Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Название Gesammelte Werke von Gottfried Keller
Автор произведения Готфрид Келлер
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027225873



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umherirrten, mit zerzausten Mützen und furchtsam ihre Verhüllung an das Gesicht drückend, damit sie nicht erkannt würden. Anna empfand Mitleiden mit ihnen und beauftragte Rudolf den Harras und mich, den mißhandelten Fratzen einen Ausweg zu verschaffen, und so wurde ich meiner Rede enthoben. Dies störte übrigens nicht, da man gar nicht die Worte zählte und manchmal sogar die Schillerschen Jamben mit eigenen Kraftausdrücken verzierte, so wie es die Bewegung eben mit sich brachte. Doch machte sich der Volkshumor im Schoße des Schauspieles selbst geltend, als es zum Schusse kam. Hier war seit undenklichen Zeiten, wenn bei Aufzügen die Tat des Tell auf derbe Weise vorgeführt wurde, der Scherz üblich gewesen, daß der Knabe während des Hin- und Herredens den Apfel vom Kopfe nahm und zum großen Jubel des Volkes gemütlich verspeiste. Dies Vergnügen war auch hier wieder eingeschmuggelt worden, und als Geßler den Jungen grimmig anfuhr, was das zu bedeuten hätte, erwiderte dieser keck »Herr! Mein Vater ist ein so guter Schütz, daß er sich schämen würde, auf einen so großen Apfel zu schießen! Legt mir einen auf, der nicht größer ist als Euere Barmherzigkeit, und der Vater wird ihn um so besser treffen!« Als der Tell schoß, schien es ihm fast leid zu tun, daß er nicht seine Kugelbüchse zur Hand hatte und nur einen blinden Theaterschuß absenden konnte. Doch zitterte er wirklich und unwillkürlich, indem er anlegte, so sehr war er von der Ehre durchdrungen, diese geheiligte Handlung darstellen zu dürfen. Und als er dem Tyrannen den zweiten Pfeil drohend unter die Augen hielt, während alles Volk in atemloser Beklemmung zusah, da zitterte seine Hand wieder mit dem Pfeile, er durchbohrte den Geßler mit den Augen, und seine Stimme erhob sich einen Augenblick lang mit solcher Gewalt der Leidenschaft, daß Geßler erblaßte und ein Schrecken über den ganzen Markt fuhr. Dann verbreitete sich ein frohes Gemurmel, tief tönend, man schüttelte sich die Hände und sagte, der Wirt wäre ein ganzer Mann, und solange wir solche hätten, tue es nicht not! Doch ward der wackere Mann einstweilen gefänglich abgeführt, und die Menge strömte aus dem Tore nach verschiedenen Seiten, teils um anderen Szenen beizuwohnen, teils um sich sonst vergnüglich umherzutreiben. Viele blieben auch im Orte, um dem Klange der Geigen nachzugehen, welche da und dort sich hören ließen. Auf die Mittagsstunde machte sich aber alles bereit, auf dem Grütli einzutreffen, wo der Bund beschworen wurde, mit Weglassung der Schillerschen Stellen, die sich auf die Nacht bezogen. Eine schöne Wiese an dem breiten Strom, von ansteigendem Gehölz umschlossen, war dazu bestimmt, wie auch der Strom überhaupt den See ersetzen mußte und den Fischern und Schiffsleuten zum Schauplatz diente. Anna setzte sich zu ihrem Vater in das Gefährt, ich ritt nebenher, und so begaben wir uns gemächlich auf den Weg dahin, um als Zuschauer auszuruhen und ausruhend zu genießen. Auf dem Grütli ging es sehr ernst und feierlich her; während das bunte Volk auf den Abhängen unter den Bäumen umhersaß, tagten die Eidgenossen in der Tiefe. Man sah dort die eigentlichen wehrbaren Männer mit den großen Schwertern und Bärten, kräftige Jünglinge mit Morgensternen und die drei Führer in der Mitte. Alles begab sich auf das beste und mit vielem Bewußtsein, der Fluß wogte breit glänzend und zufrieden vorüber; nur tadelte der Schulmeister, daß die Jungen und die Alten bei der feierlichen Handlung keinen Augenblick die Pfeifen aus dem Munde täten und kaum Walter Fürst und Stauffacher die ihrigen beiseite getan hätten; Melchthal aber, der viel Geld mit dem Ochsenhandel verdiente, rauchte eine Zigarre, und der Pfarrer Rösselmann schnupfte unaufhörlich. Das störte in der Tat aber niemand als den Schulmeister, welcher weder rauchte noch schnupfte.

