Die Memoiren des Sherlock Holmes: Holmes' erstes Abenteuer und andere Detektivgeschichten (Zweisprachige Ausgabe: Deutsch-Englisch). Артур Конан Дойл

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er keinerlei Leidenschaft, und auch zu diesem Mittel griff er nur, wenn gar kein Fall und keine interessante Zeitungsnachricht die öde Gleichförmigkeit der Tage unterbrechen wollte.

      Eines schönen Frühlingstages hatte er sich endlich dazu bewegen lassen, mit mir einen Spaziergang im Park zu machen, wo eben das erste zarte Grün an den Ulmen sproßte, und die Kastanien anfingen, ihre Knospen zu öffnen und ihre fünf Blattfinger auszuspreizen. Zwei Stunden lang strichen wir umher, fast ohne ein Wort zu reden, wie es sich für zwei Busenfreunde geziemt. Als wir wieder in die Bakerstraße kamen, war es fast fünf Uhr geworden.

      »Entschuldigen Sie!« sagte unser Laufbursche, als er uns die Tür aufmachte. »Es ist ein Herr hier gewesen und hat nach Ihnen gefragt.«

      Holmes warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.

      »Einen Nachmittagsbummel und keinen mehr!« sagte er. »Der Herr ist also wieder gegangen?«

      »Ja.«

      »Hast du ihn nicht ersucht, einzutreten?«

      »Ja, er hat auch gewartet.«

      »Wie lange denn?«

      »Eine halbe Stunde. Es war ein sehr aufgeregter Herr. Immer ist er herumgegangen und hat auf den Boden gestampft. Ich habe draußen an der Tür gestanden und ihn gehört. Am Ende kommt er heraus und schreit: ›Wird der Mann denn gar nicht nach Hause kommen?‹ So hat er gesagt, Herr Holmes! ›Sie brauchen bloß ein bißchen länger zu warten,‹ sag’ ich. ›Dann will ich lieber im Freien warten, denn hier erstick’ ich fast‹ sagte er. ›Ich bin bald wieder hier.‹ Und damit ging er auf und davon, und was ich auch redete, alles war umsonst.«

      »Gut, gut, du kannst nichts dafür,« sagte Holmes, als wir ins Zimmer gingen, »‘s ist doch recht unangenehm, Watson! Mir tat ein neuer Fall blutnot, und nach der Ungeduld, die der Mann zeigte, scheint es keine kleine Sache zu sein. Hallo! Das ist doch nicht deine Tabakpfeife auf dem Tisch! Er muß seine hier gelassen haben. Ein schöner alter Kopf mit einem langen Mundstück von Bernstein. Ich möchte wissen, wieviel echte Bernsteinspitzen es in London gibt. Die Leute denken, wenn eine Fliege drin ist, müsse er echt sein. Dabei gibt es eine eigene Industrie, unechte Fliegen in unechten Bernstein zu setzen. Jedenfalls ist der Mann sehr aufgeregt gewesen, daß er eine Pfeife liegen läßt, auf die er offenbar große Stücke hält.«

      »Woher weißt du, daß er viel auf sie hält?« fragte ich.

      »Nun, meiner Schätzung nach hat die Pfeife neu sieben und einen halben Schilling gekostet. Sie ist aber, wie du siehst, zweimal ausgebessert worden, einmal am Holz und einmal am Bernstein. Jedesmal hat man bei der Reparatur ein Band von Silber herumgelegt, das mehr gekostet hat als die ganze Pfeife. Dem Manne muß also die Pfeife sehr teuer sein, wenn er sie lieber flicken läßt, statt um den gleichen Preis eine neue zu kaufen.«

      »Noch was?« fragte ich, denn Holmes drehte die Pfeife in seiner Hand hin und her und betrachtete sie in der ihm eigenen nachdenklichen Weise.

      Er hielt sie in die Höhe und betippte sie mit seinem langen, dünnen Mittelfinger, wie etwa ein Professor der Osteologie, der einen Knochen demonstriert.

      »Pfeifen sind manchmal außerordentlich interessant,« sagte er. »Nichts besitzt mehr Individualität, ausgenommen etwa Uhren und Schuhsenkel. Was sich aber hier zeigt, ist weder sehr ausgesprochen, noch sehr bedeutungsvoll. Der Eigentümer ist offenbar ein kräftiger Mann, linkshändig, mit wohlerhaltenen Zähnen, nicht sehr ordnungsliebend und in guten Verhältnissen.«

      Mein Freund äußerte dies so obenhin; ich sah aber, daß er mich dabei fixierte, um zu erkennen, ob mir seine Schlußfolgerungen klar seien.

      »Du denkst, wer aus einer Pfeife für sieben Schilling raucht, muß wohlhabend sein?« sagte ich.

