Die guten Frauen von Christianssund. Anna Grue

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Название Die guten Frauen von Christianssund
Автор произведения Anna Grue
Жанр Языкознание
Серия Dan Sommerdahl
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783037920404



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alles im Netz kaufen kann. Ich habe ausgezeichnete Aufnahmen, stundenlang, man kann die Zeit für bestimmte Abläufe stoppen und in eine Tabelle übertragen. Ich bin ein guter Planer, denke ich und lächele vor mich hin. Ich bin gut. Es wird zweifellos alles klappen.

      Lilliana hat ihr geblümtes Kopftuch wie eine Melkerin stramm um den Kopf gebunden. Eine einzelne Strähne hängt heraus und beschreibt einen sanften Bogen auf ihrer glatten, hellen Stirn. Hinten quillt ihr Haar unter dem bunten Dreieck des Kopftuchs hervor. Ihre Wangenknochen sind hoch und markant, sie lassen ihre Augen ein wenig schräg aussehen. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen, vermutlich kann sie nachts nicht schlafen, weil sie an so vieles denken muss. Schon in anderthalb Stunden werde ich dich von alldem befreien, Lilliana, und ich wünschte, ich könnte es schon ein wenig früher beenden, dann müsstest du nämlich nicht mehr putzen. Aber ich bedauere, du musst dich noch etwas gedulden. Sie verschwindet aus meinem Blickfeld, ich höre, wie sie den großen Industriestaubsauger über die Schwelle des Putzraums bugsiert. Kurz darauf beginnt sie zu saugen, und ich lehne mich zurück und warte. Jetzt, wo der Zeitpunkt des Mordens näher rückt, merke ich, wie meine Bewegungen präzise und kontrolliert werden, wie sich meine Sinne schärfen; ich höre jedes noch so kleine Geräusch, spüre, wie jeder einzelne Muskel bereit ist. Die Schweißperlen sind verschwunden, genau wie die Steifheit in den Gliedern, das eingeschlafene Bein. Es gibt nur noch einen gut funktionierenden Körper, der weiß, was ich von ihm erwarte. Als ob die Alarmbereitschaft den Körper veranlasst hätte, bestimmte Nervenbahnen zu schließen, damit er sich auf andere konzentrieren kann.

      Wenn alles so abläuft wie immer, bleiben noch genau fünfundfünfzig Minuten. Ich strecke und biege die Finger, überprüfe noch einmal meine selbst gebastelte Mordwaffe. Es ist eine Garotte, gefertigt aus einem Stück kräftiger, mit Plastik überzogener Wäscheleine, circa einen halben Meter lang, mit einer Schlinge an beiden Enden. Die Länge der Schnur habe ich exakt berechnet: der vermutliche Umfang des Halses plus einige Zentimeter, um die Schnur mithilfe eines Metallkugelschreibers zusammenzudrehen. Nach zahlreichen Experimenten erscheint mir der Kugelschreiber für dieses Vorhaben am besten geeignet zu sein. Ich habe zu Hause an einem zusammengerollten Sofakissen geübt, bis das Ganze optimal funktionierte – und zur Sicherheit habe ich zwei Exemplare mitgenommen. Allein die Vorstellung, nur einen Kugelschreiber dabeizuhaben und der dann eventuell mittendrin bricht … Ich höre dem Brummen des Staubsaugers zu. Es entfernt und nähert sich, je nachdem, wo Lilliana sich in der Bürolandschaft gerade befindet. Benjamin kommt in die Küche, er kratzt Essensreste und zusammengeknüllte Servietten von den Tellern, die er auf den Schreibtischen eingesammelt hat, und verschwindet dann wieder.

      Lilliana hat jetzt die Küche erreicht, ich beobachte, wie sie die Staubsaugerbürste systematisch über den Boden gleiten lässt. Hin und her, bis in die Ecken. Der Jogginganzug lässt sie unförmig erscheinen, er verbreitert ihre Taille, sie wirkt älter. Dann verschwindet sie auf dem Flur, der Staubsauger bleibt stumm, sie stellt ihn an seinen Platz im Putzraum. Ich höre Benjamin, aber ich sehe ihn nicht. Er wischt den Boden des Büros, das laut Arbeitsplan heute an der Reihe ist. Alle Böden werden turnusmäßig einmal in der Woche geputzt, wie ich herausgefunden habe. Abgesehen von der Küche und den Toiletten natürlich. Dort wird jeden Tag gewischt.

      Noch achtundzwanzig Minuten. Lilliana kommt noch einmal in die Küche. Sie füllt einen der viereckigen blauen Eimer mit Seifenlauge und geht wieder hinaus. Jetzt wischt sie über die Schreibtische und Regale. Nicht alle Schreibtische und nicht alle Regale, aber hier und da, wo sie es gerade für notwendig hält. Es wird nicht unbedingt tipptopp geputzt, aber vermutlich so sorgfältig wie in den meisten anderen Büros auch. Benjamin wischt den Küchenboden mit dem großen Mikrofasermopp. Sjup-sjup-sjup. Es geht blitzschnell. Jetzt kippt er das schmutzige Wasser in die Toilette. Das ist mein Signal. In den nächsten zehn Minuten wird er die Müllsäcke einsammeln und in den Schuppen bringen. Für den Weg braucht er nur eine Minute, aber auf dem Rückweg wird er wie immer eine Zigarette rauchen. Das verschafft mir mindestens sieben Minuten, und wenn Lilliana sich dort befindet, wo sie sich normalerweise zu diesem Zeitpunkt aufhält, habe ich Zeit genug.

