Название | Die guten Frauen von Christianssund |
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Автор произведения | Anna Grue |
Жанр | Языкознание |
Серия | Dan Sommerdahl |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783037920404 |
Die guten Frauen von Christianssund
Sommerdahls erster Fall
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Für Rune
– meinen Erstgeborenen
In ein paar Stunden werde ich ein Mörder sein. Eigentlich müsste mich der Gedanke zu Tode erschrecken, doch wenn ich ganz ehrlich sein soll, beschäftigt mich im Augenblick mehr mein rechtes Bein, das eingeschlafen ist. Vor einigen Minuten fing ich an, das Gefühl darin zu verlieren, und kurz darauf kribbelte es, als würde ich von Tausenden winzig kleiner Nadeln gestochen. Das Problem ist die Wartezeit, die ich in einem Schrank verbringe, der so eng ist, dass ich mich buchstäblich nicht bewegen kann, ohne an etwas zu stoßen. Das Risiko, dass mich jemand hören könnte, ist also verhältnismäßig groß. Und irgendjemand befindet sich noch im Gebäude, da bin ich ziemlich sicher. Jedenfalls höre ich von irgendwoher Musik. Vermutlich hätte ich mehr Platz, wenn ich den Schrank mit den Putzmitteln gewählt hätte, nur konnte ich mich aus verständlichen Gründen dort nicht verstecken. Ich versuche, ein wenig mit dem Fuß zu wippen, um die Muskeln des Knöchels zu strecken und zu dehnen, habe aber das Gefühl, als würden sich die Nadeln nur noch tiefer ins Fleisch bohren. In ein paar Sekunden werde ich mir die Hand auf die Lippen legen müssen, um ein Jammern zu unterdrücken. Lautlos verfluche ich mich selbst. An so etwas hätte ich vorher denken müssen. Allerdings wäre ich überhaupt nicht in diese Situation geraten, wenn ich mir das vorher so genau überlegt hätte. Dann würde ich heute Abend ins Bett gehen können, ohne das Leben eines anderen Menschen auf dem Gewissen zu haben, und Lilliana würde weiterleben, ohne auch nur zu ahnen, wie erleichtert sie sein müsste.
Mir kommen beinahe die Tränen. Es ist zehn nach sechs. Wollen die Letzten denn nicht bald mal nach Hause? Möglicherweise ist es hier längst menschenleer? Vielleicht hat nur einer der Grafiker vergessen, sein Radio auszuschalten? Soll ich es wagen? Wenn mich jemand in dieser Situation erwischt, ist das Spiel aus. Dann muss ich von vorn anfangen, einen anderen Zeitpunkt finden, eine andere Methode, ein neues Alibi … Vorsichtig winkele ich den Arm an. Der Plastikoverall knattert wie ein Festzelt im Sturm, und die blauen Plastikhüllen, die ich über die Schuhe gezogen habe, sind auch nicht gerade geräuschlos. Das Haarnetz und die Gummihandschuhe kann man nicht hören – aber ich wünschte, ich hätte sie nicht angezogen! Klebrige Tropfen aus Schweiß sammeln sich am Haaransatz, unter den Achseln und auf dem Rücken. Und ich muss hier noch mindestens drei Stunden ausharren.
Noch einmal versuche ich, mich anders hinzustellen; vorsichtig lehne ich mich an den Rand einer Pappkiste und bemühe mich, ruhig zu atmen. Die Minuten schleppen sich dahin. Plötzlich kommt jemand in die Küche und bleibt ein paar Meter von meinem Versteck entfernt stehen. Ich habe das Gefühl, als würde mein Herz im Hals schlagen oder direkt unter dem Kehlkopf festsitzen. Ich atme so lautlos wie möglich und richte mich vorsichtig auf. Durch einen Spalt der Lamellentür sehe ich, dass Anders K. dort draußen rumort. Er pfeift leise und unmelodisch, während er den Kühlschrank untersucht. Er nimmt sich eine Scheibe Graubrot und ein paar Schokoladenplättchen, dann geht er. Nicht mal die Brottüte hat er wieder verschlossen. Das überlässt er vermutlich Lilliana – als hätte sie nicht genug zu tun. Typisch für dieses aufgeblasene Arschloch! Ich will mich gerade richtig aufregen, als mir einfällt, dass das, was ich Lilliana bald antun werde, sehr viel schlimmer ist, als sie eine Tüte aufräumen zu lassen. Ich lehne mich zurück und versuche, mich zu entspannen. Glücklicherweise spüre ich wieder etwas im Bein; ich verlagere das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wippe mit den Füßen und bleibe ständig in Bewegung, damit das Bein nicht noch einmal einschläft.
