Название | Lipstick Traces |
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Автор произведения | Greil Marcus |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783955756208 |
Was an dieser Musik überdauert, ist ihr Wunsch, die Welt zu verändern. Es ist ein offenkundiger und schlichter Wunsch, doch hinter ihm steht eine unendlich komplexe Story … so komplex wie das Zusammenspiel alltäglicher Gesten, die einem sagen, wie die Welt funktioniert. Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven. Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ. Es tat sich die Möglichkeit auf, diese Dinge als schlechte Scherze zu sehen und die Musik als den besseren Scherz. Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich. Im Popmilieu, einer Arena, die sich die Gesellschaft hielt, um Symbole zu erzeugen wie zu entschärfen, in dem einzigen Milieu, wo ein Niemand wie Johnny Rotten eine Chance hatte, gehört zu werden, waren alle Regeln außer Kraft gesetzt. In Tönen, die die Popmusik noch nie von sich gegeben hatte, waren Ansprüche zu hören, die die Popmusik noch nie erhoben hatte.
Wegen Johnny Rottens lächerlicher Proklamation – wenn man so will, war er von seinem ersten auf Platte festgehaltenen Moment an ein heruntergekommener alter Mann im Regen, der seine irren Worte ausstoßen will (»I want to destroy passers-by«, krächzt der Antichrist und liest von seinem schmierigen Blatt Papier ab, »Ich will Passanten vernichten«; am besten macht man einen großen Bogen um den Penner) – kreischten Teenager Philosophie, verfassten Schläger Gedichte, entmystifizierten Frauen das Weibliche, benannte sich ein nettes jüdisches Mädchen namens Susan Whitby in Lora Logic um und erklomm die in einen Nebel von Gewalt und Chaos gehüllte Bühne im Roxy. Jeder schrie an der Melodie vorbei, dann am Reim, dann an den Harmonien, dann am Rhythmus, dann am Beat, bis der Schrei zum Grundprinzip, manchmal zum einzigen Prinzip der Sprache wurde. Alte Flüche wurden als Übermittler vergessener Verwünschungen, die wiederum verschüttete Wünsche enthielten, zu Plastikscheiben von sieben Zoll Durchmesser gepresst, in der Hoffnung, jemand würde die Codes knacken, von denen die Sprecher selbst nicht wussten, dass sie sie übermittelten.
Langsam fragte ich mich, woher diese Stimme kam. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich ab Ende 1975, fand an einem bestimmten Ort – erst London, dann überall in Großbritannien, dann hier und da auf der ganzen Welt – eine Negation aller gesellschaftlichen Fakten statt, die eine Behauptung beinhaltete, dass alles möglich war. »Ich sah die Sex Pistols«, sagte Bernard Sumner von Joy Division (später, nach dem Selbstmord ihres Sängers, New Order). »Sie waren schauderhaft. Ich fand sie großartig. Ich wollte aufstehen und auch schauderhaft sein.« Künstler machten sich zum Narren, zogen über ihre Vorfahren her und bespuckten ihr Publikum, das zurückspuckte. Ich fragte mich, woher diese Gesten kamen. Letztlich war es nichts anderes als ein künstlerisches Statement, doch solche Statements sind selten, in welcher Form auch immer sie übermittelt und rezipiert werden. Ich wusste eine Menge über Rock ’n’ Roll, aber darüber wusste ich nichts. Kamen die Stimme und die Gesten aus dem Nirgendwo, oder gab es eine Art Initialzündung? Und wenn sie gezündet wurden, wie und wodurch?