      Jetzt kommt sie in die Küche, gießt den Inhalt des blauen Eimers in die Spüle, stellt ihn an seinen Platz und fängt mit der letzten Reinigungsphase an. Sie fährt mit einem blauen Lappen über den Küchentisch, die Mikrowelle, die Kaffeemaschine. Es sind deine letzten Handlungen in diesem Leben, Lilliana, ich hoffe, du denkst dabei an etwas Schönes. Jeder Muskel in meinem Körper ist gespannt, ich horche wie ein Wahnsinniger, und dann ist es so weit: Die Abfallsäcke knistern irgendwo außerhalb der Büros, Benjamins Schritte verhallen jenseits der Eingangstür. Ich höre, wie die Tür hinter ihm zufällt, gerade als Lilliana sich über die offene Spülmaschine beugt, um Wasserenthärter und Spülmittel in die kleinen Kammern zu füllen. Ich greife die Garotte mit beiden Händen und schiebe die Schranktür mit der Schulter auf. Lilliana dreht mir den Rücken zu, den Kopf hat sie gesenkt. Noch hat sie mich nicht gehört. Die marineblaue Jogginghose spannt über ihrem Hinterteil, der Pferdeschwanz ist nach vorn gefallen.

      Als ich den ersten Schritt auf sie zugehe, lärmt mein Overall mehr als je zuvor. Sie richtet sich auf und dreht sich um. In den folgenden Sekunden lösen sich eine Serie von Ausdrücken in ihrem Gesicht ab: aufgerissene Augen, als sie entdeckt, dass jemand hinter ihr steht; der Ansatz eines vorsichtigen Lächelns, als sie mich erkennt; eine Falte zwischen den Augenbrauen zeigt ihre Verwunderung, als sie das Haarnetz, die Latexhandschuhe und das kleine Stück Wäscheleine registriert. In ihren Augen sehe ich, wie sich diese Puzzleteilchen plötzlich zu einem klaren Bild zusammensetzen. Sie dreht sich um und will zur Küchentür laufen. Sie ist schnell, aber glücklicherweise nicht schnell genug. Noch bevor sie den ersten Schritt getan hat, habe ich ihr die Garotte um den Hals geschlungen, und von diesem Augenblick an geschieht allein, was ich will. Ich ziehe die beiden Schlingen zusammen und verdrehe sie mit ein paar raschen Bewegungen. Lilliana zappelt mit Armen und Beinen, versucht verzweifelt, meine Hände zu erreichen, ihren Körper zu mir zu drehen, doch mich kümmert ihre Panik überhaupt nicht, ich konzentriere mich hundertprozentig auf mein Vorhaben. Nachdem ich den Kugelschreiber durch die beiden Schlingen gesteckt habe, ist es verhältnismäßig einfach. Ich halte das zusammengezwirbelte Stück mit der einen Hand, während die andere Hand den Kugelschreiber immer wieder herumdreht und die Schnur sich mehr und mehr strafft. Ich spüre, wie die Leine sich durch ihre Haut arbeitet, in ihr Fleisch schneidet. Ihre Bewegungen werden langsamer und kraftloser, als würde sie versuchen, in dickflüssigem Wasser an die Oberfläche zu schwimmen. Schließlich hängen ihre Arme schlaff herab, ich habe nicht die Kraft, sie aufrecht zu halten. Vor der Spülmaschine lasse ich ihren Körper langsam zu Boden gleiten. Ihre tiefbraunen Augen sind offen und bereits glasig. Sie ist ganz sicher tot, aber ich halte meine Waffe noch ein, zwei Minuten fest. Als ich die Garotte abziehe, hinterlässt sie eine tiefe, knallrote Furche, als hätte jemand versucht, sich durch die Haut zu sägen. An mehreren Stellen ist die Haut aufgeplatzt, es blutet ein wenig. Ich lasse Lilliana fallen, stopfe meine Waffe in die Plastiktüte und laufe ins große Sitzungszimmer. Mit einem Satz bin ich aus der Terrassentür und renne die knapp einhundert Meter hinüber zum Kai 11, wo ich mein Fahrrad versteckt habe. Hinter dem vordersten Container bleibe ich stehen und ringe um Atem. Mein Herz hämmert dermaßen laut, dass ich mir sicher bin, andere würden es hören können – vorausgesetzt, dass irgendwer in der Nähe wäre. Glücklicherweise ist das nicht so. Ich schäle mich aus der Schutzkleidung. Auf dem Overall und den Handschuhen sind Blutflecken. Alles kommt in die Plastiktüte, und alles muss verbrannt werden. Ich kann das Zeug doch nicht einfach in einen Container werfen und die Entsorgung dem Zufall überlassen. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben, umsichtig; ich atme so langsam wie möglich.

      Als ich zwei Minuten später mit dem Fahrrad am Kai entlang in die Stadt fahre, ist mein Puls beinahe wieder normal.

      Montag

      Dänische Provinzstädte einer gewissen Größe wurden häufig in der Nähe eines Fjords gegründet: dicht am Wasser, aber geschützt vor den heftigen Stürmen, die an den eigentlichen Meeresküsten die Oberhand haben. Fjordstädte sind oft recht wohlhabend, mit gut erhaltenen Häusern, breiten Straßen und einem lebhaften Geschäftsleben. Und heutzutage explodieren in genau diesen Städten die Immobilienpreise. Denn die Dänen wollen nicht einfach nur Wasser. Die Dänen wollen Wasser und einen Ort, an dem sie vor dem Wind geschützt sind!