Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band. Hugo Friedländer

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Название Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band
Автор произведения Hugo Friedländer
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Год выпуска 0
isbn 9783754958285



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ebenso wie ihre Mutter, Sonntag, den 22. April, vom Oberlehrer Hofrichter und Zahnarzt Maibauer vernommen worden.

      Frau Maßloff bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe in der Lewyschen Wohnung eine Uhrkette und die Photographie von Winter gesehen. Seit dem Morde habe es in ihrer Wohnung »gespukt«, sie seien deshalb ausgezogen. (Allgemeine Heiterkeit.)

      Professor Dr. Paszotta, der Leiter des meteorologischen Instituts in Konitz, bekundete: In der Nacht vom 11. zum 12. März waren 3 Grad Kälte. Der Mond stand über dem Mönchsee so tief, daß die hintere Straße ohne Schatten war, dagegen konnte der Mond nicht in die Höfe der Häuser an der Danziger Straße hineinscheinen. Maßloff hatte behauptet, daß im Hofe von Lewy Mondschein war.

      Gerichtsarzt, Sanitätsrat Dr. Mittenzweig, bekundete: Die Abgabe des Gutachtens ist erschwert, weil die Leichenteile einige Zeit im Wasser und dann noch 15 Tage im Spiritus gelegen haben, und weil man es nicht mit einem ganzen Leichnam, sondern nur mit einzelnen Teilen zu tun hatte. Bei der Nachobduktion ist auch festgestellt, daß Spiritus in die Gewebe geraten, wodurch die Auslaugung noch besonders befördert worden ist. Als wahrscheinliche Todesursache ist Verblutung anzunehmen, doch sind auch Symptome dafür vorhanden, daß Erstickung eingetreten ist. Diese Symptome bestanden darin, daß durch Einatmung Blut in die Lungen eingedrungen, welches bei Ausführung des Halsschnittes in die Luftwege geraten ist. Ich habe mich bezüglich des Schächtschnittes auf dem Berliner Viehhofe eingehend informiert. Ich war bei mehreren Schächtungen zugegen und fand, daß das eine ganz einfache Prozedur ist, die beinahe elegant ausgeführt wird. Der an der Leiche vom Winter vorgefundene Halsschnitt ist niemals ein Schächtschnitt gewesen, wenn auch die Höhe etwa übereinstimmt. Die weitere Frage, ob der Schnitt von vorn oder von hinten geführt wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht beantworten. Der Tod ist mutmaßlich zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten. Auf eine Frage des Oberstaatsanwalts gibt der Sachverständige an, daß der Tod binnen 2 Minuten nach dem Schnitte erfolgt sein muß, und daß der Ermordete nach dem Schnitte ebensowenig noch Laute von sich geben konnte wie ein Tier nach dem Schächtschnitt. Die Zerlegung, die durchaus kunstgerecht ausgeführt war, konnte in etwa einer Stunde ausgeführt sein.

      Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Störmer (Berlin): Er neige der Ansicht zu, daß Winter sich verblutet habe. Der Halsschnitt sei augenscheinlich erst ausgeführt worden, als Winter infolge einer Erstickung sich bereits im Todeskampf befunden habe. Er könne dem Kollegen Mittenzweig nicht beistimmen, daß die Erstickungssymptome durch das Einatmen des Blutes in die Lungen zu erklären seien. Jedenfalls liege kein typischer Verblutungstod vor, denn die Leiche enthielt mehr Blut, als bei einem normalen Verblutungstode zulässig sei. Von Blutleere könne keine Rede sein. Der Tod müsse zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten sein, wenn nachgewiesen sei, daß Winter seit der Mittagsmahlzeit nichts mehr gegessen habe. Überhaupt lassen sich bei der Eigenart des Falles vollkommen sichere Behauptungen gar nicht aufstellen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsdiagnosen, weil einige der wichtigsten Körperteile, wie Magen, Leber, Milz und Gedärme fehlen. Der Schnitt in das Zwerchfell sei durch die Absicht, die Leber zu entfernen, auf das natürlichste zu erklären.

      Gerichtsarzt, Privatdozent Dr. Puppe (Berlin): Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Tod durch Erstickung eingetreten sei, den Tod durch Verblutung halte er für ausgeschlossen. Auffallend sei, obwohl die Leichenteile so lange im Wasser und alsdann in Spiritus gelegen haben, der immer noch große Bestand an Blut in sämtlichen Geweben. Er sei auch der Ansicht, daß der Tod zwischen 1 bis 7 Uhr nachmittags erfolgt sei. Eine Anzahl Nachbarn und Bewohner des Lewyschen Hauses bekundeten: Sie seien am Sonntag, den 11. März, den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen und haben nichts Auffälliges wahrgenommen. Ein Stöhnen und Winseln hätten sie zweifellos gehört. Alle diese Zeugen bekundeten, daß sie Ernst Winter niemals im Lewyschen Hause gesehen haben.

      Fleischermeister Adolf Lewy bekundete: Wenn ihm am 11. März ein Stück Fleisch von 5 bis 6 Pfund abhanden gekommen wäre, dann hätte er es zweifellos gemerkt, es sei ihm aber bestimmt kein Stück Fleisch abhanden gekommen. Maßloff hatte nämlich behauptet, er habe an jenem Abend in dem Lewyschen Hofe nicht nur Beobachtungen gemacht, sondern auch ein Stück Fleisch gestohlen.

