JUDAS GOAT. Greg F. Gifune

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Название JUDAS GOAT
Автор произведения Greg F. Gifune
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958353336



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war sich sicher, dass er etwas geträumt hatte, als er geschlafen hatte, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Es schien so, als gehöre ihm das Leben nur selten ganz allein, und die Nacht stellte da keine Ausnahme dar. Da er immer nachts arbeitete, schlief er am Tag bis zum späten Nachmittag. Obwohl dies im extremen Gegensatz zu den Tagesabläufen der meisten anderen Menschen stand, war er wohl nicht der Einzige in dieser Millionenstadt. Es gab viele Menschen, die in der Nacht arbeiteten und anschließend durch eine Metropole zogen, die berühmt-berüchtigt dafür war, selber niemals zur Ruhe zu kommen. Infolgedessen wurde er also von niemandem besonders zur Kenntnis genommen.

      Die Maschinerie rollte an, selbst wenn der Großteil der Stadt schlief. Manchmal fragte sich Lenny, ob er und die übrigen Nachtmenschen nur deshalb in den Träumen derer, die tagsüber in der Welt aktiv waren, auftauchten, existierten und lebendig werden konnten, sobald die anderen tief schliefen, weil sie schliefen. Oder war das verrückt?

      Er sah Tabitha und sich selbst flüchtig im Spiegel neben dem Schreibtisch. Das schattenhafte Spiegelbild war äußerst irritierend und fremd; so als betrachte er vielmehr ein Gemälde oder die Vorstellung eines Dritten von ihnen als ein getreues Spiegelbild von jemandem, die er genau kannte. Dunkle Schwaden teilten nun das Spiegelbild seines Gesichtes. War es da ein Wunder, dass er sich selbst kaum erkannte?

       Der, der du bist und den, den du siehst, ist nicht immer der gleiche.

      Dieser Gedanke, ausgesprochen von Sheenas Stimme – oder der Stimme, die seinen Erinnerungen nach Sheenas Stimme gewesen war – kam ihm plötzlich in den Sinn und war verschwunden, bevor er die Aussage richtig erfassen konnte. Tabitha bewegte sich und hob ihren Kopf lang genug vom Kopfkissen, um ihm einen desinteressierten Blick zuzuwerfen. »Was ist?« Ihre Stimme klang belegt und rau vom Schlaf.

      Lenny drehte sich von ihrem Spiegelbild zu ihrem wahren Anblick im Bett um. »Ich muss zur Arbeit gehen.«

      »Okay, Tschüss.«

      Die meisten Menschen, die tagsüber arbeiteten, schliefen nicht bis 16.30 Uhr am Nachmittag, aber letztlich war Schlafen fast das Einzige, was Tabitha tat. Schlafen und Trinken. »Ich dachte, du wolltest mir vielleicht etwas sagen, bevor ich gehe.«

      Sie gähnte, drehte sich auf den Rücken und strich sich das blonde Haar aus ihren Augen. »Was denn?« Allmählich dämmerte ihr etwas, und ihr leerer Blick verschwand. »Ist das etwa heute

      »Ja.« Er zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche. »Es ist heute.«

      »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

      Er steckte sich eine Zigarette zwischen seine Lippen und zündete sie an. »Ist das etwa alles?«

      »Willst du vielleicht eine Geburtstagsparty mit Hütchen und dem ganzen Scheiß?«

      »Heute werd ich neununddreißig Jahre alt. Ich dachte, du hättest daran gedacht.«

      »Du bist so ein Baby.«

      »Ich habe deinen Geburtstag immerhin nicht vergessen.«

      Tabitha setzte sich mühsam hin und streckte die Hand nach einer Wodkaflasche und einem Glas auf dem Nachttisch aus. »Weil du ja in jeder Hinsicht perfekt bist.«

      Er ließ es ohne Kommentar im Raum stehen und blickte stattdessen durch die Rauchschwaden und im Schutze des Schattens über Tabithas Körper. Er hatte sie mal geliebt, oder nicht? Vielleicht tat er es ja immer noch.

      »Morgen früh komme ich wieder nach Hause. Versuche einen klaren Kopf zu bekommen, während ich weg bin.«

      Sie goss sich einen Schluck Wodka ein und kippte ihn hastig hinunter. »Ich bin schon dabei.« Er ging zur Tür. »Schlaf dich in Ruhe aus und versuche dann, ein bisschen rauszugehen.«

      »Wohin soll ich denn gehen?«

      Das war eine gute Frage, denn es gab so viel zu tun und trotzdem zuweilen keinen Ort, zu dem man gehen konnte. Die ganze gottverdammte Welt war längst verloren. »Ich weiß es nicht.«

      »Wir sind alles, was wir haben«, sagte sie sanft. »Komm endlich damit klar.«

      Trotz ihres plötzlich veränderten Tonfalls sah sie in der Dämmerung mit ihrem wilden und zerzausten Haar, dem verschmierten Make-up und dem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck beinahe dämonisch aus.

