Im letzten Jahr versöhnte ich mich sogar beinah mit Thibaut und dem Pastor. Schneider aber disputierte mit mir viel über meine verderbliche ›Methode‹, mit den Kindern umzugehen. Aber von einer wirklichen ›Methode‹ war bei mir ja gar nicht die Rede! Zuletzt (es war schon kurz vor meiner Abreise) sprach Schneider mir gegenüber einen recht seltsamen Gedanken aus: er sagte zu mir, er habe jetzt die sichere Überzeugung gewonnen, daß ich selbst ein vollständiges Kind sei; ich hätte nur an Wuchs und Gesicht Ähnlichkeit mit einem Erwachsenen; aber was die Entwicklung der Seele, des Charakters und vielleicht auch des Verstandes anlange, sei ich kein Erwachsener, und ich würde so bleiben, auch wenn ich sechzig Jahre alt würde. Ich lachte darüber herzlich; er hat natürlich unrecht; denn ich bin ja doch kein kleines Kind! Eines ist allerdings daran wahr, nur eines: ich bin wirklich nicht gern mit Erwachsenen, mit Großen zusammen (ich habe das schon längst an mir beobachtet); ich bin nicht gern mit ihnen zusammen, weil ich sie nicht verstehe. Was sie auch mit mir sprechen und wie gut sie auch gegen mich sein mögen, ich fühle mich doch stets in ihrer Gesellschaft bedrückt und bin heilfroh, wenn ich so bald wie möglich zu meinen Kameraden gehen kann, und meine Kameraden waren immer die Kinder, aber nicht, weil ich selbst ein Kind war, sondern weil es mich einfach zu den Kindern hinzog. Wenn ich, noch am Anfang meines Aufenthalts in dem Dorf, allein in die Berge gegangen war, um meinem Kummer nachzuhängen, und wenn ich dann, namentlich mittags, wo sie aus der Schule kamen, diesem lärmenden Schwarm begegnete, der mit seinen Bücherranzen und Schiefertafeln schreiend, lachend und spielend einherrannte, dann strebte auf einmal meine ganze Seele zu diesen Kindern hin. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich empfand bei jeder Begegnung mit ihnen ein außerordentlich starkes Gefühl von Glückseligkeit. Ich blieb stehen und lachte vor Freude, wenn ich sah, wie ihre kleinen, flinken Beinchen in beständiger Bewegung waren, wie die kleinen Jungen und Mädchen miteinander dahinrannten, wie sie lachten und weinten (denn viele hatten auf dem Weg von der Schule nach Haus schon Zeit gefunden, sich zu prügeln, zu heulen, sich wieder zu versöhnen und weiterzuspielen), und ich vergaß dann meinen ganzen Kummer. Später, während dieser ganzen drei Jahre, konnte ich gar nicht begreifen, weshalb die Menschen sich überhaupt grämen. Mein ganzes Dasein drehte sich um die Kinder. Ich nahm gar nicht in Aussicht, das Dorf jemals wieder zu verlassen, und es kam mir nicht in den Sinn, daß ich einmal wieder hierher nach Rußland fahren würde. Ich meinte, ich würde immer dort bleiben; aber ich sah schließlich ein, daß Schneider doch nicht länger die Kosten meines Unterhalts tragen konnte. Und dann kam eine so wichtige Angelegenheit hinzu, daß Schneider selbst mich zum Reisen drängte und mir das Fahrgeld zur Reise hierher gab. Ich will nun sehen, was eigentlich vorliegt, und jemanden um Rat fragen. Vielleicht wird sich mein äußeres Schicksal vollständig ändern; aber das ist nicht so wichtig und nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß sich bereits mein ganzes Leben geändert hat. Ich habe dort viel verlassen, sehr viel. Alles ist entschwunden. Ich saß im Waggon und dachte: ›Jetzt gehe ich nun zu den Menschen; ich verstehe vielleicht noch nichts davon, aber es hat ein neues Leben für mich begonnen.‹ Ich nahm mir vor, meine Aufgabe redlich und standhaft zu erfüllen. Ich werde mich im Verkehr mit den Menschen vielleicht unbehaglich und bedrückt fühlen. Ich habe mir vorgenommen, von vornherein gegen alle höflich und offen zu sein; mehr wird ja doch niemand von mir verlangen. Vielleicht werden mich die Leute auch hier für ein Kind halten; nun, meinetwegen! Es halten mich auch alle, ich weiß nicht warum, für einen Idioten, und ich war tatsächlich einmal so krank, daß ich damals mit einem Idioten Ähnlichkeit hatte; aber wie kann ich jetzt ein Idiot sein, da ich doch selbst begreife, daß man mich für einen Idioten hält? Wenn ich so in ein Zimmer trete, so denke ich: ›Da halten mich nun die Leute für einen Idioten, und ich bin doch verständig, aber sie merken das nicht einmal ...‹ Dieser Gedanke kommt mir oft. Als ich in Berlin aus meinem Dörfchen ein paar kleine Briefe erhielt, die die Kinder sich beeilt hatten sogleich an mich zu schreiben, da empfand ich erst so ganz, wie lieb ich sie hatte. Es ist ein sehr schmerzliches Gefühl, wenn man den ersten Brief bekommt! Wie betrübt sie waren, als sie mir bei meiner Abreise das Geleit gaben! Schon einen Monat vorher sagten sie häufig: ›Léon s'en va, Léon s'en va pour toujours!