Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher. Стендаль

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Название Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Essays + Memoiren + Tagebücher
Автор произведения Стендаль
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788026824862



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vor dem Tore des Todes, bin ich noch ein Heuchler! Pfui, neunzehntes Jahrhundert!

      Ein Jäger schießt im Wald ein Tier. Seine Beute fällt. Er stürzt auf sie. Dabei stößt sein Stiefel gegen einen großen Ameisenhaufen. Der Bau wird zerstört, und Ameisen und Eier liegen verstreut am Boden … Die Philosophen unter den Ameisen werden nie begreifen können, was für ein riesiges, schwarzes, fürchterliches Ding das war: dieser Jagdstiefel, der urplötzlich mit unglaublicher Geschwindigkeit in ihre Welt eindrang, nachdem ein schrecklicher Knall und eine rötliche Feuergarbe erfolgt war…

      Ganz ähnlich wären Leben, Tod und Ewigkeit die einfachsten Dinge für jemanden, der die Organe hätte, sie zu begreifen…

      Eine Eintagsfliege kriecht am frühen Morgen eines Hochsommertages aus und stirbt, wenn die Sonne untergeht. Wie kann sie begreifen, was Nacht ist? Gebt ihr fünf Stunden länger zu leben, und sie erlebt und weiß, was Nacht ist.

      So ist es auch mit mir, Ich sterbe mit dreiundzwanzig Jahren. Gebt mir fünf Jahre Leben mit Luise…«

      Er lachte wie Mephisto. »Welche Narrheit, an diese hohen Probleme zu rühren!

      Erstens heuchle ich, als ob ich einen Zuschauer hätte… Zweiten« vergesse ich zu leben und zu lieben, wo mir nur so kurze Frist zum Leben verbleibt… Ach, Frau von Rênal ist fern. Wahrscheinlich duldet ihr Mann nicht, daß sie noch einmal nach Besançon kommt und sich noch mehr entehrt…

      Das ist, was mich einsam macht! Keineswegs der Mangel eines Gottes, der gerecht, gut und allmächtig ist und nicht böse und rachgierig …

      Ach, wenn es solch einen Gott gäbe, ich fiele ihm zu Füßen. Ich habe den Tod verdient, würde ich ihm sagen, aber, großer Gott, gütiger Gott, nachsichtiger Gott, gib mir noch einmal die Geliebte!«

      Es war späte Nacht geworden.

      Nach ein paar Stunden friedlichen Schlummers kam Fouqué. Julian erwachte, stark und entschlossen, als ein Mann, dessen inneres Auge klar sah.

      75. Kapitel

      Um alles mit Anstand zu erfüllen, was sich nach der Massenmeinung gehört, ließ Julian durch seinen Freund Fouqué einen Beichtvater kommen, einen Jansenisten. Trotz dieser schlechten Wahl stand er, dank Herrn von Frilair, noch immer unter dem Schütze der Jesuiten. Hätte er sich nur einigermaßen klug benommen, so hätte er entkommen können. Aber unter der Wirkung der dumpfen Kerkerluft war sein Verstand gelähmt.

      Um so glücklicher war er, als sich Frau von Rênal wieder einstellte.

      »Meine höchste Pflicht gilt dir!« sagte sie, indem sie ihn umarmte. »Ich bin aus Verrières entflohen.«

      Ihr gegenüber hatte Julian keine kleinliche Eigenliebe. Er erzählte ihr alle die Anwandlungen von Schwäche. Sie war voll Liebe und Güte gegen ihn. Julians Überschwang und Liebestrunkenheit waren maßlos. Es gelang Frau von Rênal, durch Bestechung und durch Mißbrauch des Ansehens ihrer alten reichen Tante, der Frömmlerin, Julian zweimal täglich besuchen zu dürfen. Als Mathilde dies erfuhr, wurde sie vor Eifersucht halb wahnsinnig. Frilair hatte ihr erklärt, seine Macht reiche nicht so weit. Er könne es nicht riskieren, ihr die Erlaubnis zu verschaffen, ihren Freund mehr als einmal täglich besuchen zu dürfen. Der vielerfahrene Intrigant ließ übrigens nichts unversucht, um ihr zu beweisen, Julian sei ihrer unwürdig. Sie liebte ihn unter tausend Qualen nur um so mehr und bereitete ihm fast jeden Tag eine entsetzliche Szene.

      Julian gab sich die größte Mühe, die junge Dame, die er auf so sonderbare Weise in ihrer Ehre gefährdete, bis zu Ende ritterlich zu behandeln. Sie tat ihm leid. Aber immer von neuem warf seine schrankenlose Liebe zu Frau von Rênal seinen Vorsatz nieder. Wenn es seinen lahmen Ausflüchten nicht gelang, Mathilde zu überzeugen, daß die Besuche ihrer Rivalin harmlos seien, dann sagte er sich: »Nun muß das Ende der Tragikomödie schon sehr nahe sein. Das ist die einzige Entschuldigung meiner stümperhaften Heuchelei.«

      Fräulein von La Mole erhielt die Nachricht, der Marquis von Croisenois sei ihretwegen im Duell gefallen. Herr von Thaler, der Pariser Krösus, hatte sich eine abfällige Bemerkung über Mathildens Verschwinden erlaubt. Die Gemeinheit war Sieger geblieben und hatte einen liebenswürdigen jungen Mann als Opfer dahingerafft.

