Im Netz des Lemming. Stefan Slupetzky

Читать онлайн.
Название Im Netz des Lemming
Автор произведения Stefan Slupetzky
Жанр Языкознание
Серия Lemming-Kriminalromane
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783709939116



Скачать книгу

      „Scheiß auf meinen Job, scheiß auf Schönbrunn“, murmelt er jetzt. „Aber es geht nicht nur um mich. Nach unserem Telefonat bin ich in die Ordination hinüber, um der Klara dieses … Ding zurückzugeben.“ Angewidert zeigt der Lemming auf das Tablet, das er schließlich doch noch ins Polanski mitgenommen hat. „Im Wartezimmer, das um diese Uhrzeit immer brechend voll ist, ist ein einziger Mann mit seinem Rottweiler gesessen. Springerstiefel, Bomberjacke, abrasierte Haare – also nicht der Hund, sondern der Mann. Und wie ich reinkomm, steht er auf und glotzt mich an. Nicht etwa feindlich oder angeekelt, sondern fast“, der Lemming ringt die Hände vor Erbitterung, „fast ehrfürchtig wie einen Heiligen! Verstehen Sie, er hat schon gewusst, dass ich der Leopold W. bin, über den sie in der Zeitung schreiben, und wahrscheinlich ist er überhaupt nur deshalb bei uns aufgetaucht. Der Typ hat offenbar geglaubt, dass ich den Mario ermordet hab, um seinen Vater zu bestrafen, für den Kinofilm und dafür, dass er einen Flüchtling bei sich aufgenommen hat! Und dieses miese Nazischwein hat mich auch noch dafür bewundert!“

      „Nur die Ruhe, Wallisch. Regen Sie sich ab.“

      Im selben Maß, wie sich die Lautstärke des Lemming während seiner Schilderung erhöht hat, ist sie bei den anderen Gästen des Polanski abgeflaut. Man schweigt betreten, während man Polivka und den Lemming mit verstohlenen Blicken mustert.

      „Nicht nur, dass der Nazi da war, aber von den anderen Patienten ist heut fast keiner gekommen“, zischt der Lemming jetzt. „Die einen halten mich für einen Kinderschänder und die anderen für einen politisch motivierten Killer. Wie zur Hölle kann sich ein Gerücht so schnell verbreiten?“

      „Internet“, gibt Polivka zurück. „Im Gegensatz zu Ihnen, Wallisch, treiben sich die meisten dort herum. Was haben Sie gestern noch vom virtuellen Raum gefaselt? Dass Sie es nicht einmal merken würden, wenn Ihnen ein solcher Scheißsturm um die Ohren pfeift?“

      „Man muss doch irgendwas dagegen unternehmen können! Wie soll ich den Ben je wieder in die Schule schicken? Und wie soll die Klara ihre Arbeit weitermachen? Sie ist vollkommen verzweifelt; lieber sperrt sie ihre Praxis zu, hat sie am Nachmittag gesagt, als dass sie bis zur Pensionierung nur noch Nazikampfhunde behandelt! Also sagen Sie, Herr Chefinspektor …“

      „Lassen S’ mir den Chefinspektor weg“, unterbricht Polivka. „Inspektor gibt’s keinen. Nicht mehr. Ich hab dem Schröck gekündigt.“

      „Wie jetzt? Ganz im Ernst?“

      Polivka nickt. „Ich lass mich nicht auf die Ersatzbank setzen, nur weil sich der Trainer von den Hooligans dazu genötigt fühlt.“

      „Was machen Sie denn jetzt?“

      „Das sehen Sie doch. Herr Ober! Noch ein Viertel!“

      „Zwei!“

      „Ich glaub“, sagt Polivka und zieht sein Smartphone aus dem Tweed-Sakko, „wir sollten uns auf Jabberpal ein Konto einrichten. Damit wir uns dort auch ein bissel umschauen können.“

      „Konto? Kostet denn das was?“

      „Ja, Wallisch. Zeit und Nerven.“

      „Nehmen Sie.“ Der Lemming schiebt Polivka Klaras Tablet hin. „Der Spaß soll Sie nicht auch noch Ihre Sehkraft kosten.“

      Polivka macht sich sofort ans Werk, drückt auf dem Monitor herum, wischt kurz darüber, wartet und beobachtet, beginnt wieder zu tippen. Er erinnert an ein Baby auf der Jagd nach unsichtbaren Ameisen.

      Der Lemming trinkt. Als ein orangefarben gekleideter Zeitungsverkäufer das Lokal betritt, winkt er ihn zu sich, um ihm eine Abendausgabe der Reinen Wahrheit abzukaufen.

