Fjodor Dostojewski: Hauptwerke. Fjodor Dostojewski

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Название Fjodor Dostojewski: Hauptwerke
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754189153



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absurden Gedanken zurück, der ihm gekommen war ...

      Auf dem Bahnhof in Pawlowsk versammelt sich an den Wochentagen, wie allgemein bekannt ist oder wenigstens alle behaupten, ein »feineres« Publikum als an Sonn- und Festtagen, wo »alle möglichen Leute« aus der Stadt herauskommen. Die Toiletten sind nicht festtäglich, aber elegant. Es ist Sitte, sich bei der Musik zu treffen. Die Kapelle ist vielleicht tatsächlich die beste unserer Gartenkapellen und spielt moderne Sachen. Die dort herrschende Wohlanständigkeit und Etikette sind hervorragend, trotzdem das Ganze bis zu einem gewissen Grade einen Anstrich von Familienhaftigkeit, ja von Intimität hat. Bekannte, sämtlich Sommerfrischler, finden sich dort zusammen, um einander wechselseitig zu mustern. Viele vollführen das mit wirklichem Vergnügen und gehen nur zu diesem Zweck hin; aber es gibt auch einige, die lediglich um der Musik willen kommen. Skandalszenen sind äußerst selten, wiewohl sie auch an Wochentagen vorkommen. Aber ganz ohne solche geht es nun einmal nicht ab.

      Es war diesmal ein wundervoller Abend und ziemlich viel Publikum beisammen. Alle Plätze in der Umgebung der musizierenden Kapelle waren besetzt. Unsere Gesellschaft nahm auf Stühlen etwas mehr seitwärts Platz, dicht bei dem linken Bahnhofsausgang. Die bunte Menge und die Musik übten auf Lisaweta Prokofjewna bis zu einem gewissen Grad eine belebende Wirkung aus und brachten den jungen Mädchen etwas Zerstreuung; sie hatten schon Zeit gefunden, mit diesem und jenem ihrer Bekannten einen Blick zu wechseln, einem und dem andern von weitem freundlich zuzunicken, die Kostüme zu betrachten, einige Sonderbarkeiten daran zu bemerken, darüber ihre Ansichten auszutauschen und spöttisch zu lächeln. Jewgeni Pawlowitsch verneigte sich ebenfalls sehr häufig. Auf Aglaja und den Fürsten, die immer noch zusammen waren, war schon mancher aufmerksam geworden. Bald traten zur Mutter und zu den jungen Damen einzelne junge Männer aus ihrem Bekanntenkreis heran, um sie zu begrüßen; zwei oder drei blieben da und unterhielten sich mit ihnen; alle waren sie mit Jewgeni Pawlowitsch befreundet. Unter ihnen befand sich ein junger, sehr hübscher Offizier, ein sehr munterer, redseliger Mensch; er beeilte sich, mit Aglaja ein Gespräch anzuknüpfen, und bemühte sich aus allen Kräften, ihr Interesse zu erregen. Aglaja benahm sich gegen ihn sehr gnädig und zeigte sich sehr lachlustig. Jewgeni Pawlowitsch bat den Fürsten um die Erlaubnis, ihn mit diesem Freund bekanntmachen zu dürfen; der Fürst verstand kaum, was man mit ihm vornehmen wollte; aber die Vorstellung kam doch zustande, beide verbeugten sich gegeneinander und reichten sich die Hand. Jewgeni Pawlowitschs Freund tat eine Frage; aber der Fürst antwortete, wie es schien, gar nicht darauf oder murmelte höchstens in so sonderbarer Weise etwas vor sich hin, daß der Offizier ihn mit einem prüfenden Blick scharf anschaute, dann nach Jewgeni Pawlowitsch hinsah, sogleich begriff, warum dieser den Einfall gehabt hatte, sie einander vorzustellen, leise lächelte und sich wieder zu Aglaja wandte. Nur Jewgeni Pawlowitsch nahm es wahr, daß Aglaja plötzlich darüber errötete.

      Der Fürst bemerkte es gar nicht einmal, daß andere mit Aglaja sprachen und ihr den Hof machten; minutenlang vergaß er sogar, daß er selbst neben ihr saß. Manchmal befiel ihn ein Verlangen, irgendwohin wegzugehen, ganz von hier zu verschwinden; es hätte ihm sogar ein düsterer, öder Ort zugesagt, wenn er nur hätte mit seinen Gedanken allein sein können und niemand gewußt hätte, wo er sich befände. Oder wenn er wenigstens hätte bei sich zu Hause sein können, in der Veranda, aber so, daß niemand bei ihm wäre, weder Lebedjew noch die Kinder; dann hätte er sich auf sein Sofa geworfen, das Gesicht in das Kissen gedrückt und so einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag dagelegen. In einzelnen Augenblicken traten ihm auch die Berge vor die Seele und namentlich eine ihm wohlbekannte Stelle in den Bergen, an die er immer gern zurückgedacht hatte; nach dieser Stelle war er gern hingegangen, als er noch dort wohnte, und hatte von da auf das Dorf hinabgeblickt und auf den nur schwach schimmernden weißen Faden des Wasserfalls da unten und nach den weißen Wolken da oben und nach der alten Burgruine. Oh, wie gern wäre er jetzt wieder dort gewesen und hätte an das Eine gedacht – oh! das ganze Leben über nur daran – und für tausend Jahre hätte er an diesem einen Gedanken genug gehabt! Hier hätte man ihn ganz vergessen mögen. Und das wäre sogar notwendig gewesen; und das beste wäre gewesen, wenn man ihn hier gar nicht gekannt hätte und das alles nur ein Traumbild gewesen wäre. Aber war es denn nicht ganz gleich, ob es ein Traum oder Wirklichkeit war? Manchmal begann er auf einmal Aglaja zu betrachten und konnte fünf Minuten lang seinen Blick nicht von ihrem Gesicht losreißen; aber sein Blick war sehr sonderbar; er schien sie so anzusehen, als wäre sie ein etwa zwei Werst weit von ihm entfernter Gegenstand, oder als wäre sie ihr Porträt und nicht sie selbst.

