Der Idiot. Fjodor Dostojewski

Читать онлайн.
Название Der Idiot
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188651



Скачать книгу

dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.

      Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.

      »Führen Sie ihn doch weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganja!« fügte er für sich hinzu.

      »Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach einer zwanzigjährigen Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie Atos, Portos und Aramis. Aber leider liegt der eine von uns im Grab, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen ...«

      »Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.

      »Sie sitzen hier, in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«

      »Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn ...!« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen.

      »Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja; aber ... es lohnt nicht der Mühe, es zu erzählen.«

      »Aber unbedingt müssen Sie es erzählen!« rief Nastasja Filippowna lustig.

      »Auch ich habe diese Geschichte noch nicht gehört«, bemerkte Ferdyschtschenko. »C'est du nouveau.«

      »Ardalion Alexandrowitsch!« rief Nina Alexandrowna wieder in flehendem Ton.

      »Papa, es fragt jemand nach Ihnen«, sagte Kolja.

      »Es ist eine dumme Geschichte, und sie läßt sich in wenigen Worten erzählen«, begann der General sehr selbstzufrieden. »Vor zwei Jahren, ja, vor noch nicht ganz zwei Jahren, die Eröffnung der neuen ... skischen Eisenbahn hatte soeben stattgefunden, mußte ich in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit (es handelte sich um den Austritt aus meiner dienstlichen Stellung) eine Reise machen; ich war schon in Zivil und nahm mir ein Billett erster Klasse. Ich stieg ein, setzte mich hin und rauchte. Das heißt, ich fuhr fort zu rauchen; angesteckt hatte ich mir die Zigarre schon vorher. Ich war in dem Abteil ganz allein. Das Rauchen ist nicht verboten, aber auch nicht erlaubt, es ist so halb erlaubt und geschieht üblicherweise; na, und es kommt auch auf die Person des Betreffenden an. Das Fenster war heruntergelassen. Plötzlich, kurz bevor die Lokomotive pfiff, stiegen zwei Damen mit einem Bologneserhündchen ein und setzten sich mir gerade gegenüber; sie hatten sich verspätet; die eine war höchst elegant gekleidet, in Hellblau; die andere bescheidener, in einem schwarzseidenen Kleid mit einer Pelerine. Sie waren beide hübsch, machten aber hochmütige Gesichter und sprachen Englisch. Ich kümmerte mich natürlich nicht um sie und rauchte weiter. Das heißt, ich dachte schon daran, aufzuhören; aber da das Fenster offen war, so rauchte ich weiter, zum Fenster hinaus. Das Bologneserhündchen lag ruhig auf dem Schoß der hellblauen Dame; es war ein kleines Tier, so groß wie eine Faust, schwarz, mit weißen Pfoten, geradezu eine Seltenheit; es hatte ein silbernes Halsband mit einer Inschrift darauf. Ich kümmerte mich um nichts, merkte aber, daß die Damen sich ärgerten, offenbar über meine Zigarre. Die eine starrte mich durch ihre schildpattne Lorgnette an. Ich blieb dabei, mich nicht um sie zu kümmern; denn sie sagten ja kein Wort zu mir! Sie hätten doch reden, mich ersuchen, mich bitten können; wozu hat der Mensch denn schließlich seine Zunge? Aber nein, sie schwiegen ... Auf einmal (und zwar, wie ich Ihnen sage, ohne die geringste, das heißt ohne die allergeringste vorhergehende Bemerkung, ganz wie wenn sie von Sinnen gekommen wäre) reißt mir die Hellblaue die Zigarre aus der Hand und wirft sie aus dem Fenster. Der Zug sauste dahin; ich wußte gar nicht, wie mir geschehen war. Das mußte ein tolles Frauenzimmer sein, ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte; im übrigen war es ein stattliches Weib, üppig, hochgewachsen, blond, mit roten (fast zu roten) Backen, und ihre Augen funkelten mich nur so an. Ohne ein Wort zu sagen, nähere ich mich mit der größten Höflichkeit, mit der vollendetsten Höflichkeit, sozusagen mit der raffiniertesten Höflichkeit dem Bologneserhündchen, fasse es ganz behutsam mit zwei Fingern am Genick und werfe es der Zigarre nach aus dem Fenster! Es winselte nur ein wenig! Der Zug sauste weiter.«

      »Sie sind ein Unmensch!« rief Nastasja Filippowna lachend und klatschte wie ein kleines Mädchen in die Hände.

