Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер

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Название Gesammelte Werke von Gottfried Keller
Автор произведения Готфрид Келлер
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027225873



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oder physische Gewalt antut wegen dessen, was er nur glaubt oder behauptet, aber nicht weiß, gibt mit jedem Gewaltstreiche sich selbst eine Ohrfeige, und dieser geheime Übelstand verleiht solchem Streite den schmerzlichen, bitterlichen und fanatischen Charakter, den Religionskriegen das vertrackte hypochondrische Ansehen.

      Ketzer braten ist ein durchaus hypochondrisches, trübsinniges Vergnügen, ein selbstquälerisches und wehmütiges Geschäft und gar nicht so lustig, wie es den Anschein hat.

      Heinrich faßte indessen alles Wissen, das er erwarb, sogleich in ausdrucksvolle poetische Vorstellungen, wie sie aus dem Wesen des Gegenstandes hervorgingen und mit demselben eines waren, so daß, wenn er damit hantierte, er die allerschönsten Symbole besaß, die in Wirklichkeit und ohne Auslegerei die Sache selbst waren und nicht etwa darüber schwammen wie die Fettaugen über einer Wassersuppe So waren ihm die beiden Systeme des Blutkreislaufes und der Nerven mit dem Gehirne, jedes in sich geschlossen und in sich zurückkehrend, wie die runde Welt, und doch jedes das andere bedingend, die schönsten plastischen Charakterwesen, welche ihm allezeit bewundernswert, geheimnisvoll und anlockend waren, ohne mystisch zu sein. Das schöne rote Blut, sicht-, fühl- und hörbar, unablässig umgetrieben und wandernd, gegenüber dem unbeweglichen, still verharrenden und farblosen Nervensystem, welches doch der allgegenwärtige und allmächtige Herr der Bewegung ist, mit geheimnisvoller Blitzesschnelle herrschend, während jenes in ehrlicher und handgreiflicher Arbeit wandern muß, das Blut war ihm der allgemeine Strom organischen Lebens, angefüllt mit sphärischen Körpern, jeder schon eine kleine Welt und ungezählt wie die Sterne des Himmels; und jeder dieser Myriaden Körper, der einige Pulsschläge lang kreiste, ehe er unterging, war ihm so wichtig und merkwürdig wie jene leuchtenden Globen, welche Millionen Jahre sich im Strome fortschwingen, ehe sie eben auch wieder anderen Platz machen. Wenn man dem Menschen einen bestimmten Teil seines Blutes entzieht und weggießt, so wird er dadurch weder verstümmelt noch verändert, und jenes Blut ersetzt sich unaufhörlich; daher sah der grüne Heinrich recht eigentlich in ihm das rote Lebensbächlein, das vorüberfließt, an welchem erst die bleiche geheimnisvolle Individualität des Nervensystemes sitzt, wie der Knabe an der Quelle, immer durstig daraus trinkend, behende um sich schauend und dabei ein wahrer Hexenmeister von Proteus, bald Gesicht, bald Gehör, bald Geruch, bald Gefühl, jetzt Bewegung und jetzt Gedanke und Bewußtsein, und doch bezwingbar wie Proteus, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen, wenn man das seltsame Wesen unerschrocken greift und festhält.

      Die Menschen, insofern sie sich unterrichten, zerfallen unter sich vorzüglich in zwei verschiedene Arten oder Klassen. Die eine derselben lernt ohne plastischen und drastischen Anknüpfungspunkt alles, was ihr unter die Zähne gerät, alles zumal, alles mit gleicher Leichtigkeit oder Schwierigkeit, das Wichtige wie das Unwichtige, und alles zu äußerlichem Gebrauche, schnell es ausgebend und noch schneller vergessend, oder auch wohl die tönende Formel unermüdlich wiederholend, während der lebendige Inhalt schon längst tot und verschwunden ist. Da diese Heerschar das Wesentliche vom Unwesentlichen, wie es von Zeit und Umständen bedingt wird, nie unterscheidet, sondern beides mit gleichem Eifer betreibt, das Wesentliche aber seiner gewichtigeren Natur nach unter diesem Eifer leicht zu Boden fällt, so bleibt ihr meistens die Spreu des Unwesentlichen zwischen den Fingern, welche sie hastig hin und her wendet, besieht und an die Nase hält. Weil sie das Wesentliche immer entschlüpfen läßt, so hält sie es für schwieriger und höchst geheimnisvoll, zunftmäßig und exklusiv, streitet sich darüber mit den Manieren und Eigenschaften des Unwesentlichen, mit dem sie es gewöhnlich zu tun hat, oder behandelt dieses mit dem Gewichte des Wesentlichen, welches ihr längst unter den Händen verschwunden ist. In der Tat ist aber beides gleich leicht und gleich schwer zu lernen, das Wesentliche und das Unwesentliche, wenn es nur zur rechten Stunde geschieht, und die Verkennung dieser Tatsache, welche mit dem ganzen Gesetz der Natur innig verbunden und vereint ist, bringt den Lärm und Ruf der falschen Gelehrsamkeit hervor, welche die Welt erfüllt, verwirrt und verdunkelt, statt sie zu erhellen.