      Diese Nachricht machte auf Julians müde Seele einen sonderbaren, krankhaften Eindruck.

      »Der arme Croisenois«, sagte er zu Mathilde, »hat sich dir und mir gegenüber sehr ritterlich und sehr verständig benommen. Unvorsichtig, wie du warst, hätte er mich hassen müssen.«

      Von neuem machte sie ihm Vorwürfe der Eifersucht.

      »Du ziehst mir die Frau vor, die an all unserm Unglück schuld ist!« klagte sie.

      »Du bist ungerecht«, entgegnete ihr Julian. »Der Pariser Rechtsanwalt, der meine Berufung führt, wird Frau von Rênals Besuche unter den schönsten Phrasen schildern. Der Mörder wird von seinem Opfer gehegt und gepflegt. Das muß doch Eindruck machen. Vielleicht siehst du mich noch eines Tages als Held in einem Melodrama…«

      Mathilde verfiel in dumpfe Niedergeschlagenheit vor Schmerz und Scham, daß sie ihren treulosen Geliebten mehr denn je liebte. Ihre rasende Eifersucht sann vergeblich auf Rache. Sie ersah kein Ende ihres Unglücks. Wie sollte sie Julians Herz wiedergewinnen, selbst wenn er gerettet würde?

      Außer in den Augenblicken, da ihn Mathildens Gegenwart ablenkte, lebte Julian gänzlich seiner Liebe. Jede große und ungeheuchelte Leidenschaft hat seltsame Wirkungen. So kam es, daß Frau von Rênal die Sorglosigkeit und friedsame Heiterkeit ihres Geliebten allmählich teilte.

      »Weißt du«, sagte Julian zu ihr, »damals auf unsern gemeinsamen Spaziergängen in den Wäldern von Vergy, da hätte ich so glücklich sein müssen wie jetzt. Aber ein ungestümer Ehrgeiz entführte meine Seele gewaltsam in ein Traumland. Statt deinen holden Leib, der meinen Lippen so nahe war, an mein Herz zu drücken, ließ ich mir die Gegenwart durch Gedanken an die Zukunft rauben. Ich malte mir tausend Kämpfe aus, die ich bestehen zu müssen wähnte, ehe sich mir ein ungeheures Glück erschlösse…

      Genug! Ich wäre gestorben, ohne das echte Glück zu erfahren, wenn du nicht zu mir in mein Gefängnis gekommen wärst!«

      Zwei Ereignisse sollten Julians ruhiges Leben noch stören. Sein Beichtvater, wenngleich durch und durch Jansenist, fiel dennoch in das Netz der Jesuitenintrige und ward unwissentlich ihr Werkzeug. Eines Tages sagte er zu Julian, er müsse alles tun, um begnadigt zu werden. Da die Pariser Geistlichkeit viel Einfluß auf den Justizminister hätte, gäbe es ein einfaches Mittel. Er müsse auffällig fromm werden.

      »Auffällig?« wiederholte Julian. »Jetzt durchschaue ich Sie! Also auch Sie spielen Komödie!«

      Der Jansenist verlor seine Würde nicht. »Ihre Jugend«, sagte er, »Ihr interessantes Gesicht (ein Geschenk der Vorsehung!), sogar der unerklärliche Anlaß Ihrer Untat, die hochherzigen Bemühungen des Fräuleins von La Mole zu Ihren Gunsten und schließlich die erstaunliche Freundschaft Ihres Opfers für Sie – alles das hat dazu beigetragen, daß Sie der Held der jungen Frauen von Besançon geworden sind. Man hört nichts reden als von Ihnen. Wenn Sie nun mit einem Male ein Heiliger würden, so machte dies auf tausend Frauenherzen den tiefsten Eindruck. An Ihnen liegt es, der Sache des Glaubens einen großen Dienst zu erweisen. Die Tränen, die über Ihre Bekehrung fließen werden, machen den verderblichen Einfluß von zehn Auflagen der Werke Voltaires zunichte.«

      Kalt entgegnete Julian: »Und was habe ich davon, wenn ich mich zu guter Letzt selbst verachten muß? Ich bin ehrgeizig gewesen. Deshalb tadle ich mich nicht. Darin war ich ein Kind meiner Zeit. Jetzt lebe ich in den Tag hinein. Es fällt mir nicht ein, mich zu einer solchen Niederträchtigkeit herzugeben…«

      Der andere Zwischenfall, der Julian ungleich näherging, hatte seinen Ursprung in Frau von Rênals Naivität. Es war irgendeiner intriganten Freundin gelungen, ihr einzureden, es sei ihre Pflicht, nach Saint-Cloud zu fahren und sich König Karl dem Zehnten zu Füßen zu werfen.

      Ehedem wäre sie lieber gestorben, als daß sie sich derart vor aller Welt bloßgestellt hätte; aber jetzt nach der Trennung von Julian und andern großen Opfern war ihr dies gänzlich gleichgültig.

      »Ich will zum Könige