      Als der Schweizerbund unter donnerndem Zuruf des lebendigen Berges umher beschworen war, setzte sich die ganze Menge, Zuschauer und Spieler untereinandergemischt, in Bewegung; der größte Teil wogte wie eine Völkerwanderung nach dem Städtchen, wo ein einfaches Mahl bereitet und fast jedes Haus in eine Herberge umgewandelt war, sei es für Freunde und Bekannte, sei es für Fremde gegen einen billigen Zehrpfennig; denn so unbefangen, wie wir die Aufzüge des Stückes durcheinandergeworfen, hielten wir auch für gut, sie durch eine Erholungsstunde zu unterbrechen, um nachher die gewaltsamen Schlußereignisse mit desto frischerm Mute herbeizuführen. Der eigentliche Festwirt hatte in Betracht des ungewöhnlich warmen Wetters rasch den Markt, oder besser gesagt, den ganzen und einzigen innern Raum des Städtchens in einen Speisesaal umgeschaffen; lange Tischreihen waren errichtet und gedeckt für diejenigen der »Verkleideten« und sonstigen Ehrenpersonen, welche das gemeinsame Essen teilen wollten, die übrigen besetzten die Häuser und viele einzelne Tische, welche vor die Häuser gestellt waren. So gewann das Städtchen doch wieder das Ansehen einer einzigen Familie, aus allen Fenstern blickten die abgesonderten Gesellschaften auf die große Haupttafel, und diejenigen vor den Häusern sahen bald wie unregelmäßige Verzweigungen derselben aus. Den Stoff zu den lauten Gesprächen lieh die allgemeine Theaterkritik, die sich über alle Tische verbreitete und deren mündliche Artikel die Künstler selbst verfaßten. Diese Kritik befaßte sich weniger mit dem Inhalte des Dramas und mit der Darstellung desselben als mit dem romantischen Aussehen der Helden und mit der Vergleichung mit ihrem gewöhnlichen Behaben. Daraus entstanden hundertfache scherzhafte Beziehungen und Anspielungen, von denen kaum der Tell allein freigehalten wurde; denn dieser schien unangreifbar. Aber der Tyrann Geßler geriet in ein solches Kreuzfeuer, daß er in der Hitze des Gefechtes einen kleinen Rausch trank und seinen blinden Ingrimm bald auf sehr natürliche Weise darzustellen imstande war. Die heitersten Scherze veranlaßten die jungen Leute, welche in Frauentracht an der Tafel saßen. Es waren drei oder vier Bursche wie Milch und Blut, mit Sorgfalt gekleidet, und benahmen sich sehr züchtig und zimpferlich; während sie verliebter und kecker Natur und angehende Don Juans waren, ließen sie sich nun von ihren Kameraden, den ländlichen Kavalieren, spröde den Hof machen und ahmten aufs beste die Art sittsamer Frauen nach. Die wirklichen Mädchen betrachteten aus der Entfernung ziemlich wohlgefällig ihre neuen Rivalinnen; doch wenn die verkleideten Schälke plötzlich sich unter sie mischten und ein mädchenhaft vertrauliches Wort flüstern wollten, fuhren sie schreiend auseinander. Aber dies alles belustigte mich nicht sehr, da ich mich genug um Anna zu kümmern hatte. Sie saß am Ehrenplatze zwischen ihrem Vater und dem Regierungsstatthalter, gegenüber dem Tell und seiner wirklichen anwesenden Ehefrau. Nachdem sie schon ihrer reizenden und vornehmen Erscheinung wegen die allgemeine Aufmerksamkeit erregt, machte sich nun auch der ehrbare Ruf ihres Vaters, ihre feine Erziehung und im Hintergrunde ihr artiges Erbe geltend; ich mußte zu meiner großen Bekümmernis sehen, wie der Platz, wo sie saß, von allerhand hoffnungsvollen Gesellen belagert wurde, ja wie alle vier Fakultäten sich bestrebten, dem gravitätischen Schulmeister zu Gefallen zu leben. Ein frisch patentierter junger Doktor spielte den Erfahrenen, ein Jurist machte Witze, ein Vikarius verdrehte die Augen und sprach von der Poesie wie eine Kuh von der Muskatnuß (um das Sprichwort zu gebrauchen), und ein rationeller Landwirt, der die Philosophie vertrat, zog alle Augenblicke eine große Schweinsblase hervor, welche wenigstens funfzig Gulden in allen Silbersorten enthielt, und suchte mit starkem Gerassel einige Kreuzer, um einen Aufwärter zu bezahlen. Doch alle waren stattliche blühende Bursche mit einer behaglichen Zukunft; ich war arm und hatte einen Beruf gewählt, der nicht nur mit ewiger Armut verbunden war nach meinen eigenen Begriffen und zu meinem stolzen Vergnügen, sondern überhaupt bei allen diesen Leuten nichts gelten konnte, während der Stand eines jeden der vier Hoffnungsvollen, selbst wenn diese arm waren, großes Ansehen bei dem Volke genoß, wie alles, was es nach seinen Begriffen für notwendig hält und vom Staate kontrolliert oder besoldet sieht. Ich entdeckte daher zum ersten Mal mit Schrecken, welch einer geschlossenen Macht ich gegenüberstand. Anna war gegen alle gleich freundlich, so unbefangen und offen, wie ich sie gar nie gesehen und am wenigsten gegen mich; aber obgleich mich gerade das hätte beruhigen sollen und ich überdies die ungewöhnlich edle Denkart des Schulmeisters kannte, so wurde es mir doch ganz heiß, und ich beschuldigte sogleich die Weiber, daß sie unter dem Vorwande der Selbstverleugnung und des kindlichen Gehorsams es doch immer vorzögen, wenn auch unter heuchlerischen Tränen, sich unvermerkt dahin zu salvieren, wo guter Rat und Wohlstand wäre, und wenn sie eine Ausnahme machten, so geschähe das weniger aus Liebe als aus Eigensinn, welcher sich auch in Übertreibung und Ungebärdigkeit alsobald kundgebe! Doch kam mir kein Gedanke an einen besondern Vorwurf gegen Anna, weil mir alles achtungswert und notwendig schien, was sie tat oder je tun würde, und ich entschuldigte sie sogar im voraus, wenn sie etwa in den Fall geraten sollte, nach dem Willen ihres Vaters einem Angesehenen und Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich diese ganze mächtige Volksschaft zu sehr und fühlte mich nur unbedeutend und unnütz in diesem Augenblicke. Betrübt erhob ich mich von meinem Sitze, wo ich zufällig zwischen zwei fremde Personen geraten war, und schlenderte um die Tische herum, meine Vettern und