      »Warum sehen Sie mich denn so an, Fürst?« fragte sie auf einmal, indem sie das heitere Geplauder und Gelache mit ihrer Umgebung unterbrach. »Ich fürchte mich vor Ihnen; ich habe immer die Vorstellung, Sie wollten die Hand ausstrecken und mein Gesicht mit dem Finger berühren, um es zu befühlen. Nicht wahr, Jewgeni Pawlowitsch, so sieht er mich an?«

      Der Fürst hörte, wie es schien, mit Erstaunen, daß sich jemand an ihn wandte, überlegte das Gesagte, wiewohl er es vielleicht nicht ganz verstand, gab jedoch keine Antwort; aber als er sah, daß sie und alle andern lachten, öffnete er plötzlich den Mund und begann ebenfalls zu lachen. Das Gelächter ringsum wurde noch stärker; der Offizier, der offenbar ein lachlustiger Mensch war, schüttelte sich nur so vor Lachen. Aglaja flüsterte auf einmal zornig vor sich hin: »So ein Idiot!«

      »O Gott! Kann sie denn wirklich so einen ... ist sie denn ganz verrückt geworden?« dachte Lisaweta Prokofjewna zähneknirschend im stillen.

      »Das ist ein Scherz! Es ist derselbe Scherz wie damals mit dem ›armen Ritter‹«, flüsterte ihr Alexandra im Ton fester Überzeugung ins Ohr; »weiter nichts! Sie hat sich in ihrer Weise wieder über ihn lustig gemacht. Nur geht dieser Scherz zu weit; man muß ihn abkürzen, Mama! Vorhin hat sie uns wie eine Komödiantin eine Szene vorgespielt und uns aus Unart einen Schreck eingejagt ...«

      »Es ist noch ein Glück, daß sie an einen solchen Idioten geraten ist«, flüsterte ihr Lisaweta Prokofjewna als Antwort zu.

      Die Bemerkung der Tochter hatte ihr doch das Herz etwas leichter gemacht.

      Der Fürst hörte, daß er ein Idiot genannt wurde, und fuhr zusammen, aber nicht infolge dieser Benennung (die vergaß er sofort wieder); sondern in der Menge, nicht weit von der Stelle, wo er saß, irgendwo seitwärts (er hätte die Stelle und den Punkt, wo es gewesen war, schlechterdings nicht bezeichnen können), war ein Männergesicht aufgetaucht, ein blasses Gesicht, mit lockigem, dunklem Haar, mit einem ihm bekannten, sehr bekannten Blick und Lächeln; es war aufgetaucht und wieder verschwunden. Sehr gut möglich, daß er es sich nur eingebildet hatte; von der ganzen Vision blieb ihm nur der Eindruck des schiefen Lächelns, der Augen und des hellgrünen, stutzerhaften Halstuches, das der vorüberhuschende Herr getragen hatte, im Gedächtnis haften. Ob dieser Herr in der Menge verschwunden oder in den Bahnhof hineingeschlüpft war, das konnte der Fürst gleichfalls nicht sagen.

      Aber einen Augenblick darauf begann er auf einmal schnell und unruhig um sich zu blicken; diese erste Vision konnte die Vorbotin und Vorgängerin einer zweiten sein. Das war mit Sicherheit anzunehmen. Hatte er wirklich, als er nach dem Bahnhof ging, gar nicht an die Möglichkeit eines Zusammentreffens gedacht? Während er nach dem Bahnhof ging, hatte er allerdings gar nicht gewußt, daß er dorthin ging; in einem solchen Zustand hatte er sich befunden. Wenn er verstanden oder vermocht hätte aufmerksamer zu sein, so hätte er schon vor einer Viertelstunde bemerken können, daß Aglaja ab und zu ebenfalls mit einer gewissen Unruhe eilig um sich blickte, ebenfalls als ob sie etwas um sich herum suche. Jetzt, als seine Unruhe stark bemerkbar wurde, wuchs auch Aglajas Aufregung und Unruhe, und kaum blickte er rückwärts, so tat auch sie fast im gleichen Augenblick dasselbe. Das Ereignis, dem mit solcher Unruhe entgegengesehen wurde, ließ nicht lange auf sich warten.

      Von eben jenem Seitenausgang des Bahnhofes her, neben dem der Fürst und die ganze Jepantschinsche Gesellschaft Platz genommen hatten, erschien ein ganzer Schwarm von mindestens zehn Menschen. An der Spitze dieses Schwarmes gingen drei Frauen; zwei von ihnen waren außerordentlich schön, und es war nicht zu verwundern, daß ihnen so viele Verehrer nachfolgten. Aber sowohl die Verehrer als auch die Frauen, alle hatten etwas Besonderes an sich, etwas, was von dem Wesen des übrigen bei der Musik versammelten Publikums stark abwich.

      Fast alle Anwesenden bemerkten die Ankömmlinge sofort,