      »Das ist Grosvenor-Mischung zu acht Pence die Unze,« antwortete Holmes, indem er ein paar Krümel in seine offene Hand klopfte. »Da er schon für den halben Preis ein ausgezeichnetes Kraut haben kann, so muß er in guten Verhältnissen leben.«

      »Und die anderen Punkte?«

      »Er pflegt seine Pfeife an Lampen und Gasbrennern anzuzünden. Du siehst, sie ist auf einer Seite ganz versengt. Natürlich, das kann nicht von Streichhölzern herrühren. Warum sollte einer auch ein Streichholz an die Seite seiner Pfeife halten? An der Lampe kann man sie aber nicht anzünden, ohne daß dabei der Kopf angesengt wird. Und es trifft die rechte Seite der Pfeife. Daraus entnehme ich, daß er linkshändig ist. Halte deine eigene Pfeife an die Lampe und du wirst sehen, daß es für dich als Rechtshändigen natürlich ist, die linke Seite an die Flamme zu bringen. Du machst es vielleicht auch einmal umgekehrt, aber sicher nicht in der Regel. Die hier ist immer so gehalten worden. Dann hat er seinen Bernstein durchgebissen. Dazu gehört ein muskulöser, energischer Mann mit gutem Gebiß. Doch wenn ich mich nicht irre, höre ich ihn auf der Treppe; so werden wir bald etwas Interessanteres als seine Pfeife zu ergründen haben.«

      Einen Augenblick darauf öffnete sich die Tür und ein großer jüngerer Mann trat ins Zimmer. Er war gut, aber einfach gekleidet, trug einen dunkelgrauen Anzug und hielt in der Hand einen neuen Kastor. Ich hatte ihn auf etwa dreißig Jahre geschätzt, obwohl er in Wirklichkeit ein paar Jahre älter war.

      »Entschuldigen Sie!« sagte er etwas verlegen. »Ich hätte wohl anklopfen sollen. Ja, natürlich hatte ich anklopfen sollen. Die Sache ist die, ich bin etwas außer mir, und davon kommt das alles.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wie einer, der schwindlig werden will, und ließ sich dann in einen Stuhl niederfallen.

      »Ich sehe, Sie haben eine, zwei Nächte nicht geschlafen,« sagte Holmes in seiner leichten, genialen Weise. »Das bringt einem die Nerven mehr herunter als die Arbeit, ja noch mehr als der Genuß. Erlauben Sie nur die Frage: Wie kann ich Ihnen helfen?«

      »Ich brauche Ihren Rat. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und mein ganzes Lebensglück scheint mir aus den Fugen zu gehen.«

      »Sie wollen meinen Rat als Detektiv?«

      »Nicht nur das. Sie sollen mir Rat geben als scharfsinniger, als welterfahrener Mann. Ich will wissen, was ich zunächst tun muß. Ich hoffe zu Gott, Sie sind imstande, es mir zu sagen.«

      Er brachte das alles kurz, scharf, stoßweise hervor, und es machte mir den Eindruck, als wäre es für ihn außerordentlich peinlich, vor uns zu reden, und als müßte er seiner eigentlichen Neigung Gewalt antun.

      »Es ist eine sehr delikate Sache,« fuhr er fort. »Man spricht nicht gern vor Fremden von Familiensachen. Es ist entsetzlich, über das Verhalten seiner Frau zu zwei Männern zu reden, die man zum erstenmal im Leben sieht. Es ist fürchterlich, wenn man das tun muß. Aber mein Witz ist zu Ende, und ich muß Rat haben.«

      »Mein lieber Herr Grant Munro –« fing Holmes an.

      Unser Besucher sprang von seinem Stuhle auf.

      »Wie,« rief er, »Sie kennen meinen Namen?«

      »Wenn Sie Ihr Inkognito bewahren wollen,« sagte Holmes lächelnd, »würde ich Ihnen vorschlagen, nicht mehr Ihren Namen auf Ihr Hutfutter zu schreiben, oder wenigstens der Person, mit der Sie sprechen, nicht gerade das Innere des Hutes zuzuwenden. Ich wollte Ihnen eben sagen, daß wir, mein Freund und ich, viele ungewöhnliche Geheimnisse in diesem Zimmer angehört haben, und daß uns so oft das Glück zuteil wurde, beunruhigten Herzen wieder Frieden zu bringen. Ich hoffe zuversichtlich, wir können für Sie dasselbe tun. Darf ich Sie bitten, da vielleicht Eile nottut, mir unverzüglich den Tatbestand Ihres Falles mitzuteilen?«

      Wieder fuhr sich unser Gast mit der Hand über die Stirn, als komme es ihm recht sauer an. Aus jeder Bewegung und jeder Miene konnte man erkennen, daß er ein verschlossener, selbstbewußter Mann war, mit einem Anflug von Stolz in seiner Natur, der ihn empfangene Wunden eher verbergen als zur Schau tragen ließ. Plötzlich machte er mit der geschlossenen Hand eine energische Bewegung, wie einer, der alle Bedenken beiseite wirft, und fing an:

      »Die Sache ist die, Herr Holmes! Ich bin verheiratet, und zwar seit drei Jahren. In dieser ganzen Zeit haben wir beide