      »Bravo, bravo!« rief Ferdyschtschenko.

      Auch Ptizyn, dem das Erscheinen des Generals gleichfalls sehr unangenehm gewesen war, lächelte; sogar Kolja lachte und rief ebenfalls: »Bravo!«

      »Und ich war im Recht, ich war im Recht, durchaus im Recht!« fuhr der triumphierende General eifrig fort. »Denn wenn das Rauchen auf der Bahn verboten ist, so ist das Mitnehmen von Hunden noch weit mehr verboten.«

      »Bravo, Papa!« rief Kolja ganz entzückt. »Großartig! Ich hätte es unbedingt ebenso gemacht, unbedingt!«

      »Aber was tat denn nun die Dame?« fragte Nastasja Filippowna ungeduldig.

      »Die? Ja, das ist nun eben das Unangenehme bei der Geschichte«, fuhr der General stirnrunzelnd fort. »Ohne ein Wort zu sagen, ohne vorher auch nur die geringste Andeutung zu machen, versetzte sie mir eine Ohrfeige! Ein tolles Frauenzimmer, von einer ganz tollen Sorte!«

      »Und Sie?«

      Der General schlug die Augen nieder, zog die Augenbrauen und die Schultern in die Höhe, preßte die Lippen zusammen, breitete die Arme auseinander, schwieg ein Weilchen und sagte dann:

      »Ich ließ mich hinreißen!«

      »Haben Sie ihr weh getan? Ja?«

      »Weiß Gott, weh getan habe ich ihr eigentlich nicht! Es hat viel häßliches Gerede gegeben; aber weh habe ich ihr eigentlich nicht getan. Ich habe nur eine einzige abwehrende Handbewegung gemacht, lediglich um sie mir vom Leibe zu halten. Aber da hatte nun der Teufel selbst sein Spiel: Es stellte sich heraus, daß die Hellblaue eine Engländerin war, eine Gouvernante oder sogar Hausfreundin der Fürstin Bjelokonskaja; und die im schwarzen Kleid, das war die älteste Komtesse Bjelokonskaja, eine alte Jungfer von etwa fünfunddreißig Jahren. Nun ist allgemein bekannt, in wie nahen Beziehungen die Generalin Jepantschina zu dem Bjelokonskischen Hause steht. Alle Komtessen fielen in Ohnmacht, weinten, legten Trauer um das Lieblingshündchen an; die sechs Komtessen winselten, die Engländerin winselte; es war, als sollte die Welt untergehen! Na, natürlich fuhr ich als reuiger Sünder hin, schrieb einen Brief, bat um Verzeihung; aber weder ich wurde angenommen noch mein Brief. Und mit Jepantschin bekam ich infolgedessen Streit; er kündigte mir die Freundschaft, und aller Verkehr zwischen uns hörte auf.«

      »Aber erlauben Sie, wie geht denn das zu?« fragte Nastasja Filippowna plötzlich; »vor fünf oder sechs Tagen habe ich in der ›Indépendance‹ (ich lese die ›Indépendance‹ ständig) genau dieselbe Geschichte gelesen. Aber vollständig dieselbe! Der betreffende Vorfall spielte sich auf einer rheinischen Bahn in einem Waggon zwischen einem Franzosen und einer Engländerin ab; es wurde ganz ebenso jemandem die Zigarre aus der Hand gerissen und ganz ebenso ein Bologneserhündchen aus dem Fenster geworfen; auch endete die Geschichte ganz ebenso wie bei Ihnen. Selbst das hellblaue Kleid stimmt!«

      Der General wurde sehr rot; auch Kolja errötete und preßte sich den Kopf mit den Händen zusammen; Ptizyn wendete sich schnell ab. Nur Ferdyschtschenko lachte wie vorher. Von Ganja brauchte man weiter nicht zu reden: er stand die ganze Zeit über da und machte stumme, unerträgliche Qualen durch.

      »Ich kann Ihnen versichern«, murmelte der