Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof. Christoph Kessel

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Название Nächster Halt: Darjeeling-Hauptbahnhof
Автор произведения Christoph Kessel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783745004892



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Dieses Ereignis ging als so genannte »Boston Tea Party« in die Geschichtsbücher ein. Daraufhin wurde der Bostoner Hafen von den Briten geschlossen. 1775 startete schließlich in Boston die Revolution unter ihrem Führer George Washington, als britische Truppen von Revolutionsgarden beschossen wurden. Mitten im Krieg am 4. Juli 1776 erklärten 13 britische Kolonien, die heutigen Bundesstaaten entsprechen, ihre Unabhängigkeit vom Empire in Philadelphia. Der Krieg wurde durch das Eingreifen der Franzosen ab 1778 auf der Seite der neuen amerikanischen Nation gegen die Briten drei Jahre später im Jahre 1781 entschieden. 1783 wurde die amerikanische Unabhängigkeit im Vertrag von Paris allgemein anerkannt. Die Westgrenze bildete der Mississippi. Spanien hielt weiterhin Florida und das Land westlich vom Mississippi. Die neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika bestanden damals lediglich aus ehemaligen britischen Kolonien östlich des Appalachen-Gebirges. Das Gebiet westlich der Appalachen zum Mississippi hin war lediglich US-Territorium. Es entstand dort damals noch kein Bundesstaat.

      Als erstes gab ich in Boston den Reiseführer über Kanada wieder brav ab. Der Reiz an Boston bestand für mich an dem starken Kontrast zwischen alten Häusern und Friedhöfen, die direkt neben riesigen Wolkenkratzern etwas deplatziert wirkten. Ansonsten genoss ich es einfach, in den vielen kleinen Straßen spazierenzugehen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Morgens um halb acht scheinen alle Bostonians wie ferngesteuert ihrem Pappbecher Kaffee zu folgen, den sie vor sich wie einen Joystick halten. Wie von Geisterhand gesteuert, schwirren die Menschen durch die Straßen und schaffen es doch tatsächlich, sich den Kaffee nicht gegenseitig überzukippen. In Boston traf ich zum ersten Mal auf die traumatischen, patriotischen Reaktionen, die 09/11 folgten. Überall wehte das Sternenbanner, und häufig fand ich Sprüche wie »We’ll never forget«{45} oder »Together we stand«{46}. Dass das Sternenbanner aber auch den grünen Hahn von der Corn-Flakes-Packung vertrieben hatte, finde ich etwas übertrieben.

      Da ich mich in Großstädten nicht allzu lange aufhalten mochte, wollte ich mit dem Greyhound wieder hinaus ins Hinterland der Neu-Englandstaaten fahren, genauer gesagt nach Vermont. Doch Reisen mit dem Greyhound-Bus bringt immer wieder neue Abenteuer mit sich, die die Tour abwechslungsreich gestalteten. Da die Amerikaner das »Queueing« von den Engländern übernommen hatten, standen vor jedem Bus die Passagiere geduldig schon eine halbe Stunde vor der Abfahrt an. Ich dachte, ich besitze ein Ticket und telefoniere lieber nochmals mit meinen Eltern in Deutschland. Das war leider ein Fehler. Ich reihte mich schließlich als letzter in die Schlange ein, aber als ich in den Bus stieg, waren alle Plätze bereits belegt. Außer mir fand noch eine weitere Person keinen Sitzplatz mehr. Der Fahrer wollte uns erst auf dem Gang mitnehmen, sagte schließlich aber, dass ein zusätzlicher Bus zehn Minuten später abführe. Das glaubte ich allerdings nicht und wollte an Bord bleiben. Aber der Busfahrer warf mich mehr oder weniger aus dem Bus hinaus. So regelte man das bei Greyhound mit überbuchten Bussen. Schnell konnte ich noch meinen Rucksack aus dem Gepäckraum des Busses herausholen. Dafür bekam ich allerdings einen Anschiss vom Fahrer, denn dies wollte er auch nicht. Aber ich bleibe doch lieber gemeinsam mit meinem Rucksack stehen, ansonsten würde ich ihn eventuell nie wiedersehen.

      Die andere Person, Andria, eine Italo-Amerikanerin, war für mich anfangs typisch amerikanisch: naiv und höflich. Sie machte Platz für eine andere Person, die irgendwo einen Anschluss-Bus erreichen wollte. Dabei musste Andria einen Transatlantik-Flug abends in Montreal erreichen. Dumm gelaufen, da natürlich kein Bus kam. Dank Andrias italienischem Temperament konnte ich mir die »Jetzt-flippe-ich-total-aus-Show« sparen. Diese spulte Andria für uns beide ab, während ich auf unser Gepäck aufpasste. Was hatte ich auch zu meckern? Ob ich nun in Burlington, Vermont, abends um sieben oder um elf ankam war mir letztendlich egal. Die Hauptsache bestand im Ankommen. Andrias Lage war weitaus dramatischer. Der nächste Bus fuhr dreieinhalb Stunden später ab. Andria bekam ein Gratis-Ticket, verpasste aber dafür definitiv ihren Flug nach Europa. Ich durfte auch ein Beschwerdeschreiben unterzeichnen, auf das sich aber nie wieder jemand bei mir gemeldet hat. Manche Mitarbeiter von Greyhound waren allerdings wirklich hilfsbereit, muss ich zu ihrer Rettung gestehen. Ein Busfahrer, der das ganze Theater verfolgt hatte, meinte, er würde bereits eine Stunde früher als der andere Bus nach White River Junction fahren. Wo lag eigentlich White River Junction? Nun gut, hinein in den Bus. Wir hofften einfach, einen Anschluss in White River in Richtung Vermont und Montreal zu bekommen.

