Rückkehr nach Strapen. Stefan Raile

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Название Rückkehr nach Strapen
Автор произведения Stefan Raile
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783748560494



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gab ich zu, dachte: In Psychologie ist sie gut. Besser als ich.

      Dagmar stieß sich vom Geländer ab. „Wollen wir weiter?“

      Es war sehr dunkel, nur die Laternen wurden von blassen Lichtsäulen umgeben. Reglos säumten die niedrigen Pappeln unseren Weg. Nach wenigen Metern begannen wir, wieder zu keuchen. „Der Hang hat‘s wirklich in sich“, stellte Dagmar fest.

      „Stimmt“, bestätigte ich. „Wir haben‘s bereits am ersten Tag bemerkt, und für einen war es gleich zu viel. Er kehrte um und fuhr mit dem Zug in seinen Heimatort zurück.“

      „Das kann ich verstehen“, meinte sie.

      „Ich nicht“, sagte ich. „Allerdings war es kein großer Verlust. Wenn jemand so schnell passt, ist nicht viel los mit ihm. Hier ist doch alles überschaubar: eine steile Böschung, an der man seine Kraft misst. Jeder Schritt bringt einen aufwärts, und irgendwann steht man oben, keuchend zwar, aber zufrieden. Nein, das ist keine große Sache. Schlimmer sind die unsichtbaren Hänge. Sie lassen sich wesentlich schwerer bezwingen. Man legt sich ins Zeug, will es um jeden Preis schaffen, schindet sich und kommt trotzdem nicht recht weiter.“

      „Hast du es damals so empfunden?“, fragte sie.

      „Ja“, bestätigte ich, „so ähnlich.“

      Es war gegen Mittag, als ich unsre Wohnküche betrat. Vater aß mit Appetit Gulasch, Mutter löffelte widerwillig von einer breiigen Masse, die ihr zur Gewichtsabnahme verhelfen sollte. Sie traktierte ihre Geschmacksnerven gelegentlich damit, ohne Erfolge zu erzielen. Beide wunderten sich nicht über mein Erscheinen. Sie vermuteten wohl, dass ich Urlaub hätte. Ich ließ sie bei ihrem Glauben.

      „Es ist noch reichlich da“, sagte Vater. „Setz dich auf meinen Platz, ich muss gleich zur Schicht.“

      Das Essen schmeckte. Aufs Kochen verstand sich Mutter.

      Anschließend legte ich mich hin und schlief bis zum nächsten Morgen. Nach dem Frühstück ging ich in die Stadt, bummelte durch die vertrauten, sonnenwarmen Straßen und betrat schließlich ein Gasthaus am Untermarkt. Ein Grenzer, der allein am Tisch saß, sprang auf und eilte mir entgegen. Wegen der Uniform erkannte ich ihn nicht gleich. „Junge“, sagte er, „Ronny!“ Er lotste mich zu seinem Platz und schnalzte mit den Fingern. Als die Kellnerin kam, bestellte er: „Zwei Pils, zwei Wodka.“

      Ich war überrascht, dachte: Fredi bei der Fahne. Das ist ‘n Ding! Dunkel erinnerte ich mich, dass ich bereits vor Monaten davon gehört hatte, es damals aber nicht glauben wollte. Nun sah ich ihn mit eigenen Augen: Stabsgefreiter Manfred Veyrich. Winnetou in der Kaserne. Wie konnte es das geben?

      Soldat zu werden, war mir bisher nicht in den Sinn gekommen, obwohl man uns im Betrieb angesprochen hatte.

      Die Erlebnisse meines Vaters als Rekrut und während des Krieges wirkten in mir nach. Er gehörte nicht zu denen, die sich nur des Angenehmen entsannen: Die Weiber in Paris. Sektgelage. Beuteschmuck für die Verlobte im Reich. Er erinnerte sich auch an das andre, und manchmal drängte es ihn, darüber zu reden. Einen Unteroffizier vom Ausbildungslehrgang erwähnte er oft, Riegel hieß er, doch sie nannten ihn Schurigel, weil er die Soldaten arg schikanierte.

      Daran dachte ich, als ich zur Werbekommission gerufen wurde. Sie hatte sich für etliche Tage in einem Raum des Betriebsschutzes eingerichtet. Bleib hart, redete ich mir unterwegs ein. Geh ihnen nicht auf den Leim. Ein Mann braucht seine Freiheit.

      Ich musste lange warten. Vor mir holten sie einen stämmigen Maurer, den ich flüchtig kannte, ins Zimmer. Als er herauskam, war sein Gesicht gerötet.

