LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2). Raymond Benson

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Название LICHT UND SCHATTEN (Black Stiletto 2)
Автор произведения Raymond Benson
Жанр Языкознание
Серия Black Stiletto
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958352919



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an ein paar Firmen geschickt, die einen Buchhalter und Wirtschaftsprüfer meines Kalibers suchen. Unglücklicherweise befinden sich die Sahnestücke außerhalb von Chicago. Ich kann nicht umziehen, solange meine Mutter in dem Pflegeheim wohnt, was meine beruflichen Möglichkeiten empfindlich eingrenzt.

      Niemand käme auf die Idee, dass die Judy Talbot von heute die Black Stiletto gewesen ist. Sie ist spindeldürr, hat weiße Haare, und dieser Lebensfunke, den ich nur zu gut an ihr kannte, ist verflogen. Alzheimer ist eine so furchtbare, bösartige Krankheit. Es hat ihr die Seele geraubt und eine zerbrechliche lebende Hülle zurückgelassen, die langsam stirbt. Wenn ich sie besuche, versuche ich fröhlich zu sein, aber es ist wahnsinnig deprimierend. Pflegeheime sind ohnehin deprimierend, aber wenn die eigene Mutter sich in einem befindet, macht es die Sache noch viel schlimmer.

      Sie kennt mich nicht mehr. Wenn ich in ihr Zimmer komme, hellt sich ihr Blick etwas auf. Sie weiß, dass ich jemand bin, den sie liebt, und der sie liebt, und das ist gut. Ich glaube nicht, dass sie versteht, welche Verwandtschaft zwischen uns besteht. Ich bin nicht sicher, ob sie sich daran erinnert, dass sie einen Sohn hat, auch wenn auf ihrer Kommode Bilder von mir in verschiedenem Alter stehen. Auf vielen davon sind wir zusammen zu sehen. Manchmal erinnere ich sie daran, dass ich ihr Sohn bin, und sie nickt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Konzept dahinter über ihren Verstand hinausgeht.

      Sie hat noch immer keine neue Zimmergenossin. Seit sie in Woodland aufgenommen wurde, gab es davon schon einige, aber irgendwie scheint sie alle zu überleben. Das ist mir ganz recht. Keine Ahnung, ob es für sie einen Unterschied macht, aber ich genieße die Privatsphäre, die wir auf diese Art haben. Ich kann die Musik spielen, die sie mag, ihr vorlesen oder alte Fotografien zeigen. Wenn ich darüber nachdenke, sind das alle alten Fotos, die wir besitzen. Die Aufnahmen wurden nach unserem Umzug nach Illinois gemacht. Sie sagt, dass ich in Kalifornien geboren wurde, aber ich war zu jung, um mich daran erinnern zu können. Ich habe flüchtige Erinnerungen an Fahrten mit dem Auto, Zwischenstopps in vielen Hotels, an das Leben in Appartements hier und da und dass wir schließlich nach Arlington Heights zogen. Zu der Zeit war ich noch im Vorschulalter. Als ich in die zweite Klasse ging, zogen wir in unser Haus – das noch immer zum Verkauf steht.

      Ich wünschte, sie hätte noch Fotos aus ihrem Leben als Judy Cooper. Ich würde gern wissen, wie ihre Brüder ausgesehen hatten. Ich habe keine Ahnung, ob mein Onkel John und Onkel Frank noch leben. Bis jetzt habe ich noch nichts unternommen, sie zu finden. Ich fürchte, ich könnte damit in ein Wespennest stechen. Ich müsste erklären, warum ich so lange gewartet hatte, um mit ihnen Kontakt aufzunehmen – dabei wusste ich ja noch nicht einmal, dass sie überhaupt existierten, bis ich Moms erstes Tagebuch gelesen hatte – und das würde eine Menge Fragen aufwerfen, die ich nicht beantworten könnte. Vielleicht gehe ich ja eines Tages das Risiko ein.

      Als ich in ihr Zimmer kam, saß Mom in dem Schaukelstuhl, den ich ihr zum Muttertag geschenkt hatte. Sie erfreut sich daran, das kann ich sehen, aber was immer ihr durch den Kopf geht, bleibt ein Mysterium. Sie schaukelt einfach nur und starrt mit leeren Augen aus dem Fenster.

      »Hi, Mom!«, versuchte ich so fröhlich wie möglich zu sagen.

      Sie sah zu mir herüber und zeigte mir ein Lächeln. »Hi!« Sie freute sich immer, mich zu sehen.

      »Wie geht es dir, Mom?«

      »Okay.« Mittlerweile war sie keine Frau vieler Worte mehr.

      »Hey, weißt du was? Ich habe einen Brief von Gina, den ich dir vorlesen kann. Du kennst doch Gina, deine Enkelin?«

      In ihren Augen flackerte es kurz, eine Erinnerung. Sie lächelte weiter. »Das ist schön«, antwortete sie. Ich bezweifelte, dass sie verstand, um wen es ging, also deutete ich auf Ginas Highschool-Foto, das ebenfalls in einem Rahmen auf der Kommode stand. »Das ist Gina.«

      Moms Lächeln wurde breiter. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob es bei ihr Klick gemacht hatte, aber ich wusste, dass sie stets gut auf Gina ansprach, wenn meine Tochter sie besuchte. Beinahe so, als würden die beiden eine gemeinsame Geheimsprache sprechen. Gina war als jüngeres Mädchen gut in Sport und im Turnen gewesen. Bevor meine Mom krank wurde, hatte sie ihrer Enkelin immer interessiert zugesehen. Dann begann Gina sich mehr für Schauspiel und Tanz zu interessieren und jetzt besucht sie die Juilliard.