      Beinahe. »Ich weiß nicht, ob ich wiederkomme.«

      »Das sagst du immer. Aber dann kommst du doch wieder.« Er sah weg, als hätte etwas auf dem Fußboden seine Aufmerksamkeit erregt. »Gehst du wirklich zur Arbeit?« Er zuckte zusammen. »Lügner! Du gehst also zu diesem Haus, das sie dir hinterlassen hat.« Entweder konnte sie durch die Wand auf den Koffer blicken, den er bereits gepackt hatte, oder er war einfach so leicht zu durchschauen.

      »Ich möchte ja gar nicht wirklich gehen, aber …«

      »Was willst du denn dann, Lenny?«

      »Ich muss für eine Weile hier weg, ein paar Dinge herausfinden.«

      »Gehst du zu dem Haus, das dieses Miststück dir hinterlassen hat?«

      »Nenn’ sie nicht so. Du hast sie doch noch nicht einmal gekannt.«

      »Du auch nicht, so wie es sich anhört.«

      Außerhalb der mit Schatten verzierten Wände spielte sich das Leben in der Stadt unentwegt und ohne Interesse an ihnen ab.

      »Du wirst das also wirklich tun?«, fragte sie noch einmal.

      »Ich muss, Tab.«

      »Dein Leben ist aber hier.«

      »Welches Leben denn?«

      »Dieses hier, Lenny, das ist dein Leben! So läuft das nun mal. Was willst du? Einen Scheiß-Festumzug, ein Feuerwerk – was denn?«

      »Ich bin es leid, so zu leben.«

      »Hör endlich auf zu träumen. Wir leben hier und werden auch hier sterben.«

      »Du sagst das, als gäbe es nur diese beiden Möglichkeiten.«

      Ihre glasigen Augen blinzelten ihn durch die Dunkelheit an. »Richtig, so ist es.«

      -2-

      Mittlerweile hatte er die Stadt durchquert, seinen Mietwagen abgeholt und war jetzt unterwegs. Es war fast sechs Uhr. Nachdem New York City für zehneinhalb Jahre seine Heimat gewesen war, schien es unfassbar, all das in seinem Rückspiegel plötzlich zu verlassen, aber dennoch tat er es; er ließ das bisschen Sicherheit, das er noch gehabt hatte, hinter sich und war auf dem Weg zu einem Haus, in das er noch nie zuvor einen Fuß gesetzt hatte, und das noch dazu in einer Stadt lag, von der er bis zum heutigen Tage noch nicht einmal gehört hatte. Das Haus lag in einem Bundesstaat, den er nur ein Mal als Kind besucht hatte. Diesen Gedanken hatte er tatsächlich schon seit Monaten im Kopf gehabt. Um genau zu sein, seit sechs Monaten, seit die Nachlassregelung bezüglich des Grundstücks, das Sheena ihm hinterlassen hatte, erledigt gewesen war. Diese Zeit war nun verstrichen, die Immobilie war geräumt und Lenny hatte das Häuschen als sein Eigentum übernommen. In all den Monaten bis zur letzten Nacht hatte er mit dem Gedanken gespielt, es einfach zu verkaufen und es sich niemals anzusehen. Aber das schien ihm irgendwie despektierlich. Es war ohnehin sonderbar, dass eine alte Freundin, die er zwanzig Jahren weder gesehen noch gesprochen hatte, ihm auf einmal ihr Zuhause samt Einrichtung vermacht hatte – besonders, da ihre Beziehung damals kein gutes Ende genommen hatte. Aber genau das war schließlich der Sachverhalt gewesen, der ihn davon überzeugt hatte, zu dem Haus zu fahren, bevor er eine endgültige Entscheidung traf. Er musste es wenigstens einmal sehen. Vielleicht könnte er ja tatsächlich eine Weile dortbleiben, eine Pause von der Stadt, seinem Nachtjob an der Rezeption eines Stundenhotels in einem der schlimmsten Stadtteile von Manhattan und auch von Tabitha einlegen und sich von all dem Stress, den die Überreste ihrer Beziehung in der letzten Zeit verursacht hatten, erholen. Ein sprichwörtlicher Geist aus seiner Vergangenheit war dem Nebel des täglichen