      Zur Kommission gehörten drei Männer. Die zwei älteren – sie mochten Anfang dreißig sein – hatte ich noch nie gesehen, der andre war unser FDJ-Sekretär. Ein Schwarzhaariger mit Brille begann das Gespräch. Er schien schon müde zu sein, musterte mich aber aufmerksam, als er fragte: „Wie stehst du dazu, Jugendfreund?“

      „Positiv“, erwiderte ich, „durchaus positiv. Mir ist bewusst, dass die Republik des Schutzes bedarf. Nur bin ich momentan außerstande, auf Ihr Angebot einzugehen.“

      „Weshalb?“

      Sag die Wahrheit, dachte ich, sag: Weil du dich nicht bevormunden lassen willst. Aber wozu Läuse in den Pelz setzen? Geh taktisch vor, das ist immer gut. „Zunächst“, antwortete ich, „arbeite ich in einem Schwerpunktbetrieb. Da kommt es auf die Leistung eines jeden an. Durch meinen Weggang entstünde eine Lücke, die sich nicht mühelos schließen ließe. Und dann möchte ich mich beruflich qualifizieren, an einem Lehrgang teilnehmen. Außerdem werde ich in Kürze heiraten.“

      „Ist wohl bereits was unterwegs?“

      „Ja“, log ich, „und so ein kleines Kind braucht seinen Vater.“

      „Gewiss“, sagte der FDJ-Sekretär, „aber die Republik darf deshalb nicht schutzlos bleiben. Familie haben wir alle irgendwie, nicht wahr. Trotzdem muss man bereit sein, auch mal Opfer zu bringen, und da, scheint mir, hapert‘s bei dir, Jugendfreund. Freilich, aufs Reden verstehst du dich, deine Formulierungen fließen dir nur so über die Lippen, doch Worte sind Schall und Rauch.“

      Eben, dachte ich. Warum gehst du eigentlich nicht? Bist du auf deinem Posten unabkömmlich? Deine Funktion könnte auch ein andrer übernehmen. Das sind mir die Richtigen, die mit Engelszungen werben, sich selbst aber drücken. Plustre dich bloß nicht so auf, sonst lass ich die Katze aus dem Sack: Wie hältst du‘s mit dem Vorbild, Jugendfreund Sekretär? Du schummelst dich durch die Etappe, obgleich es eine Front gibt, und Funktionäre gehören nun mal in die vorderste Linie.

      „Jawohl“, fuhr er fort, „Worte sind Schall und Rauch. Ihnen müssen Taten folgen. Und glaub mir, Jugendfreund Bylak, es bedeutet höchste Erfüllung, wenn man sich selbst überwindet und gesellschaftliche Erfordernisse sowie private Belange in die Balance bringt.“

      „Klingt gut“, sagte ich. „Doch soweit reicht‘s bei mir noch nicht. Vielleicht, weil‘s andre, die immer etliche Schritte voraus sein müssten, zu wenig vorgelebt haben. Was du forderst, ist das Höchste, und das sollten zuerst die Bewusstesten vollbringen.“

      Ich sah, wie er sich verfärbte und meinem Blick auswich.

      „Zwingen können wir natürlich keinen“, sagte der zweite Werber. „Aber wir sprechen erneut mit dir, Jugendfreund. Grundsätzlich bist du ja wohl nicht dagegen?“

      „Nein“, sagte ich.

      Ich freute mich, dass ich ihnen ohne große Mühe entschlüpft war. Was wollen sie grade von mir?, dachte ich. Die sollen mich mal in Ruhe lassen. Ich hab meine Arbeit, hab Gudrun, sie vor allem, und wenn das mit dem Kind auch geflunkert war, kleines Kavaliersdelikt, so wäre es immerhin möglich. Und wer weiß: Was nicht ist, kann noch werden.

      Es war anders gekommen. Und nun saß mir Fredi gegenüber wie in alten Zeiten, bloß die Uniform erschien mir ungewohnt. Wieder dachte ich: Fredi bei der Fahne. Winnetou in der Kaserne. Das ist ‘n Ding!

      Fredi hob sein Schnapsglas. „Auf unser Wiedersehen!“

      Wir stießen an und tranken aus. „Es gibt also noch Zufälle“, sagte ich.

      „Hast du daran gezweifelt?“, fragte er. „Selbst für die Philosophen sind sie existent. Sie drücken‘s nur ein bisschen geschwollen aus: Schnittpunkt zweier oder mehrerer Notwendigkeiten … Aber das weißt du ja besser als ich. Schließlich warst du schon in der Schule ein As. Damals hab ich dich oft bewundert. Ehrlich! Ich dachte: Der bringt‘s zu was. Inzwischen bist du sicher schon auf dem besten Weg zum Akademiker. Wo studierst du eigentlich?“

      „Nirgends.“

      Er sah mich überrascht an. „Geext?“

      „Nein“, erwiderte ich, „bis zur Uni bin ich gar nicht erst gekommen. Der Weg dorthin ist beschwerlich, und manche bleiben auf der Strecke.“

      „Aber nicht so einer wie du“, behauptete er. „An deinen Leistungen kann‘s unmöglich gelegen haben.“