      Ich zog den Brief hervor und las ihn laut vor. Gina hatte ihn an mich und »Oma Judy« adressiert.

      Gina hatte ihr erstes Jahr als frisch gebackene Studentin vor einem Monat begonnen. Sie schrieb, wie sehr es ihr auf der Juilliard gefiel. Ihre Fächer seien fordernd und sie arbeitet sehr hart. Sie ist unter der Woche von 8 Uhr morgens bis 11 Uhr abends in der Schule, besucht Unterrichtsfächer, Privatstunden und Theaterproben. Sie sagt, dass sie tonnenweise neue Freunde kennengelernt hätte und alles in bester Ordnung sei. Gina wohnte in der Meredith Willson Residence Hall, die nach dem Mann benannt wurde, der das Musical »The Music Man« komponierte, und teilt sich eine Suite mit sieben anderen Studenten.

      Zum Schluss schrieb Gina: »Gib Oma einen Kuss von mir und sag ihr, dass ich sie zu Weihnachten besuchen komme.« Also beugte ich mich zu ihr hinüber und küsste Mutter auf die Wange. Das ließ sie wieder lächeln, und ich könnte schwören, dass ihr ein wenig die Tränen kamen. Vielleicht bekam sie mehr mit, als ich dachte. Ich wusste es nicht.

      Ich wünschte, ich könnte Mutter den 8mm-Film zeigen und sehen, ob das ein paar von den Erinnerungen, die in den Untiefen ihrer grauen Zellen vergraben lagen, zutage förderte. Aber ich wusste aus Erfahrung, dass die Erwähnung der Black Stiletto ungewollte Reaktionen hervorrufen konnte. Das letzte Mal, als ich es versuchte, beunruhigte das Mom sehr. Man konnte unmöglich sagen, ob sie noch eine Ahnung davon hatte, dass sie einmal die Stiletto war. Bei Alzheimer ist es so, dass die Erinnerungen zwar noch da sind, das Gehirn aber keinen Zugang mehr zu ihnen finden kann. Ich glaubte, dass die Stiletto sich noch irgendwo auf einer Festplatte in ihrem Verstand befand, aber jede Erwähnung von ihr löste eine emotionale Reaktion aus, die offensichtlich sehr schmerzvoll war. Also ließ ich es sein und hörte damit auf, sie danach zu fragen.

      Nachdem Mom ihr Mittagessen zu sich genommen hatte, klopfte es an ihrer Tür. Eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, steckte ihren Kopf zur Tür herein. »Hallo, störe ich Sie gerade?«

      »Nein, kommen Sie herein.«

      Sie war jünger als ich, etwa um die vierzig, und trug einen weißen Laborkittel und ein Stethoskop um den Hals. Brünette Haare, etwa meine Größe, und die größten und blauesten Augen, die ich je gesehen habe. Ich schwöre … mein erster Gedanke? Sie war eine überaus gut aussehende Frau.

      »Ich bin Dr. McDaniel. Margaret McDaniel.«

      »Martin Talbot.« Dann erst wurde mir klar, wer sie war, und ich erhob mich rasch. »Oh, Sie müssen die neue Ärztin meiner Mutter sein.« Ich hatte gehört, dass Woodlands jemand Neuen angestellt hatte. Sie war nicht die Hausärztin meiner Mutter – nur jemand, der im Pflegeheim die Runde machte und »Empfehlungen« aussprach.

      »Das ist richtig.« Eine Schwester betrat hinter ihr das Zimmer, offensichtlich bereit, der Ärztin bei etwas zu helfen. Dr. McDaniel schüttelte mir die Hand und wandte sich dann an meine Mutter: »Hi Judy! Wie geht es Ihnen heute?«

      »Okay.«

      »Ich bin nur gekommen, um Ihren Blutdruck zu messen und nach Ihrem Dekubitus zu schauen.«

      Ich war überrascht. »Dekubitus?«

      Dr. McDaniels nickte. »Hat man es Ihnen nicht erzählt? Ihre Mutter hat sich an ihrem Gesäß wundgelegen. Aber es ist nichts Ernstes. Ich habe es bei meiner letzten Untersuchung bemerkt. Es ist nur eine sehr kleine Stelle, erst am Anfang, Mr. Talbot. Nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.«

      Niemand im Pflegeheim hatte irgendetwas davon erwähnt. Das gefiel mir nicht. »Okay«, war alles, was ich sagen konnte.

      »Sie sind ihr Sohn, nicht wahr?«

      »Ja.«

      »Ich bin froh, dass Sie da sind. Ich würde mich nach der Untersuchung gern mit Ihnen unterhalten. Könnten Sie kurz warten?«

      »Ich habe später noch einen Termin,