      Es verdient erwähnt zu werden, daß der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Schwedowitz, zu sämtlichen jüdischen Zeugen sagte: Sie seien berechtigt, ihre Aussage zu verweigern, wenn sie befürchteten, sich dadurch einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen. Christlichen Zeugen wurde diese Vorhaltung nicht gemacht. Sehr eingehend wurde über das Alibi des Fleischermeisters Adolf Lewy am Nachmittag und Abend des 11. März verhandelt. Die Geschworenen fragten alle christlichen Alibizeugen bezüglich Lewy, ob sie von letzterem beeinflußt worden seien. Diese Frage wurde von allen Zeugen verneint.

      Im Laufe der Verhandlung erschien eine Frau Wiwiorra als Zeugin: Im Dezember 1899 oder im Januar 1900 sei sie eines Tages als einzige Kundin im Laden von Matthäus Meyer gewesen. Zunächst seien nur Frau und Fräulein Meyer im Laden gewesen. Sehr bald darauf seien Herr Meyer und ein fremder Mann in den Laden getreten. Sie gingen in den Hintergrund des Ladens. Alsdann habe Frau Meyer sie (Zeugin) gefragt, ob sie Ernst Winter kenne, und als sie dies bejahte, habe Frau Meyer gemeint: das sei nicht gut. Fräulein Meyer habe hinzugefügt: »Mama, was geht denn dich das an.« Sie habe sich gedacht, daß es sich bei der ganzen Sache um eine Überraschung für Tuchlers, etwa um einen gemeinsamen Gesang oder so etwas gehandelt habe.

      Witwe Hellwig: Sie sei vor längerer Zeit einmal bei Matthäus Meyer im Laden gewesen. Meyer sei mit Frau und Tochter und einem fremden Juden aus einem Hinterzimmer gekommen. Der Fremde ging fort. Sie (Zeugin) habe gefragt, ob dieser Mann die Abgaben haben wollte. Da sagte Matthäus Meyer: »Abgaben gerade nicht, ich werde ihm schon so viel geben, daß er zufrieden ist.« Frau Meyer sagte, es sei eine Verschwörung gegen einen jungen Herrn. Frau und Fräulein Meyer fragten sie, ob sie den Winter kenne, und eine von ihnen meinte dann: »Da kommt er,« und als sie hinsehen wollte, da hieß es, er sei es nicht. Meyers haben sie dann nach ihrer Religion befragt. Hellwig habe geantwortet, sie sei katholisch. Da sagten Meyers, das wäre gut; denn Winter sei evangelisch. Frau Hellwig fragte, was Winter verschuldet habe, ob er jemand umgebracht habe; darauf sagten die Meyerschen: »Nein.« Frau Meyer sagte noch, sie brauchten das Blut nicht zur Mazze, auch nicht zum Händewaschen oder so etwas, sondern nur zum Glück.

      Besitzer Hellwig (Sohn der Vorzeugin): Am 29. November 1899 kam er zu Matthäus Meyer. Der Laden war leer. Da kam aus der Hinterstube erst ein fremder Mann, anscheinend ein Jude, dann Meyer, seine Frau und seine Tochter. Der Mann versteckte sein Gesicht.

      Die Familie war anscheinend sehr aufgeregt. Frau Meyer sagte auf die Frage, was der fremde Mann wolle: Abgaben gerade nicht, aber wir werden ihn schon zufriedenstellen, wir ziehen nach Berlin. Es ist eine Unterschreibung wegen einer Verschwörung gegen einen jungen Herrn. Er (Zeuge) fragte, ob sie den jungen Herrn umbringen oder verklagen wollten. Frau Meyer sagte: Umbringen wollen wir ihn nicht, aber ihm etwas antun. Dann sagte Herr Meyer etwas, was er nicht verstand. Fräulein Meyer sagte zu ihm: Wenn er den Winter kenne, so möchte er ihm doch sagen, daß er sich vorsehen solle und lieber von Konitz weg auf ein anderes Gymnasium gehen.

      Der Vorsitzende hielt dem Zeugen vor, daß er bei jeder Vernehmung immer mehr sage, heute aber zum ersten Male etwas von Lewy erzählte.

      Hellwig: Was ich sage, ist wahr. Ich bin von Meyer zu Lewy gegangen. Es war Sonntag vormittag, ich bin vorn in den Laden gegangen. Lewy sagte: ich solle hinterkommen, er schärfte gerade ein großes Schlachtmesser. Ich sagte: ich komme nicht nach hinten. Da hörte ich, wie Lewy zu seiner Frau und Söhnen sagte: »Brauchen Blut, Christenblut, gute Gelegenheit, Gomisten spazieren.«

      Vors.: Sie meinen wohl »Gymnasiasten«?

      Zeuge: Ja. (Heiterkeit.)

      Oberstaatsanwalt: Was haben Sie sich bei dieser Äußerung Lewys gedacht?

      Zeuge: Gar nichts.

      Oberstaatsanwalt: Ich kann mir auch nichts dabei denken.

      Der Vorsitzende stellte fest, daß der Zeuge ebenso wie seine Mutter die ganze Aussage wie am Schnürchen hergesagt habe und fragte, wie die Aussage in die Zeitung gekommen sei. Der Zeuge erzählte, daß er in das Gasthaus gekommen sei. Dort sei ein fremder Mann gewesen. Über das Gespräch mit diesem könne