Название | Fjodor Dostojewski: Hauptwerke |
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Автор произведения | Fjodor Dostojewski |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754189153 |
Dritter Teil
I
Es wird bei uns fortwährend darüber geklagt, daß es keine Praktiker gebe; Politiker zum Beispiel gebe es eine Menge, desgleichen eine Menge von Generalen; auch könne man Direktoren aller Art auf der Stelle so viele finden, als man nur irgend wolle; aber an Praktikern mangle es. Wenigstens ist es die allgemeine Klage, daß es daran mangle. Selbst bei manchen Eisenbahnen ist, wie man sagt, kein ordentliches Personal vorhanden; bei einer Dampfschiffahrts-Gesellschaft einen halbwegs erträglichen Betrieb herzustellen, ist, wie es heißt, ein Ding der Unmöglichkeit. An einer Stelle sind, wie man hört, auf einer neu eröffneten Strecke ein paar Züge zusammengestoßen oder mit einer zusammenbrechenden Brücke hinabgestürzt; an einer andern Stelle hat, wie man in der Zeitung liest, ein Zug mitten in einem Schneefeld beinah überwintern müssen: die Passagiere waren ausgefahren in der Erwartung, daß die Fahrt einige Stunden dauern werde, und mußten fünf Tage im Schnee zubringen. Wieder an einer andern Stelle faulen, wie erzählt wird, viele tausend Pud Ware auf ein und demselben Fleck, zwei, drei Monate lang in Erwartung des Abtransports, und der betreffende Expedient hat dem Vernehmen nach (es ist übrigens kaum zu glauben) dem kaufmännischen Kommis, der auf die Absendung seiner Ware drang, statt sein Verlangen zu erfüllen, einen Schlag ins Gesicht versetzt und dann sein Benehmen damit entschuldigt, daß er sagte, er sei »in Eifer geraten«. Im Staatsdienst haben wir, wie es scheint, so viele Ämter, daß es einem angst und bange wird, wenn man nur daran denkt; alle Leute haben Ämter bekleidet, tun es jetzt oder beabsichtigen, es zu tun; warum ist es da nicht möglich, aus einem so großen Menschenmaterial ein anständiges Betriebspersonal bei einer Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft zu bilden?
Auf diese Frage wird manchmal eine sehr einfache Antwort gegeben, eine so einfache Antwort, daß eine solche Erklärung kaum für richtig gehalten werden kann. Man sagt nämlich: allerdings haben bei uns alle Leute Ämter bekleidet oder tun es noch, und dieser Zustand dauert nun nach dem schönsten deutschen Vorbild schon zweihundert Jahre, von den Urgroßvätern bis zu den Urenkeln; aber gerade die Beamten sind ja die unpraktischsten Menschen, und es ist so weit gekommen, daß das rein abstrakte Wissen und der Mangel an praktischen Kenntnissen sogar unter den Beamten selbst noch vor kurzem fast als die größte Tugend und Empfehlung galt. Übrigens sind wir zweckloserweise auf die Beamten zu reden gekommen; wir wollten eigentlich von Praktikern sprechen. Auf diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das wichtigste und beste Merkmal eines Praktikers gegolten haben und sogar noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir nur uns selbst beschuldigen – wenn anders es eine Beschuldigung ist, von jemand zu sagen, daß er diese Anschauung hat? Der Mangel an Originalität hat überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer für die vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig Prozent der Menschen (das ist sogar noch ein sehr niedriger Ansatz) sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent urteilte und urteilt darüber anders.
Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als für Dummköpfe gehalten worden; das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so mußte selbstverständlich, als die Leihbank ab geschafft wurde und alle sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener Milliarden unfehlbar im Aktienfieber und in den Händen von Gaunern untergehen – und das forderten sogar der Anstand und die gute Sitte. Namentlich die gute Sitte; wenn eine wohlgesittete Schüchternheit und ein wohlanständiger Mangel an Originalität bei uns bisher nach der allgemeinen Anschauung eine unerläßliche Eigenschaft eines tüchtigen, ordentlichen Menschen bildeten, so wäre es geradezu ungehörig und unschicklich, sich plötzlich zu ändern. Welche Mutter zum Beispiel, die ihr Kind zärtlich liebt, wird nicht einen Schreck bekommen und vor Angst krank werden, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter auch nur ein wenig das gewohnte Geleise verläßt? »Nein«, denkt jede Mutter, die ihr Kind in Schlaf wiegt, »mag es lieber ohne Originalität glücklich sein und zufrieden leben!« Und wenn unsere Kinderfrauen die Kinder in der Wiege schaukeln, so sprechen und singen sie dabei seit undenklichen Zeiten: »In goldenen Kleidern wirst du gehen, ›Exzellenz‹ wird man zu dir sagen!« Somit galt auch bei unseren Kinderfrauen der Generalsrang von jeher für den Gipfelpunkt russischen Glücks und war also das populärste nationale Ideal eines schönen, ruhigen, seligen Daseins. Und in der Tat: wer, der sein Examen auch nur mittelmäßig bestanden und dann fünfunddreißig Jahre gedient hatte, konnte bei uns nicht schließlich Exzellenz werden und sich eine erkleckliche Summe auf der Bank zusammensparen? Auf diese Weise erlangte der Russe fast ohne alle Anstrengung schließlich eine Stellung, wie sie eigentlich nur einem tüchtigen, praktischen Menschen zukommt. Wahrhaftig, eine Unmöglichkeit, Exzellenz zu werden, bestand bei uns nur für einen originellen Menschen, mit andern Worten: für einen unruhigen Kopf. Vielleicht liegt hier bis zu einem gewissen Grade ein Mißverständnis vor; aber im allgemeinen scheint es doch zuzutreffen, und unsere Gesellschaft war vollkommen berechtigt, sich ihr Ideal eines praktischen Menschen in dieser Weise zu gestalten. Indessen wir haben vieles gesagt, was nicht hierhergehört; wir wollten eigentlich nur ein paar erklärende Worte über die uns bekannte Familie Jepantschin sagen. Diese Leute oder wenigstens diejenigen Familienmitglieder, die am meisten zum Nachdenken veranlagt waren, litten beständig an einer ihnen fast allen gemeinsamen Familieneigenschaft, die denjenigen Tugenden, über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne diese Tatsache völlig zu verstehen (weil das eben seine Schwierigkeiten hatte), hatten sie doch manchmal einen Argwohn, daß in ihrer Familie alles nicht so zugehe wie bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im Übermaß ängstlich; aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum guten Ton gehörige Ängstlichkeit, die ihnen so erstrebenswert schien. Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich darüber beunruhigte: die Mädchen waren noch jung, wiewohl ein sehr scharfsinniges Völkchen mit Neigung zur Ironie; der General aber besaß zwar Verständnis (allerdings ein langsames und schwerfälliges), sagte aber in schwierigen Fällen nur: »Hm!«, und setzte schließlich seine ganze Zuversicht auf Lisaweta Prokofjewna. Auf ihr ruhte also die Verantwortung. Nicht als ob diese Familie sich durch irgendeine besondere Initiative ausgezeichnet hätte oder infolge eines bewußten Hanges zur Originalität aus dem Geleise gesprungen wäre, was sich ja freilich mit der Schicklichkeit ganz und gar nicht vertragen hätte. O nein! Das war wirklich nicht der Fall; das heißt, es lag bei ihnen keine bewußte Absicht vor; aber dennoch kam es schließlich so heraus, daß die Familie Jepantschin trotz all ihrer Respektabilität von anderer Art war, als respektable Familien sein müssen. In letzter Zeit hatte Lisaweta Prokofjewna angefangen, die Schuld an alledem lediglich sich und ihrem »unglücklichen« Charakter beizumessen, wodurch ihre Leiden nur noch vermehrt wurden. Sie selbst nannte sich alle Augenblicke »eine dumme, taktlose Person, eine verdrehte Schraube«, quälte sich mit ihrem Mißtrauen, war beständig außer sich, fand bei ganz gewöhnlichen Dingen, die ihr zustießen, keinen Ausweg und übertrieb fortwährend das Unglück.
Schon zu Beginn unserer Erzählung haben wir erwähnt, daß Jepantschins sich allgemeiner, aufrichtiger Hochachtung erfreuten. Sogar der General Iwan Fjodorowitsch selbst, ein Mann von geringer