Damals bei uns daheim. Hans Fallada

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Название Damals bei uns daheim
Автор произведения Hans Fallada
Жанр Языкознание
Серия Hans-Fallada-Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783961188840



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unsern Buden über Büchern zu sitzen, entsetzte. Unser Sitzfleisch juckte uns.

      Schließlich machte Hans Fötsch einen Vorschlag, der mir einleuchtete: »Wir gehen einfach durch die Linden zum Schloss, da bin ich lange nicht gewesen. Wollen doch mal sehen, ob SM zu Hause ist.«

      Wir verließen also das Warenhaus durch den Ausgang nach der Voßstraße und gingen am düsteren Justizministerium vorbei durch die Wilhelmstraße zu den Linden. Es war ein trüber, aber trockener Nachmittag im November. Auf dem Mittelweg unter den mächtigen Linden klebte das feuchte, tote Laub sich an unsern Schuhen fest. Die prunkvollen Läden anzusehen, verschmähten wir, wir waren von Prunk gesättigt.

      Als wir aber in die Nähe der Passage kamen, meinte Hans Fötsch, wir könnten uns wenigstens den Eingang von Kastans Panoptikum ansehen. Diese Wachsfigurenschau genoss damals bei den Berlinern großes Ansehen. Fötsch war schon ein paarmal darin gewesen, mich hatten noch immer Geldmangel und ein strenges Verbot vom Vater ferngehalten. Der dicke, goldbetresste Portier imponierte mir schon sehr, als ich mich dann aber durch die Neugierigen vor dem Schaufenster gedrängt hatte, kannte mein Entzücken keine Grenzen.

      Vor einem panoramaartigen gemalten Hintergrund, der eine märkische Kiefernlandschaft zeigte, sogar mit einem azurblauen Seezipfel, stand ein schlanker Herr in schwarzem Gehrock mit graugestreiften Hosen, auf dem Haupte einen Zylinderhut. Das etwas blasierte Gesicht hatte hübsche rote Bäckchen, im Auge trug der Herr ein blitzendes Monokel, und sein schöner brauner Vollbart lag so untadelig in Locken, als habe ihn eben erst der Hoffriseur des Kaisers, Herr Haby, gekräuselt.

      In der Hand hielt dieser Herr einen Revolver, gesenkt zur Erde, und der Blick seiner etwas blöden Puppenaugen war auf einen ihm zu Füßen liegenden, ähnlich gekleideten Herrn gerichtet, auf dessen weißer Hemdenbrust ein bräunlich-roter Fleck sichtbar war. Dieser Erschossene, mit grauenhaft naturgetreu brechendem Blick, vertrat aber den schwarzen, bleichen Typus. Ein Kind sah sofort, dass dies der Schurke, der Blonde aber der Held war, der dem Schuft die verdiente Strafe erteilt hatte. Unter dem Ganzen stand »Der Rächer seiner Ehre«, und die Szene war sicher eine Darstellung der damals recht häufigen Duelle, in denen der betrogene Gatte nicht so sehr die eigene Ehre wie die seiner Frau zu rächen meinte.

      »Wie gesagt, diese Gruppe machte in ihrer maskenhaften Starrheit und dabei doch mich völlig überzeugenden Lebendigkeit den tiefsten Eindruck auf meine Phantasie. Das Groteske in der Darstellung, vor allem, dass der Erschossene mit seinen Füßen gegen die Schuhe des Gegners stieß (was durch die Enge des Schaufensters bedingt war), störte mich gar nicht. Ich stand sehr lange vor der Gruppe, beobachtete jedes Detail: die am Boden liegende Pistole des Erschossenen, ein Bündel verstaubtes Heidekraut, das direkt neben der bleichen Wange der Leiche lag, die gelbliche Wachshand mit den langen bläulichen Wachsnägeln …

      Dann begann meine Phantasie zu arbeiten, und ich stellte mir vor, was das überlebende Puppengesicht nun wohl tun würde. Die Frage, was er mit seiner Pistole tun sollte, beschäftigte mich sehr. Würde er sie zu der andern legen oder sie offen in der Hand nach Haus tragen? Wie kam er überhaupt nach Haus? Selbst wenn dies der Grunewald war, also nächste Nähe Berlins, schien mir seine Kleidung für einen Spaziergänger doch zu auffallend, auch wenn es ihm gelingen sollte, die Pistole in den Schößen seines Rockes zu verbergen.

      Ich prüfte jede Einzelheit des Panoramas, es fand sich aber nicht die geringste Andeutung auf Sekundanten, einen wartenden Wagen. Aber – würde er überhaupt fliehen wollen? Oder würde er sich stellen? Ich wusste vom Vater, dass diese Art der Tötung beinahe erlaubt war. Es gab »bloß« Festung dafür, und Festung war nichts Ehrenrühriges. Ich überlegte mir, was ich in der Lage des Lockenbartes tun würde, aber ich wusste es auch nicht … Am besten fuhr man wohl rasch nach Hamburg und wurde Schiffsjunge, aber wenn man ein Monokel trug und einen Vollbart hatte, konnte man wohl kaum Schiffsjunge werden …

      Ich hätte wohl noch lange vor der Wachsfigurengruppe gestanden. Aber Hans Fötsch stieß mich an, und wir gingen weiter, auf das Schloss zu. Währenddessen erzählte mir mein Freund mancherlei aus dem Panoptikum. Es gab »saublöde« Sachen darin wie Schneewittchen mit den sieben Zwergen, so richtiger Weiberkram mit offenem Haar und rosa Schleifen am Kleid, aber es gab auch eine Schreckenskammer zu sehen (für einen Groschen extra) und ein anatomisches Museum (zwei und einen halben Groschen extra), in dem man ganz genau sehen konnte, wie verschieden Männer und Frauen gebaut waren. Bei diesem Umstand verharrte Hans Fötsch mit einer gewissen Hartnäckigkeit, fand aber bei mir wenig Aufmerksamkeit. Dieses interessierte mich (noch) nicht. Immerhin fasste ich den Entschluss zu äußerster Sparsamkeit in den nächsten Wochen, um eines Tages viel an Kastans Panoptikum verschwenden zu können.

