Название | Fjodor Dostojewski: Hauptwerke |
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Автор произведения | Fjodor Dostojewski |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754189153 |
Oh, jetzt ist mir schon alles gleichgültig; jetzt habe ich keine Zeit mehr, mich zu ärgern; aber damals, damals, ich wiederhole es, ärgerte ich mich und habe tatsächlich nachts vor Wut an meinem Kopfkissen genagt und meine Bettdecke zerrissen. Oh, in was für Phantasien erging ich mich damals, wie sehnlich wünschte ich, man möchte mich, den Achtzehnjährigen, kaum bekleidet, auf einmal auf die Straße jagen und mich da ganz mir selbst überlassen, ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne einen Bissen Brot, ohne Verwandte, ohne einen einzigen bekannten Menschen in der ungeheuren Stadt, hungrig, zerprügelt (um so besser!), aber gesund; und da hätte ich zeigen wollen ...
Was hätte ich zeigen wollen?
Oh, glauben Sie wirklich, daß ich nicht weiß, wie sehr ich mich ohnehin schon durch diese meine ›Erklärung‹ erniedrigt habe? Jeder wird mich ja für einen dummen Jungen halten, der das Leben nicht kennt, und wird vergessen, daß ich noch nicht achtzehn Jahre alt bin, und daß ein solches Leben zu führen, wie ich es in diesen sechs Monaten geführt habe, denselben Wert hat, wie wenn einer alt und grau wird! Aber mögen die Leute lachen und sagen, daß das lauter Märchen sind. Ich habe mir wirklich Märchen erzählt. Ganze Nächte habe ich mit ihnen ausgefüllt; ich erinnere mich jetzt an sie alle.
Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem soll ich sie wiedererzählen? Ich habe mich damals an ihnen belustigt, als ich klar sah, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen; es fiel mir zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax werde gelangt sein, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt noch; ich habe unserer Magd Matrona verboten, es aufzuheben.
Mag immerhin, wer meine ›Erklärung‹ in die Hände bekommt und die Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten, oder auch für einen Gymnasiasten, oder am wahrscheinlichsten für einen zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zu wenig zu schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag man das denken; was tut's? Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt, und daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig ist. Man frage doch nur die Menschen, worein sie alle, vom ersten bis zum letzten, das Glück setzen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus nicht glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern zu der Zeit, als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa zurückzuwenden! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich entdeckt wurde; die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen, was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, lebenslänglich damit beschäftigt ist, zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat mit den landläufigsten Redensarten eine solche Ähnlichkeit, daß man mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird, der einen Aufsatz über den Sonnenuntergang schreibt, oder sagen wird, ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht verstanden, mich auszudrücken. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei jedem genialen oder neuen Menschengedanken oder einfach sogar bei jedem ernsten Menschengedanken, der in jemandes Kopf entsteht, immer ein Rest übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel des Urhebers herausgehen will und lebenslänglich darinbleibt; und so stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben.
Indessen, ich fahre fort.
VI
Ich will nicht lügen: das tätige Leben hat in diesen sechs Monaten auch nach mir seinen Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder, richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine damalige äußere Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie mich auch ohne das vergessen. Auch zu Hause, das heißt in der Familie, stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie gar nicht mehr. Die Meinigen gehorchten mir stets, und niemand wagte zu mir hereinzukommen, außer um zu bestimmter Stunde das Zimmer aufzuräumen und mir das Mittagessen zu bringen. Meine Mutter nahm zitternd meine Befehle entgegen und wagte nicht einmal vor meinen Ohren zu jammern, wenn ich mich mitunter entschloß, sie zu mir hereinzulassen. Die Kinder schlug sie um meinetwillen beständig, damit sie nicht Lärm machten und mich dadurch störten; denn ich beklagte mich oft über ihr Geschrei; ich kann mir denken, wie lieb sie mich jetzt haben! Den ›treuen Kolja‹, wie ich ihn benannt habe, werde ich wohl auch gehörig gequält haben. In der letzten Zeit hat auch er mich gepeinigt: das alles war ganz natürlich; die Menschen sind eben dazu geschaffen, einander zu peinigen. Aber ich merkte, daß er mein reizbares Wesen so ertrug, als hätte er sich von vornherein vorgenommen, mit mir als einem Kranken schonend umzugehen. Natürlich reizte mich das