlreiche neue, nicht intendierte Probleme produzieren.

       1.4Systemtheorie als komplexer Liberalismus

      Sowohl der Marxismus als auch der Neoliberalismus gehen davon aus, dass die Wirtschaft das dominierende gesellschaftliche System sei. Daraus werden dann zwar unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen, aber Einigkeit besteht in dem Primat der Wirtschaft. Hier setzt die Systemtheorie einen anderen Akzent. Sie anerkennt die große Leistung von Marx, der deutlich beschrieben hat, dass sich der Anbruch der modernen Gesellschaft durch die Etablierung einer Speziallogik des Sozialen kennzeichnen lässt, erweitert diese Beobachtung jedoch um weitere gesellschaftliche Systeme mit speziellen Logiken. Zugleich sieht die Systemtheorie, dass es sich dabei um Systeme handelt, die sowohl in autonomer, selbst organisierter, spezieller, sich gegenseitig abgrenzender Weise als auch aufeinander angewiesen, voneinander abhängig agieren. Dies wird als Parallelität von Autopoiesis und struktureller Koppelung beschrieben (siehe grundsätzlich dazu Luhmann 1997).

      Das, was in der marxistischen Kritik als defizitär und als Entfremdung von menschlichen Bedürfnissen erklärt und bewertet wird, dass sich gesellschaftliche Systeme etablieren, die vom Menschen geschaffen wurden, aber von ihm nicht mehr kontrollierbar sind, anerkennt die Systemtheorie als das spezifische Merkmal der modernen Gesellschaft. Im Neoliberalismus wird diesbezüglich davon gesprochen, dass Menschen diese Systeme (insbesondere die Marktkräfte der Wirtschaft) durch ihr Handeln zwar schaffen, dass sie die Systeme aber nicht zielgerichtet entwerfen oder planen können – vielmehr entstehen sie unwillkürlich, wenn Menschen zusammenkommen, wenn sich, mit der Systemtheorie gesprochen, Soziales durch Kommunikation generiert. Und dies geschieht ungeplant: Sobald Menschen miteinander interagieren, bilden sich hinter ihrem Rücken Muster, Strukturen, Ordnungen, mit anderen – systemtheoretischen – Worten: reduziert sich die Komplexität aller denkbaren Möglichkeiten auf ein psychisch, physisch und sozial verarbeitungsfähiges Maß. Und genau dies vollzieht sich ungeplant und spontan.

      Die Systemtheorie geht davon aus, dass sich nicht nur die Wirtschaft in dieser Weise vollzieht. Sondern auch alle anderen Funktionen, die in einer Gesellschaft realisiert werden müssen, verwirklichen sich eigenständig, eigendynamisch, spontan, mithin unwillkürlich hinter dem Rücken der Akteure: etwa der Umgang mit Macht (Politik), die Regeln des sozialen Zusammenlebens (Recht), die Verbreitung von Informationen (Massenmedien), die Erziehung und Bildung, die Produktion des neuen und anschlussfähigen Wissens (Wissenschaft) oder das organisierte Helfen. So wird von einer funktional differenzierten Gesellschaft gesprochen, die sich angesichts der Ausbreitung der digitalen Medien, der vernetzten Computer zunehmend zu einer beschleunigten Netzwerkgesellschaft transformiert (Baecker 2007). Das bedeutet, dass die genannten Systeme in ihrer jeweiligen Eigendynamik hoch irritierbar geworden sind durch das, was in den jeweils anderen Systemen geschieht. Politik und Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, Massenmedien und Bildung – alle diese Systeme ermöglichen und begrenzen sich zugleich. Sie können sich nicht nicht beeinflussen, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich gegenseitig zu determinieren.

      Weder die Wissenschaft noch die Politik, weder die Bildung/Erziehung noch die Massenmedien können die Wirtschaft steuern, planen oder regeln. Und dies gilt im Verhältnis aller Systeme zueinander entsprechend. Sie agieren eigendynamisch, aber angewiesen auf die Ressourcen (etwa Geld, Macht, Recht, Wissen, Information, individuelle Bildungsabschlüsse/Kompetenzen etc.) der jeweils anderen. Daher dominiert nicht nur die Wirtschaft über Geld die Gesellschaft. Wer kein Geld hat, ist arm dran, aber genauso diejenigen, denen es an Rechtsansprüchen fehlt; die keine Möglichkeiten haben, auf die politische Macht Einfluss zu nehmen; denen es an Wissen und Bildungsabschlüssen sowie an Kompetenzen fehlt; die nicht die notwendigen Informationen haben und/oder verarbeiten können, um sich in der unübersichtlichen Weltgesellschaft zu orientieren. Daher wird in der Systemtheorie davon ausgegangen, dass wir inzwischen in einer polyzentrischen Gesellschaft leben – jedes Funktionssystem kreist um sich selbst, ist sein eigenes Zentrum, beobachtet die Welt aus der jeweils eigenen Perspektive. Und auch dies kann nur als eine perspektivische Aussage daherkommen: als Beobachtung eines wissenschaftlichen Beobachters.

      Die Systemtheorie kann mit Nassehi (2015) als Sozialphilosophie eines komplexen Liberalismus verstanden werden, weil sie dreierlei leistet: Erstens beschreibt sie die Freiheiten und Abhängigkeiten der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Diese sind grundsätzlich in ihrer Eigendynamik frei, aber zugleich auf die Funktionsweise der anderen Systeme angewiesen, da sie sie als Ressourcenlieferanten benötigen. Zweitens lassen sich die Systeme nicht determinieren, nicht zentral steuern, sie agieren im Rücken der Akteure eigendynamisch und spontan. Und drittens können die Systeme über die Reflexion der eigenen Angewiesenheit hinsichtlich der jeweils anderen Systeme, also in ihren systemischen Kontexten, Selbststeuerungen und Selbstbegrenzungen vollziehen. Nichts anderes könne politische Gesellschaftssteuerung heute sein: die Funktionssysteme zur Selbststeuerung und Selbstbegrenzung anzuregen, sodass ihre jeweils hoch rationalen, hoch effektiven