Die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Thomas-Gabriel Rüdiger

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Название Die onlinebasierte Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes
Автор произведения Thomas-Gabriel Rüdiger
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Год выпуска 0
isbn 9783866766464



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Vorgehen des Beschuldigten, also das Suchen und Finden von kindlichen Opfern, der offenbar vorhandene Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, die Verlagerung auf sexuell bzw. pornografisch geprägte Kommunikationen und der Austausch von eigenproduzierten Bildern – nicht selten pornografischem Inhaltes – beschreibt in seiner Phänomenologie die onlinebasierte Anbahnung eines sexuellen Missbrauchs. Für diese Vorgehensweise hat sich im deutschsprachigen Raum sowohl im allgemeinen Sprachgebrauch als auch in der Wissenschaft4 weitestgehend der unbestimmte Begriff „Cybergrooming“ etablieren können5.

      Bei einer näheren Analyse des Phänomens ist jedoch auch ersichtlich, dass es offenbar kein allgemeingültiges Verständnis davon gibt, was der Begriff konkret für ein Phänomen beschreibt. Insbesondere zwischen den kriminalwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Zugängen zum Cybergrooming verläuft hierbei ein offensichtlicher Riss. Gerade die sozialwissenschaftliche Sicht setzt teilweise im Vergleich zum juristischen Tatbestand an einer sehr differenten Phänomenbeschreibung an. Dieses unterschiedliche Verständnis hat dann auch Auswirkungen auf die Betrachtung und Analyse sowohl des Hellfeldes – in Form der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) – als auch des Dunkelfeldes in Form von nationalen und internationalen Studien. Insbesondere die Dunkelfeldanalysen bedürfen hierbei einer besonderen Analyse, da nur die wenigsten Studien ein gemeinsames Phänomenverständnis bzw. eine generelle Definition in ihren Untersuchungen zu Grunde legen. Mit der vorliegenden Arbeit soll diese wichtige Perspektive in die Phänomenbetrachtung integriert werden.

      Im Rahmen des oben genannten Beispielsfalls gab das Gericht in seiner Urteilsbegründung aber auch an, dass aufgrund der besonderen Vorgehensweise des Täters mit weiteren Taten letztlich durchaus gerechnet werden kann. Vor allem fand bei der Bewertung Beachtung „[…] dass der Antragsteller im Rahmen der Vorbereitung bzw. Begehung der Tat unter Nutzung des dienstlichen Rechners bewusst das Risiko jederzeitiger Entdeckung durch Arbeitskollegen oder durch den Dienstherrn bzw. durch die für den Dienstherrn tätigen Mitarbeiter der IT-Stelle in Kauf genommen hat […] zumal er neben – dem [sic!] ihm ohne weiteres bekannten – strafrechtlichen Konsequenzen mit dienstrechtlichen Schritten bis hin zu seiner Entfernung aus dem Staatsdienst habe rechnen müssen […]“6.

      Interessanterweise ist aber der Sachverhalt nicht durch dienstliche Ermittlungen oder Kollegen des Beschuldigten bekannt geworden. Vielmehr soll der Vater der Geschädigten auf den Kontakt aufmerksam geworden sein und ihn dann zur Anzeige gebracht haben 7.

      Dieser Sachverhalt steht buchstäblich für eine Vielzahl an Fragen, die sich um dieses Phänomen drehen:

      • Nahm der Beschuldigte – immerhin ein entsprechend ausgebildeter oder studierter Polizist – das Risiko der Entdeckung tatsächlich einfach so hin, weil sein Drang zur Tathandlung so hoch war?

      • Konnte er eventuell die Strafbarkeit seiner Handlung nicht richtig einschätzen und ging daher davon aus, dass die Kontaktanbahnung über einen Dienstrechner unproblematisch sei?

      • Oder ging er davon aus, dass die Strafverfolgungswahrscheinlichkeit so gering war, dass sich für ihn kein großes Risiko ergibt?

      • Wie erreichte er eigentlich sein Opfer?

      • Schrieb er einfach einen unbekannten Account auf Facebook an oder kannte er das Kind aus dem physischen Raum und nahm dann Kontakt auf? Hat er nur zu einem einzigen Kind Kontakt aufgenommen?