      Die zweite Klasse der Lernenden besteht aus denjenigen, welche nichts lernen, ohne daß der innere Antrieb und die Einsicht des vernünftigen Zweckes mit dem äußern Anlasse zusammenfällt, welche absolut nichts verstehen, was nicht vernünftig und wesentlich für sie ist, denen alle Mittel furchtbare Rätsel sind, solange sie nicht das Gesetz einsehen, das sie bewegt, und den Zweck, um dessentwillen sie da sind. Vor allem Unwesentlichen stehen diese wie Dummköpfe und begreifen das Treiben der Welt nicht, und sie verharren in ihrer Demut und halten das auch wohl für etwas, was sie eben nicht verstehen; gewohnt, selbst nur das Wesentliche und Lebendige zu begreifen und zu verstehen, setzen sie dies auch von allen anderen voraus, welche vorgeben, etwas zu verstehen. Aus diesem letztern Umstande, wenn sie endlich doch einen Zipfel erhaschen, sich Luft verschaffen und mit der ersten Klasse zusammenstoßen, entstehen alsdann neue sonderbare Mißverständnisse und Verwirrungen, indem die Leute des Wesentlichen den Leuten des Unwesentlichen das, worauf es ankommt, entgegenhalten, was diese nicht verstehen; diese aber das, worauf es nicht ankommt, hervorkehren, was jene hinwieder nicht begreifen. Beide Abteilungen verfallen aber einer sehr tragischen Schuld die eine, weil sie sich immer mit Dingen abgibt, auf welche es unter den gegebenen Umständen niemals ankommt, läßt sich eine mutwillige und unnütze Tätigkeit zuschulden kommen; die andere, weil in der allgemeinen Verwirrung ihr leicht alles eitel und wertlos erscheint, hat eine Neigung, es dem Zufall zu überlassen, ob er ihr Anknüpfungspunkte zum Erfassen und Durcharbeiten zuführen wolle, und einen bedenklichen Hang zur Trägheit, anstatt die Dinge zu schütteln und das Wesentliche aus freiem Entschlusse an die Oberfläche und an sich heranzuziehen. Jene leben daher in munterer Begehungssünde, diese leiden an Unterlassungssünden.

      Heinrich fühlte plötzlich, daß er, was wenigstens das Unterlassen betrifft, bis anher zu der letzteren Sündenschar gehört habe, als der Professor die Nervenlehre mit einigen Bemerkungen über den sogenannten freien Willen abschloß. Denn obgleich er schon hundertmal diesen Ausdruck gehört und gelesen, auch genügsam wilde Philosophie und Theologie, wie sie in seinem Garten wuchs, getrieben hatte, so war es ihm doch noch nie eingefallen, darüber nachzudenken, oder hielt höchstens den »freien Willen« für eine Art müßigen Lückenbüßers für zusammengesetzte Dinge, woran er nicht ganz unrecht tat, nur daß er dazu nicht reif und befähigt war, ehe er die fragliche Sache näher kannte und verstand. Es gibt eine Redensart, daß man nicht nur niederreißen, sondern auch aufzubauen wissen müsse, welche von gemütlichen und oberflächlichen Leuten allerwege angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Tätigkeit oder Disziplin unbequem in den Weg tritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo man abspricht oder negiert, was man nicht durchlebt und durchdacht hat, sonst aber ist sie überall ein Unsinn; denn man reißt nicht immer nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um einen freien Raum für das Licht und die frische Luft der Welt zu gewinnen, welche von selbst überall da Platz nehmen, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den Dingen ins Gesicht sieht und sie mit Aufrichtigkeit gegen sich selbst behandelt, so ist nichts negativ, sondern alles ist positiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen, und die wahre Philosophie kennt keinen andern Nihilismus als die Sünde wider den Geist, d.h. das Beharren im selbstgefühlten Unsinn zu einem eigennützigen oder eitlen Zwecke.

      Was aber Heinrich besonders zu seinen Gedanken über den freien Willen antrieb, das war die auffallende Energie, welche in den kurzen Bemerkungen des Lehrers lag, gegen dessen sonstige Gewohnheit in solchen heiklen Punkten. Denn es war das Steckenpferd des sonst durchaus unbefangenen und duldsamen Mannes, die Lehre vom freien Willen des Menschen überall anzugreifen und abzutun, wo und wie er ihr nur beikommen konnte, und er ließ sich desnahen sogar in seinen Vorlesungen an dieser Stelle jedesmal zu einer kurzen, aber sehr kräftigen Demonstration gegen das Dasein der moralischen Kraft, die man freien Willen nennt, hinreißen in einem auf die Spitze getriebenen materialistischen Sinne. Diese Absonderlichkeit war nun zwar durchaus keine negative nihilistische Manie, sondern sie ruhte auf der »positiven« Grundlage einer durchgeführten Nachsicht und Geduldsamkeit für die Irrtümer, Schwächen und trübselig tierischen Handlungen der schlechtbestellten Menschenkinder; aber nichtsdestominder hatte sie ihren Grund in der unglücklichen Neigung vieler, selbst ausgezeichneter Naturalisten, auch an ungehöriger Stelle die Materie auf abstoßende und ganz überflüssige Weise zu betonen. Wenn man aus einem grünen Tannenbaum drei Dinge macht eine Wiege, einen Tisch und einen Sarg, so sagt man nicht, solange diese Dinge ihre nutzbare Bestimmung erfüllen bringt mir das