‹ Wir kamen wie früher jeden Abend bei dem Wasserfall zusammen und sprachen immer von unserer bevorstehenden Trennung. Mitunter ging es ebenso heiter zu wie vorher; aber wenn sie dann von mir Abschied nahmen, um schlafen zu gehen, umarmten sie mich fest und herzlich, was sie früher nicht getan hatten. Manche kamen heimlich, ohne daß die andern es merkten, einzeln zu mir gelaufen, nur um mich ganz allein, nicht vor aller Augen, zu umarmen und zu küssen. Als es so weit war, daß ich mich auf den Weg machen mußte, begleitete mich der ganze Schwarm nach der Eisenbahnstation, die von unserem Dorf ungefähr eine Werst entfernt war. Sie nahmen sich zusammen, um nicht zu weinen; aber viele konnten sich doch nicht beherrschen und weinten laut, namentlich die Mädchen. Wir beeilten uns, um nicht zu spät zu kommen; aber unterwegs kam doch bald dieser, bald jener aus dem Haufen zu mir hingestürzt, umschlang mich mit seinen kleinen Ärmchen und küßte mich, obgleich er dadurch den ganzen Trupp aufhielt; aber wiewohl wir es eilig hatten, blieben doch alle stehen und warteten, bis er in dieser Weise Abschied genommen hatte. Als ich in den Waggon gestiegen war und sich der Zug in Bewegung setzte, schrien sie alle ›Hurra!‹ und standen noch lange da, bis der Zug ganz abgefahren war. Und auch ich blickte nach ihnen zurück ... Wissen Sie, als ich vorhin hier eintrat und Ihre lieben Gesichter sah (ich achte jetzt sehr auf die Gesichter) und Ihre ersten Worte hörte, da wurde mir zum ersten Mal seit jener Zeit leicht ums Herz. Ich sagte mir vorhin schon, daß ich vielleicht geradezu ein Glückskind bin; ich weiß ja, daß man nicht erwarten kann, so bald solche Menschen zu treffen, die man sofort liebgewinnt, und nun habe ich Sie, kaum daß ich von der Bahn gekommen bin, sogleich getroffen. Ich weiß sehr wohl, daß sich alle Leute schämen, von ihren Gefühlen zu reden; aber Ihnen gegenüber, sehen Sie, rede ich von meinen Gefühlen und schäme mich nicht vor Ihnen. Ich bin menschenscheu und werde vielleicht lange nicht wieder zu Ihnen kommen. Mißdeuten Sie meine Worte nicht: ich sage das nicht etwa, weil mir der Verkehr mit Ihnen nicht von hohem Wert wäre; glauben Sie auch nicht, daß ich mich durch irgend etwas gekränkt fühlte! Sie fragten mich vorhin nach Ihren Gesichtern und was ich darin bemerkt hätte; ich will es Ihnen mit dem größten Vergnügen sagen. Sie, Adelaida Iwanowna, haben ein glückliches Gesicht, das sympathischste von allen dreien. Ganz abgesehen davon, daß Sie sehr schön sind, sagt man sich bei Ihrem Anblick: ›Sie hat ein Gesicht wie eine gute Schwester.‹ Sie treten einfach und heiter an jemand heran, verstehen es aber auch, das Herz desselben schnell zu erkennen. So denke ich über Ihr Gesicht. Auch Sie, Alexandra Iwanowna, haben ein schönes und sehr liebes Gesicht; aber vielleicht haben Sie einen geheimen Kummer; Ihr Herz ist ohne Zweifel sehr gut, aber Sie sind nicht heiter. Sie haben einen besonderen Zug im Gesicht, ungefähr wie die Holbeinsche Madonna in Dresden. Da haben Sie meine Meinung auch über Ihr Gesicht. Kann ich gut raten? Sie nehmen ja selbst an, daß ich diese Fähigkeit besitze. Was aber Ihr Gesicht anlangt, Lisaweta Prokofjewna«, wandte er sich plötzlich zur Generalin, »so habe ich auf Grund desselben nicht nur die Vermutung, sondern die völlige Überzeugung, daß Sie ein vollständiges Kind sind, in all und jeder Hinsicht, in allem Guten und in allem Schlechten, obwohl Sie bereits in einem solchen Lebensalter stehen. Sie sind doch nicht böse, weil ich das alles so offen ausspreche? Sie wissen ja, wofür ich die Kinder halte. Und glauben Sie nicht, daß ich Ihnen das alles über Ihre Gesichter soeben lediglich aus Naivität so frei heraus gesagt habe; oh nein, durchaus nicht! Vielleicht hatte auch ich meine besondere Absicht dabei.«
VII
Als der Fürst nun schwieg, blickten alle, selbst Aglaja, namentlich aber Lisaweta Prokofjewna, ihn vergnügt an. »Da habt ihr ihn ja nett examiniert!« rief sie. »Ja, meine verehrten Damen, ihr dachtet, ihr würdet ihn wie einen armen Schlucker protegieren, und nun hat er selbst euch nur zur Not für eine seiner würdige Gesellschaft erklärt und noch dazu gleich vorher angekündigt, daß er nur selten herkommen werde. Seht ihr wohl, da sind wir nun, worüber ich mich freue, die Blamierten, und am allermeisten Iwan Fjodorowitsch. Bravo, Fürst! Wir hatten vorhin die Weisung erhalten, wir sollten Sie examinieren. Was Sie aber von meinem Gesicht sagten, das ist durchaus richtig: ich bin ein Kind und weiß das. Ich habe es schon früher gewußt als Sie, und Sie haben nur meine eigene Ansicht in knapper Form zum Ausdruck gebracht. Ich meine, daß Ihr Charakter mit dem meinigen völlig übereinstimmt, und freue mich sehr darüber; die beiden sind sich ähnlich wie ein Ei dem andern. Nur sind Sie ein Mann und ich eine Frau, auch bin ich nicht in der