      Dabei ist es faktisch irrelevant, ob diese Fragen für den konkreten Fall beantwortet werden können. Es ist eher von Relevanz, welche Erkenntnisse man zu diesem Phänomen hat und ob dieser Fall ein ungewöhnlicher Einzelfall ist oder für ein grundsätzliches Risiko im digitalen Raum steht8. Es stellt sich aber auch die Frage, ob bisherige kriminologische Theorien zur Erklärung von Verhalten, das von der Norm abweicht, auch auf solche offenbar durch die Digitalisierung begünstigende Delikte Anwendung finden können. Denn seit ungefähr 15 Jahren hat sich eine weitere Form von öffentlichem Raum gebildet, die insbesondere durch Politiker mit dem Attribut ‚rechtsfrei‘ assoziiert wird9. In diesem digitalen Raum des Internets10 bewegen sich Kinder mittlerweile ganz selbstverständlich und das Einstiegsalter für die Nutzung digitaler Medien sinkt jedes Jahr11. Dabei wird unter digitalem Raum in dieser Arbeit die Gesamtheit der unterschiedlichsten einzelnen Programme verstanden, die eine onlinebasierte Verknüpfung und Kommunikation von Menschen ermöglichen. Dies ist vergleichbar mit dem öffentlichen Raum, in dem einzelne Plätze und Straßen für sich genommen Räume darstellen, während gleichzeitig die Gesamtheit dieser Plätze einen neuen gemeinsamen Raum darstellen kann. Der digitale Raum setzt sich einerseits aus den unterschiedlichsten einzelnen Programmen zusammen und kann gleichzeitig in seiner Gesamtheit auch als ein eigenständiges Konstrukt wahrgenommen werden. Dabei ist der digitale Raum insbesondere geprägt von der Nutzung sog. Sozialer Medien, die eine offene, aber auch weitestgehend anonyme Interaktion und Kommunikation der Nutzer untereinander ermöglicht12. Sexualtätern eröffnet sich hier also ein Raum, in dem sich Kinder bewegen, aber offenbar nur eine geringe Strafwahrscheinlichkeit besteht13. Der „Routine Activity Approach“ von Cohen und Felson – der maßgeblich auf der Rational Choice Theorie (Theorie des rationalen Wahlhandelns)14 aufbaut – geht davon aus, dass ein Täter dann eine abweichende Handlung begeht, wenn er in einer konkreten zeitlichen und räumlichen Situation ein sich lohnendes Ziel hat, es geringe Schutzmechanismen gibt und der Täter selbst eine hohe innere Motivation zur Tathandlung aufweist15. Diese drei Elemente beeinflussen sich gegenseitig: Wenn eines schwächer ausgeprägt ist, kann dies durch die Stärkung eines anderen Elements ausgeglichen werden. Wenn beispielsweise das innere Verlangen zur Tathandlung hoch und ein greifbares und motivierendes Ziel vorhanden ist, schreckt ggf. auch ein hohes Schutzniveau einen Täter nicht ab. Gleichzeitig müssen aber auch die einzelnen Elemente zusammenkommen. Ein Täter handelt dementsprechend nur dann, wenn ein Ziel – zumindest aus seiner Sicht – auch greifbar ist. In dem skizzierten Sachverhalt deutete der Richter beispielsweise an, dass der Täter eine so hohe „Motivation“ hatte, den Kontakt zu dem Kind – dem Ziel – aufzubauen, dass ihn auch die Schutzmechanismen in Form der Entdeckungswahrscheinlichkeit nicht von der Tathandlung an seinem Arbeitsplatz abhalten konnten16. Diesem Gedanken entsprechend ist es auch naheliegend, dass die primären Orte der sexuellen Viktimisierung von Kindern in der Familie oder dem sozialen Nahfeld liegen17. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) ergab, dass 49,1 Prozent aller Kinder, die von sexuellen Viktimisierungserfahrungen mit Körperkontakt berichteten, einen männlichen Familienangehörigen als Täter angaben. Weitere 27,3 Prozent waren männliche Bekannte. Insgesamt berichteten demnach 76,4 Prozent von bekannten männlichen Tätern aus dem sozialen Nahfeld.

      Lediglich 19,8 Prozent berichteten von unbekannten Tätern und 3,8 Prozent von Täterinnen18. Nach der Mikado-Studie haben wiederum 20 Prozent der sexuellen Kindesmissbraucher19 und/oder Nutzer von Missbrauchsabbildungen entweder im Beruf oder in einer ehrenamtlichen Tätigkeit einen Kontakt zu Kindern20. Nach der Routine Activity Theorie ist diese hohe Zahl auch folgerichtig, da der Täter hier relativ unbeobachtet Zugang zu seinem Ziel – den Kindern – hat und durch seine Funktion oder Eigenschaft Übergriffe auch gut verschleiern kann. Durch diesen Zugriff können sie zudem die gesellschaftlichen wie individuellen Schutzmechanismen minimieren bzw. umgehen, was nach der Routine-Activity-Theorie eine Überwindung der Hemmschwelle zur Tatbegehung erhöht. Die Täter sind demnach primär dort zu finden, wo ihre kindlichen Opfer sich aufhalten und die Schutzmechanismen gering sind. Für den digitalen Raum und die Thematik des Cybergroomings liegt daher eine Übertragung dieses Ansatzes nahe, die bei der Erörterung der Erklärungs- und Präventionsansätze Vertiefung finden wird. Dies würde darauf hindeuten, dass dieser digitale Raum mittlerweile einen quantitativ signifikanten Viktimisierungsort für Kinder und auch Jugendliche darstellt.

      Ein Polizeibeamter des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zog im Rahmen einer polizeilichen Operation gegen Cybergroomer zur Beschreibung der generellen Lage den Vergleich mit einem Piranhabecken. Hiermit