EIN ZWANZIGJÄHRIGER
steht vor einem Mikrofon, erklärt sich zu einem alles verzehrenden Dämon und macht dann alles um sich her nieder … legt es in Schutt und Asche. Den Ansprüchen der Gesellschaft verweigert er sich mit Gelächter, und mit einer Vokalverschiebung, so gewaltsam, dass sie pure Freude auslöst, zieht er seiner Gesellschaft die Geschichte unter den Füßen weg. Die Früchte westlicher Zivilisation reduziert er auf eine Reihe von Guerilla-Abkürzungen, die grüne und liebliche Insel England zu einem Häuserblock Sozialwohnungen. »Unsere Architektur ist so banal und destruktiv für den menschlichen Geist, dass einen bereits der Gang zur Arbeit in Depressionen stürzt. Die Straßen sind schäbig, eklig und müllbedeckt, der Beton fleckig vom Regen und graffitibeschmiert, die Treppenhäuser der Experimente sozialer Ingenieurskunst von Scheiße, Junkies und Graffiti übersät. Niemand verlässt sein Zimmer. Es gibt keinerlei Gemeinschaftsgefühl, weshalb alte Leute verzweifelt und einsam sterben. Die Lebensqualität ist gesunken« – das stammt nicht von Johnny Rotten aus der Zeit, als er 1976 »Anarchy in the U.K.« aufnahm, sondern von »Saint Bob« Geldof (der als Organisator einer Kampagne von Popmusikern gegen den Hunger in Afrika 1986 beinahe den Friedensnobelpreis bekommen hätte), der damit die Gesellschaftskritik von »Anarchy in the U.K.« 1985 wiederholte. Genau das sagte dieser Song, zu einem bissigen Eintopf zusammengekocht … bloß dass es nicht weinerlich klang, wenn ihn die Sex Pistols vortrugen, sondern sardonisch-vergnügt.
Is this the em pee el ay
Or is this the yew dee ay
Or is this the eye rrrrrr ay
I thought it was the yew kay
Or just
Another
Country
Another council tenancy!
Es war der Sound der einstürzenden Stadt. Aus dem wohlüberlegten, beabsichtigten Lärm, in dem die Worte sich so überschlugen, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte, hörte man, wie gesellschaftliche Fakten zerfielen; wenn Johnny Rotten seine Rs rollte, klang es, als hätte er nadelspitz zurechtgefeilte Zähne. Dieser Code musste nicht entschlüsselt werden: Wer kannte schon die MPLA, und wen kümmerte es? Die Welt kurz und klein schlagen, das klang nach Spaß. Es hörte sich nach Freiheit an. Es war die Freiheit, zur Feier der Nachricht, in San Diego habe ein junges Mädchen namens Brenda Spencer in ihrer High-School um sich geschossen und drei Menschen getötet, weil sie keine Montage mochte, einen Song zu schreiben – wie es Bob Geldof tat.
»I Don’t Like Mondays« war ein Hit; in den USA hätte er die Nummer Eins werden können, wäre nicht Brenda Spencers Recht auf ein faires Gerichtsverfahren dazwischengekommen. Zu schade … stand ein Song wie »I Don’t Like Mondays« nicht für alles, was »Punk« ausmachte, wie man die von den Sex Pistols hervorgebrachte, vermutlich nihilistische Musik nennen sollte? Aber was machte sie aus? Im Verlauf eines Interviews klingt Geldofs Version von »Anarchy in the U.K.« ebenso wie die Erklärungen, die Johnny Rotten 1976 und 1977 für Interviewer parat hatte, völlig rational. Aber auf Schallplatte erinnern einen sowohl Fleischfresser Johnny als auch Saint Bob an die Worte des Surrealisten Luis Buñuel; der nannte, wie die Filmkritikerin Pauline Kael schreibt, »einmal diejenigen, die Un Chien andalou lobten, ›jenen Haufen Kretins, die den Film schön oder poetisch finden, obwohl er im Grunde genommen ein verzweifelter und leidenschaftlicher Aufruf zum Mord ist‹«.
Es geht um Nihilismus … doch »Anarchy in the U.K.« war, wie ein Fan gern glauben möchte, etwas anderes: eine Farce zum Zwecke der Negation. »›Anarchy in the U.K.‹ ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, von höchster Unabhängigkeit, von Die-Dinge-selbst-in-die-Hand-nehmen«, sagte Malcolm McLaren, der Manager der Sex Pistols, und was immer das heißen mochte (was selbst in die Hand nehmen?), Nihilismus war es nicht. Nihilismus ist der Glaube an nichts und der Wunsch, nichts zu werden; das Vergessen ist seine Hauptleidenschaft. Seine beste Darstellung findet sich in Tulsa von Larry