Название | Gesammelte Werke von Gottfried Keller |
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Автор произведения | Готфрид Келлер |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788027225873 |
Als der Schweizerbund unter donnerndem Zuruf des lebendigen Berges umher beschworen war, setzte sich die ganze Menge, Zuschauer und Spieler untereinandergemischt, in Bewegung; der größte Teil wogte wie eine Völkerwanderung nach dem Städtchen, wo ein einfaches Mahl bereitet und fast jedes Haus in eine Herberge umgewandelt war, sei es für Freunde und Bekannte, sei es für Fremde gegen einen billigen Zehrpfennig; denn so unbefangen, wie wir die Aufzüge des Stückes durcheinandergeworfen, hielten wir auch für gut, sie durch eine Erholungsstunde zu unterbrechen, um nachher die gewaltsamen Schlußereignisse mit desto frischerm Mute herbeizuführen. Der eigentliche Festwirt hatte in Betracht des ungewöhnlich warmen Wetters rasch den Markt, oder besser gesagt, den ganzen und einzigen innern Raum des Städtchens in einen Speisesaal umgeschaffen; lange Tischreihen waren errichtet und gedeckt für diejenigen der »Verkleideten« und sonstigen Ehrenpersonen, welche das gemeinsame Essen teilen wollten, die übrigen besetzten die Häuser und viele einzelne Tische, welche vor die Häuser gestellt waren. So gewann das Städtchen doch wieder das Ansehen einer einzigen Familie, aus allen Fenstern blickten die abgesonderten Gesellschaften auf die große Haupttafel, und diejenigen vor den Häusern sahen bald wie unregelmäßige Verzweigungen derselben aus. Den Stoff zu den lauten Gesprächen lieh die allgemeine Theaterkritik, die sich über alle Tische verbreitete und deren mündliche Artikel die Künstler selbst verfaßten. Diese Kritik befaßte sich weniger mit dem Inhalte des Dramas und mit der Darstellung desselben als mit dem romantischen Aussehen der Helden und mit der Vergleichung mit ihrem gewöhnlichen Behaben. Daraus entstanden hundertfache scherzhafte Beziehungen und Anspielungen, von denen kaum der Tell allein freigehalten wurde; denn dieser schien unangreifbar. Aber der Tyrann Geßler geriet in ein solches Kreuzfeuer, daß er in der Hitze des Gefechtes einen kleinen Rausch trank und seinen blinden Ingrimm bald auf sehr natürliche Weise darzustellen imstande war. Die heitersten Scherze veranlaßten die jungen Leute, welche in Frauentracht an der Tafel saßen. Es waren drei oder vier Bursche wie Milch und Blut, mit Sorgfalt gekleidet, und benahmen sich sehr züchtig und zimpferlich; während sie verliebter und kecker Natur und angehende Don Juans waren, ließen sie sich nun von ihren Kameraden, den ländlichen Kavalieren, spröde den Hof machen und ahmten aufs beste die Art sittsamer Frauen nach. Die wirklichen Mädchen betrachteten aus der Entfernung ziemlich wohlgefällig ihre neuen Rivalinnen; doch wenn die verkleideten Schälke plötzlich sich unter sie mischten und ein mädchenhaft vertrauliches Wort flüstern wollten, fuhren sie schreiend auseinander. Aber dies alles belustigte mich nicht sehr, da ich mich genug um Anna zu kümmern hatte. Sie saß am Ehrenplatze zwischen ihrem Vater und dem Regierungsstatthalter, gegenüber dem Tell und seiner wirklichen anwesenden Ehefrau. Nachdem sie schon ihrer reizenden und vornehmen Erscheinung wegen die allgemeine Aufmerksamkeit erregt, machte sich nun auch der ehrbare Ruf ihres Vaters, ihre feine Erziehung und im Hintergrunde ihr artiges Erbe geltend; ich mußte zu meiner großen Bekümmernis sehen, wie der Platz, wo sie saß, von allerhand hoffnungsvollen Gesellen belagert wurde, ja wie alle vier Fakultäten sich bestrebten, dem gravitätischen Schulmeister zu Gefallen zu leben. Ein frisch patentierter junger Doktor spielte den Erfahrenen, ein Jurist machte Witze, ein Vikarius verdrehte die Augen und sprach von der Poesie wie eine Kuh von der Muskatnuß (um das Sprichwort zu gebrauchen), und ein rationeller Landwirt, der die Philosophie vertrat, zog alle Augenblicke eine große Schweinsblase hervor, welche wenigstens funfzig Gulden in allen Silbersorten enthielt, und suchte mit starkem Gerassel einige Kreuzer, um einen Aufwärter zu bezahlen. Doch alle waren stattliche blühende Bursche mit einer behaglichen Zukunft; ich war arm und hatte einen Beruf gewählt, der nicht nur mit ewiger Armut verbunden war nach meinen eigenen Begriffen und zu meinem stolzen Vergnügen, sondern überhaupt bei allen diesen Leuten nichts gelten konnte, während der Stand eines jeden der vier Hoffnungsvollen, selbst wenn diese arm waren, großes Ansehen bei dem Volke genoß, wie alles, was es nach seinen Begriffen für notwendig hält und vom Staate kontrolliert oder besoldet sieht. Ich entdeckte daher zum ersten Mal mit Schrecken, welch einer geschlossenen Macht ich gegenüberstand. Anna war gegen alle gleich freundlich, so unbefangen und offen, wie ich sie gar nie gesehen und am wenigsten gegen mich; aber obgleich mich gerade das hätte beruhigen sollen und ich überdies die ungewöhnlich edle Denkart des Schulmeisters kannte, so wurde es mir doch ganz heiß, und ich beschuldigte sogleich die Weiber, daß sie unter dem Vorwande der Selbstverleugnung und des kindlichen Gehorsams es doch immer vorzögen, wenn auch unter heuchlerischen Tränen, sich unvermerkt dahin zu salvieren, wo guter Rat und Wohlstand wäre, und wenn sie eine Ausnahme machten, so geschähe das weniger aus Liebe als aus Eigensinn, welcher sich auch in Übertreibung und Ungebärdigkeit alsobald kundgebe! Doch kam mir kein Gedanke an einen besondern Vorwurf gegen Anna, weil mir alles achtungswert und notwendig schien, was sie tat oder je tun würde, und ich entschuldigte sie sogar im voraus, wenn sie etwa in den Fall geraten sollte, nach dem Willen ihres Vaters einem Angesehenen und Reichen ihre Hand zu geben. Auch achtete ich diese ganze mächtige Volksschaft zu sehr und fühlte mich nur unbedeutend und unnütz in diesem Augenblicke. Betrübt erhob ich mich von meinem Sitze, wo ich zufällig zwischen zwei fremde Personen geraten war, und schlenderte um die Tische herum, meine Vettern und