      Das Schloss lag grau und düster unter dem grauen und düsteren Novemberhimmel. Unser Kaiser, den wir nach Berliner Gewohnheit nur SM – Abkürzung für Seine Majestät – nannten, war mal wieder unterwegs, keine Kaiserstandarte wehte auf dem Flaggenmast. Nun, es war kein Wunder. Nicht umsonst hieß er der Reisekaiser, er hielt es nirgendwo lange aus. Die Fanfare seines Autos »Tatü! Tata!« klang all seinen Untertanen mit »Bald hier, bald da!« in den Ohren.

      Nach einem kurzen Zögern entschlossen wir uns, in ganz unbekannte Gegenden vorzustoßen, der Turm des Rathauses der Stadt Berlin, des Roten Schlosses, winkte uns. Wir folgten diesem Wink und pilgerten weiter bis zum Alexanderplatz, von wo uns der Zufall in das Scheunenviertel trieb.

      Diese Unterwelt, die wir hier betraten, erregte unser lebhaftes Staunen, von diesem Berlin hatten wir noch nichts gesehen. Das ganze Leben seiner Bewohner schien sich auf der Straße abzuspielen, alles stand dort herum, in den unglaublichsten Aufzügen, schnatterte, stritt miteinander … Jüdische Händler im Kaftan mit langen, schmierigen, gedrehten Löckchen, Kleider über dem Arm, strichen durch die Menge und flüsterten bald hier, bald dort Anpreisungen. Vor einem Kellereingang saß ein dickes, schmieriges Weib, hatte den Kopf eines jaulenden Pudels zwischen die Beine geklemmt und schor ihm mit einer Art Rasenschere den Hinterteil.

      Und überall gab es Händler. Händler mit heißen Würstchen, mit »Boletten« aus prima kernfettem Rossfleisch, das Stück ’nen Sechser, mit Schlipsen (der janze Adel trägt meine Binder!), mit Seife und Parfüms. An einer Ecke prügelten sich ein paar Kerle, umringt von einem Kreis von Zuschauern, die, trotzdem schon Blut floss, weiter höchst amüsiert blieben. Mir, dem Juristensohn, fiel zuerst das völlige Fehlen von »Blauen« auf, von Schutzleuten also.

      In diesen engen Gassen schien ein aller Ordnung und Gesetzmäßigkeit entzogenes Leben zu herrschen. Bisher hatte ich fest daran geglaubt, dass, was in der Luitpoldstraße galt, mit geringen, durch die Stufen reich und arm bedingten Abweichungen überall galt. Hier sah ich nun, wie der eine Kerl sich über den zu Boden gestürzten Gegner warf, der kaum noch bei Besinnung war, und ihm unter dem johlenden Beifallsgeschrei der Zuschauer immer wieder den blutigen Kopf gegen das Pflaster schlug.

      Es wurde uns unheimlich, wir machten, dass wir davonkamen. Aber an der nächsten Straßenecke hielt uns ein Kaftanjude an, flüsternd, in einem kaum verständlichen Deutsch schlug er uns vor, ihm unsere Wintermäntel zu verkaufen. »Zwei Mork das Stück! Und eurer Momme seggt ihr, ihr hebbt se verloren …«

      Dabei fing er schon an, mir meinen Mantel aufzuknöpfen.

      Mit Mühe riss ich mich los, Fötsch und ich fingen an zu laufen. Aber das war nicht richtig. Denn nun fing die Jugend an, auf uns aufmerksam zu werden. Ein großer Junge, den ich angerannt hatte, rief: »Du bist woll von jestern übrigjeblieben –?!« und gab damit das Signal zu einer Jagd auf uns.

      Wir rannten, was wir konnten, durch ein Gewirr von Gassen und Sträßchen, ratlos, wann und wo dies einmal ein Ende nehmen würde. Eine ganze Horde stürzte schreiend, lachend, hetzend hinter uns her. Ein großer Kerl, durch den Lärm aufmerksam geworden, schlug nach Hans Fötsch. Aber der lief weiter, nur seine Mütze fiel verloren auf das Pflaster. Bei meinem Annähern zog eine Frau, die vor ihrer Tür an einem Strumpf strickte, sachte die Nadel aus der Strickerei und stach damit nach mir, mit der gleichgültigsten Miene von der Welt. Nur ein Sprung rettete mich …

      Ich lief, was ich laufen konnte, wie ich noch nie gelaufen war. Ich wusste, hier galten weder Beruf noch Ansehen meines Vaters etwas, das doch in der Luitpoldstraße alle respektierten, hier galt es auch nichts, dass ich ein Gymnasiast war … Hier galten jetzt nur meine Beine. Ich! Ich selbst!

      Und