      Die REINE WAHRHEIT vom 16. Mai 2019

       Polizist aus dem Verkehr gezogen

       Knalleffekt im Mordfall Mario Rampersberg: Der ins Visier der Medien geratene ermittelnde Beamte Chefinspektor P. (Name der Redaktion bekannt) ist noch am Mittwoch aus dem Polizeidienst ausgeschieden. Alles deutet darauf hin, dass P. aufgrund einer persönlich motivierten widerrechtlichen Begünstigung des Hauptverdächtigen, des Wachmanns Leopold W. (Name der Redaktion bekannt), den Dienst quittieren musste.

       Laut offiziellen Stellen befindet W. sich aber nach wie vor auf freiem Fuß. Die Rede ist von einer für eine Verhaftung unzureichenden Beweislage. Die REINE aber fragt: Hat P. die Spuren verwischt, um seinem Freund zu helfen? Oder reicht der kriminelle Filz bei unserer Polizei bis in die Chefetage? Schließlich hat der Vater des am Montag in den Tod gestürzten Schulbuben, der Regisseur Kurt Rampersberg, mit seinem Film Regen des Hasses, Traufe des Zorns erst kürzlich unser Land gespalten (die REINE berichtete).

      „Herr Ober! Noch ein Viertel!“

      „Zwei!“

      „Und einen Aschenbecher!“

      „Zwei!“, ruft Polivka, dessen Konzentration noch immer ganz dem Tablet gilt. „Da, schauen Sie, wir sind drin.“ Er dreht das Notebook zum Lemming. „Jabberpal. Ich hab uns unter dem sinnreichen Namen Polpo angemeldet.“

      „Und was soll das heißen?“

      „Poldi Polivka. Wir sind jetzt sozusagen eine – Gott sei Dank nur virtuelle – Einheit.“

      „Super“, meint der Lemming, aber sein Gesichtsausdruck spricht eine andere Sprache.

      „Oben gibt es eine Suchfunktion. Probieren wir’s mit Mama 77.“

      Nach Sekundenbruchteilen flackert das enttäuschende Ergebnis auf: Bis auf die Zeilen, die Polivka und der Lemming ohnehin schon kennen, finden sich hier nur die Reaktionen anderer Besucher von Marios Jabberpal-Account. Die einen zeigen sich entsetzt über die Grausamkeit des Kommentars, die anderen versuchen, seinen bösartigen Tonfall noch zu übertreffen.

      Dromed-Arier

       14. Mai 2019, 20:05

       Von wegen Hasenfratze! Eher ein Kamelgesicht! Ich wette, seine Mutter hat sich auch schon früher mit Kameltreibern vergnügt.

       Zapletal der Prächtige

       15. Mai 2019, 13:30

       Schäm dich, Mama 77! Du bist auch nicht besser als sein Mörder, dieser kranke alte Nazi aus der Straßenbahn. Wahrscheinlich bist du selbst der alte Kinderschänder und versteckst dich hinter deinem Pseudonym.

      „Das reicht jetzt“, meint der Lemming heiser. „Suchen wir nach etwas anderem. Zum Beispiel Mario Rampersberg.“

      Polivka tippt die Worte ein, und schon erscheinen die Suchergebnisse auf dem Bildschirm: vierzehntausend Kommentare und fünf Fotos.

      „Bitte keine Kommentare mehr, von denen hab ich heut genug gelesen. Schauen wir uns die Bilder an.“

      Ein Foto, das vor vielen Jahren aufgenommen worden sein muss: Mario mit seinen Eltern. Klein und pummelig sitzt er auf einem Dreirad, seine Lippenspalte dunkelrot, wie eben operiert. Kurt Rampersberg in einem hellen Sommeranzug, hochgewachsen, schlaksig und bereits im fortgeschrittenen Alter. Freundlich, aber auch ein bisschen selbstgefällig blickt er in die Kamera. Daneben Marios Mutter, jung und hübsch und lächelnd steht sie da, ein Sonnenschein im Sonnenschein.

      Das nächste Bild zeigt Mario mit seinen Schulkollegen; es ist eines jener Fotos, wie sie wohl in jeder Klasse für Jahresberichte, elterliche Hausaltäre, Alben und Archive aufgenommen werden. Die Kinder sind im Breitformat vor einer Schultafel drapiert, Mario steht links vorne, neben ihm der Klassenvorstand: Brille, Kinnbart, schütteres Haar. Ein Lehrer wie aus einem Lehrbuch.

      „Jetzt wird’s interessant“, knurrt Polivka und greift wie nebenher zu seinem Viertel, um sich daran festzuhalten. Sein Gesichtsausdruck verheißt nichts Gutes.

      Weder der reale noch der auf dem Bildschirm.

      Grimmig blickt Polivka auf den Monitor, und grimmig blickt er aus dem Monitor heraus, Auge in Auge mit sich selbst. Eine gewisse Jabberpussy hat das digitalisierte Foto seines Dienstausweises auf ihrem Account veröffentlicht. Die Bildlegende lautet:

      Rausgeworfen: Chefinspektor