Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß

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Название Die wichtigsten Werke von Richard Voß
Автор произведения Richard Voß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788027223008



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Teller und Tassen; der bunte zärtliche Schäfer aus Meißener Porzellan; die bunten künstlichen Blumen; der bunte Stieglitz in seinem bunten Bauer. Mit einem Wort: ein prächtiges Zimmer!

      Natalia und Wera mußten sich auf das Sofa setzen und Grischa aus dem Speisezimmer den Samowar herüberschaffen, denn ohne ihre sechs Gläser Tee, für die sie eine ganze Zitrone nötig hatte, tat es das Mütterchen nun einmal nicht. Auch bestand sie darauf, daß Anuschka eingemachte Himbeeren und Ingwerkuchen brächte. Freilich naschte niemand als das Mütterchen von diesen Süßigkeiten, die übrigens vortrefflich zubereitet waren. Während sie im vollsten Behagen war, bat sie Natalia Arkadiewna, ihr eine neue Fürchterlichkeit aus dem Sündenpfuhl zu berichten. Denn obgleich ihr davor grauste, hörte sie doch sehr gern davon reden, wie sie überhaupt als echte Altrussin Märchen und Geschichten leidenschaftlich liebte, besonders wenn sie recht, recht traurig waren und man dabei bitterlich weinen konnte. Andernfalls taugten die Geschichten nichts und sie ward ganz zornig darüber, daß man eine alte Frau mit solchem »dummen Zeug« quälte.

      »Nun wohl, Mascha Manitschna, so will ich Ihnen etwas erzählen. – – Da ist die große Stadt, welche die »heilige« genannt wird und die aus Kirchen, Palästen und Hütten besteht. In den Kirchen und Palästen liegen unermeßliche Schätze: Gold, Perlen, Edelsteine. Die Popen und Adligen raffen zusammen, immer zusammen, mehr und mehr! Die Perlen und Edelsteine aber sind die Tränen des sterbenden, russischen Volkes, die Rubinen des Volkes Blut.«

      »O, o!« stöhnte das Mütterchen und begann zu schluchzen.

      Anuschka war derber geartet. Zum Entsetzen des Mütterchens, das solche bedenkliche Anzeichen nur zu wohl kannte, geriet ihr stattliches, über und über mit Handwerk und Stickerei bedecktes Haupt in heftiges Schwanken. Sie murrte: »Warum muß das russische Volk sterben? Solche Dummheit! Tränen und Blut? Gott wird barmherzig sein! 's ist ganz gesund, dick und fett! Und dann Tränen und Blut? Ja, Schnaps und Branntwein!«

      Um Anuschka nicht noch mehr zu reizen, unterdrückte das Mütterchen ihre Rührung, wodurch ihr freilich das halbe Vergnügen genommen wurde.

      Natalia Arkadiewna fuhr, ohne sich durch die Unterbrechung stören zu lassen, fort: »Und in den Palästen schimmern die Tränen, funkelt das Blut des sterbenden russischen Volkes auf den Schultern, auf den Stirnen und an den Armen der adligen russischen Damen als Diamanten und Rubinen. Und Tränen und Blut verwandeln sich in kostbare Weine und herrliche Speisen, in Teppiche, Seide und Samt.

      So geht es zu in Rußland: das Volk weint und blutet, die Herren lachen und prassen.

      Da geschieht es, daß Christus auf die Erde herabsteigt. Er zieht von Land zu Land, und sein Gesicht wird immer bleicher, sein Blick immer trüber, sein Herz immer trauriger. Wenn er aber nach Rußland kommt, blutet sein Herz. Er wandert von Dorf zu Dorf, von Hütte zu Hütte, und wenn er die letzte Hütte von Rußland erreicht, ist sein Herz zu einer einzigen klaffenden Wunde geworden, daraus sich ein Blutquell ergießt. Der flutet über Rußland und die ganze Erde. Und Christus spricht: Mit diesem Blute meines Herzens will ich der Welt eine neue Lehre geben, denn das Elend und der Jammer der Menschen ist so groß geworden, daß sie nicht mehr glauben können! Sie müssen daher etwas anderes werden als Christen, damit ihnen geholfen werde; denn der Himmel kümmert sich nicht um sie.

      So geschah es, daß in Rußland die neue Lehre entstand und daß aus Christen Nihilisten wurden.

      Christus selbst aber verkündete den Nihilismus dem Volke; deswegen wurde er vom Kaiser verfolgt, ergriffen und gefangen gesetzt. Vor dem Richter aber sprach er: Christus bin ich gewesen, aber Anarchist bin ich geworden. Nun richtet mich nach eurer Gerechtigkeit.

      Und sie verurteilten Christus zum Tode.

      Als man ihn zum Richtplatz führte, betete er laut, daß sein Wille geschehen möge. Wißt Ihr, welches sein Wille war, von dessen Erfüllung er einzig und allein für die leidende Menschheit die Rettung erwartete? Es soll nicht mehr geben Knecht und Herr, Arme und Reiche, Hungernde und Gesättigte.