Eine Stunde später hört die Musik auf. Schnelle, feste Schritte nähern sich. Wieder ist es Anders K., jetzt trägt er seine Skaterjacke. Sie ist viel zu jugendlich und zu lang für ihn. Wie alt ist er? Vielleicht achtunddreißig oder neununddreißig. Und latscht noch immer in Klamotten für Teenager rum. Werd endlich erwachsen, Mann! Er füllt ein großes Bierglas mit Wasser aus dem Automaten, leert es in wenigen Zügen, stellt es auf den Küchentisch und verschwindet. Einen Augenblick später ist er am Empfang und legt den Hauptschalter um. Sämtliche Lampen auf der Etage verlöschen, um mich herum wird es stockfinster. Die Eingangstür fällt zu. Er hat vergessen, den Alarm zu aktivieren. Und noch immer dauert es mehr als eine Stunde, bis um neun die Putzkolonne kommt … Jemand sollte dem Personal morgen die Vorschriften in Erinnerung rufen, wenn … Aber nein. Mir geht durch den Kopf, dass morgen kein ganz gewöhnlicher Tag sein wird. Das morgendliche Meeting wird auf jeden Fall abgesagt. Und viel gearbeitet wird sicherlich auch nicht. Die meisten Mitarbeiter werden für den Rest der Woche vermutlich massive psychologische Unterstützung brauchen und in den nächsten Monaten in irgendeiner Gruppentherapie Socken stricken, denn der Schock über Lillianas Tod wird traumatisch für sie sein. Weicheier. Als ob auch nur einer von ihnen sonst je einen Gedanken an das Reinigungspersonal verschwendet hätte. Nur die wenigsten von ihnen wissen überhaupt, wie Benjamin und Lilliana aussehen, geschweige denn, wie sie heißen. Und nur eine Handvoll von ihnen hat je bis 9.00 Uhr abends bleiben müssen, obwohl der ganze Verein unablässig stöhnt, dass so viel zu tun sei, und … Ich spüre, wie mein Blutdruck steigt, besser, ich halte meine Gedanken im Zaum. So geht das nicht. Ich muss in der Lage sein, meine Aufgabe zu erledigen, ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben. Die meisten Fehler werden im Affekt begangen. Du weißt, dass du es kannst, sage ich mir immer wieder. Eiskalt bleiben. Immer ruhig Blut.
Ich zwinge meine Atmung in einen gleichmäßigen Rhythmus, atme durch die Nase ein und durch den Mund aus, langsam ein und aus, langsam … Mir geht es bereits besser. Vorsichtig öffne ich die Schranktür und gehe in der stockfinsteren Küche ein wenig auf und ab, strecke die Arme über den Kopf, beuge mich vornüber und berühre mit den Fingerspitzen den Fußboden, richte mich auf, beuge mich mehrmals nach links und nach rechts, nach vorn und zurück. Der Zeltwand-Overall knistert. Ich spüre, wie mein Kreislauf langsam wieder in Schwung kommt, wie die Steifheit in den Gliedern nachlässt. Ich nutze mein Handy als Taschenlampe und finde ein Einwegglas in einem Unterschrank, fülle es am Wasserhahn mehrmals bis zum Rand und trinke es gierig ein ums andere Mal aus. Nachdem ich meinen Durst gelöscht habe, stecke ich das Glas in die Plastiktüte, die ich auf dem Schrankboden bereitgelegt habe. Hier kommen auch die Handschuhe, das Haarnetz, der Plastikoverall und die Schuhhüllen hinein, wenn alles überstanden ist. Und die Mordwaffe, selbstverständlich. Das Ganze will ich heute Nacht auf dem Heimweg loswerden, vielleicht in einem der großen Container bei den Baugerüsten in der Østergade.
Um 20.52 Uhr höre ich, wie jemand den Code eingibt und die Eingangstür sich öffnet. Ich verschwinde in dem Moment wieder im Schrank, als im ganzen Gebäude Licht aufflammt. So, jetzt ist es so weit. Benjamin kommt zuerst in die Küche. Ich ziehe mich ein paar Zentimeter zurück, damit man mich nicht durch die Ritzen sehen kann. Seine lange, hagere Gestalt erscheint in einem schwarzen T-Shirt, abgetragenen Jeans und nagelneuen weißen Sneakers. Das schulterlange dunkle Haar ist zu fettigen Dreadlocks verfilzt, die ihm jedes Mal ins Gesicht fallen, wenn er den Kopf bewegt. Seine Haut ist blass und unrein, die Nase voller großer schwarzer Mitesser. Ein Piercing in der Augenbraue vollendet das unappetitliche Bild. Ich schüttele mich. Gut, dass man seinen Anblick nicht bei Tage ertragen muss! Er öffnet den Kühlschrank und schnappt sich mit einer routinierten Bewegung eine Halbliterflasche Cola. Das macht er jeden Abend. Ich rechne aus, was das die Firma kostet, im Monat, im Jahr – eine Menge Geld. Von meinem Versteck aus sehe ich ihn die Hälfte der Cola trinken. Er rülpst lauthals, lehnt sich, den Hintern halb auf der Tischkante, an den Küchentisch, lässt sich hängen. Was für ein durch und durch abstoßendes Wesen. Der Gedanke ist geradezu erfrischend, dass er höchstwahrscheinlich von Anfang an der Hauptverdächtige der Polizei sein wird.
Als Lilliana zur Tür hereinkommt, rülpst Benjamin noch einmal. Sie runzelt nur die Brauen, sagt aber nichts, während sie sich an ihrem Kollegen vorbeidrückt und direkt zu der Schublade geht, in der die schwarzen Abfallsäcke liegen. Sie reißt zwei Säcke ab und verlässt die Küche wieder. Es ist sein Job, die Papierkörbe zu leeren, und wenn er damit fertig ist, holt er das benutzte Geschirr und die leeren Limonadenflaschen aus den Büros. Später bringt er dann den Müll zum Schuppen, auch das gehört zu seinen Aufgaben. Ich kenne ihre Arbeitsabläufe so gut wie sie selbst. Ich habe sie ja beobachtet. Abend für Abend. Nein, ich habe natürlich nicht in diesem lächerlichen Schrank gestanden und sie ausspioniert. Dazu