      Und wie der sterbende Gott gebetet, also wird es geschehen: Christus selbst wird die Teilung vornehmen, und dann wehe allen denen, von welchen er fordern muß.«

      Das Mütterchen schluchzte laut auf.

      Wer wird meine guten Honigfrüchte bekommen? mußte sie denken. Meine süßen Ingwerkuchen und die getrockneten Zuckererbsen? Gewiß Iwan Sergewitsch, der Trunkenbold, dem Zwiebel und Knoblauch eigentlich viel lieber sind. O Gott! O Gott! Wer wird sich in meine wunderschöne Wäsche teilen? Alles selbst gesponnen, gewebt und gebleicht. Gewiß die schmierige Tatjana Semeonowna und der abscheuliche Dimitri Iwanowitsch. Ach, meine schönen Tischtücher, meine feinen Hemden! Welches Glück, daß ich mir keine neuen habe machen lassen, und daß Anuschka neulich beim Bügeln eines verbrannt hat. Und wer wird auf meinem gestickten Stuhle sitzen und aus meinen hübschen Tassen trinken? O Gott! O Gott!

      Und das Mütterchen brach in Tränen aus.

      Anuschkas Entrüstung kannte keine Grenzen. Sie stemmte ihre kräftigen Arme in die Hüften, lachte kurz auf und stellte sich mitten ins Zimmer, mit einer Gebärde, die deutlich sagte: Sie sollen nur kommen! Kommt nur, meine Seelchen, meine Liebchen, meine Täubchen! Was? – Ihr wollt mir das Meine nehmen? He, wollt ihr?! Meinen prächtigen Powoynik, meine neuen Bastschuhe, meine seidenen Bänder?! Wißt ihr nicht, ihr Diebe, ihr Räuber, ihr Heiden, daß ich mir mein Eigentum sauer verdient habe? Na – kommt nur!

      Sie war bitterböse auf das heftig weinende Mütterchen und Natalia Arkadiewna würdigte sie keines Blickes.

      Auf den guten, fröhlichen Grischa hatte die nihilistische Legende sichtlich einen tiefen Eindruck gemacht. Er saß ganz in sich versunken, stieß von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus und sah mit einer schuldbewußten Miene vor sich hin, als sitze er vor Gericht und dürfe auf keine Freisprechung hoffen.

      Trotz Anuschkas feindseligem Verhalten konnte Natalia Arkadiewna mit der Wirkung ihrer Geschichte zufrieden sein.

      »Wir wollen zu Bett gehen,« sagte sie und stand auf.

      Sie hatte sogleich bemerkt, daß Wera mehr geängstigt und erschreckt als überzeugt sei, daß sie, um mit ihren eigenen Worten zu reden, wieder einmal nichts begriff. Natalia nahm sich vor, mit ihr darüber zu sprechen.

      Als die Mädchen das Zimmer verlassen hatten, fuhr Grischa in die Höhe. Er hätte Wera so gern etwas gesagt von seinen Absichten, und daß er mit Natalia Arkadiewna ganz einverstanden sei. Das heißt, daß er einsah, daß er begriff – – Gott wird gnädig sein! Es war alles so schwer. Da war sein Mütterchen und Anuschka und – – einen Teil seines Landes hatte er seinen Bauern bereits gegeben. Vielleicht hätte es mehr sein können, aber – indessen – – Zum Abendbrot hatte es Tee, Grütze, Spiegeleier, Schnepfen und Barsche gegeben. Das war freilich viel, viel zu viel! Spiegeleier allein wären vollkommen genug gewesen; höchstens noch die Barsche. Gleich morgen wollte er mit Anuschka ein ernstes Wort reden. Auch war es sündhaft, Schnepfen zu essen, während das Volk seine Grütze ohne Rahm aß. Hätte sie nur ein einziges Mal nach ihm hinüber geblickt! Aber sie vermied es sichtlich, ihn anzusehen, sie zürnte ihm, und – – Da war sie bereits mit Natalia Arkadiewna zum Zimmer hinaus. Er hatte alle Mühe, sein weinendes Mütterchen zu beruhigen, und mußte den ganzen Ausbruch von Anuschkas Zorn über sich ergehen lassen. Beides tat er mit derselben schuldbewußten, betrübten Miene, die seinem frohen, hübschen Gesicht gar seltsam stand.

      Natalia Arkadiewna schickte die Magd, die sie in ihre Kammer führen sollte, fort und stieg mit Wera die alte braune Holztreppe hinauf, zu der einzigen Gaststube des Hauses.

      »Du hast meine Legende von Jesus Christus nicht verstanden?«

      »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn auf der Welt alles geschieht, wie es in der Legende gesagt wird. Christus nimmt den Reichen ihren Überfluß und gibt davon den Armen, stürzt die Tyrannen und erhebt die Unterdrückten, teilt alles Land und setzt die Anarchie ein.

      Was wird dann aus Christus?

      Übrigens glauben die Nihilisten gar nicht an Christus. Auch darum kann ich deine Geschichte nicht verstehen.«

      »Sie