      Nun verließ ich für längere Zeit die Küste des Atlantischen Ozeans, der ich seit St. Malo in der Bretagne zwei Monate zuvor mehr oder weniger immer wieder gefolgt war. Auf die Idee an diesem Freitag Nachmittag wieder einmal raus aufs Land zu fahren kam halb Boston. Wir standen zunächst zwei Stunden im Stau. Danach klapperte unser Bus alle Dörfer des US-Bundesstaates New Hampshire ab. Ich fand New Hampshire grauenvoll. Es regnete aus Kübeln, wir standen im Stau und wir wussten nun noch nicht einmal mehr, ob wir den Anschluss nach Burlington und Montreal bekommen würden, da der spätere Bus direkt ohne Zwischenstopps in den Käffern New Hampshires abfuhr. White River Junction bestand aus vier Tankstellen und einem McDonald’s. Dort hatte ich wirklich keine Lust, die Nacht zu verbringen, doch welch ein Wunder, es wartete tatsächlich ein Bus nach Montreal via Burlington in diesem gottverlassenen Kaff.

      Während der Busfahrt konnte ich mich mit Andria gut über ihr Land und ihre Landsleute unterhalten. Sie erzählte mir, dass im Fernsehen permanent erzählt würde, dass die ganze Welt Amerikaner hasste. Als ich ihr klarmachte, dass die Kritik sich gegen George W. Bushs Politik und nicht gegen das Volk richtete, war sie ziemlich überrascht. Nun kann ich diesen Patriotismus nachvollziehen, den die Leute an den Tag legten. Wenn man die ganze Zeit erzählt bekommt, dass dich jeder hasst, schweißt das ganz sicher zusammen. Von Manipulation der Massen zu reden, ist in diesem Kontext sicherlich nicht falsch. Ich wurde auch von Amerikanern angesprochen, ob ich Bundeskanzler Schröder gut fände. Als ich sagte, dass ich ihn dem Unionskanidaten Stoiber vorziehen würde, lehnten sie ab, weiter mit mir über Politik zu reden.

      Auf der Fahrt von White River Junction nach Burlington lernte ich Byron kennen, der auch in diese Studentenstadt unterwegs war. In Burlington angekommen, rief er seine Kumpels an, die mich direkt auf den Campingplatz der Stadt fuhren. Denn eine dritte Nachtwanderung innerhalb weniger Tage wäre mir wirklich zu viel gewesen. Dafür wurde ich nachts in meinem Zelt »überfallen«. Meine Lebensmittel hatte ich dummerweise ins Vorzelt gelegt. Daraufhin kamen Eichhörnchen und versuchten mein Müsli zu klauen. Aber ich verteidigte erfolgreich mein Essen gegen diese »Terroristen«.

      Burlington war eine eher untypische amerikanische Kleinstadt in einem eher untypischen US-Bundesstaat. Vermont ist vielleicht der liberalste Staat der ganzen USA. Schließlich gibt er gleichgeschlechtlichen Partnerschaften die gleichen Rechte wie Partnerschaften zwischen Mann und Frau. Für einige US-Bundesstaaten wäre dies der glatte Wahnsinn. Der Spitzname »Green Mountain State« und die durchweg grünen Nummernschilder lassen schon auf eine gewisse Wertschätzung der Natur schließen. Als ich in Burlington sah, wie umweltbewusst die Leute sind, war ich tief beeindruckt. Mülltrennung, eine Recyclingfirma, dutzende Meilen von Fahrradwegen, Fußgängerzonen und drakonische Strafen für Leute, die ihren Müll nicht korrekt entsorgen – wahlweise 500 US-Dollar oder zehn Tage Gefängnis. Vermont ist zu Recht stolz auf seinen selbstgewählten Sonderstatus, und man legt Wert darauf, dass der Besucher weiß, dass Vermont sogar von 1777 bis 1791 ein souveränes Land war, ehe man sich den Vereinigten Staaten anschloss.

      Alle zwei Jahre finden in den USA Wahlen für den Gouverneur, den Senat und das Repräsentantenhaus statt. So auch in diesem Jahr. Dabei sah der Straßenwahlkampf etwas anders aus als bei uns. Statt Wahlplakaten fand ich in den Städten und Dörfern im Vorgarten der Leute kleine Schilder mit dem Namen der Kandidaten darauf. Parteien und teilweise Nachnamen oder gar Wahlslogans fand ich überhaupt nicht. So wollte in Vermont beispielsweise Bernie – Nachname unbekannt – wiedergewählt werden. Gegenkandidat Jim Douglas gibt wenigstens noch eine Webseite an, seine Parteizugehörigkeit hingegen bleibt im Dunkeln. Dies ist der personalisierte Wahlkampf in Rein-Form, wie wir ihn zwischen Stoiber und Schröder auch gerade hatten. Dass lediglich wir Deutschen die »Kultur« der Amerikaner übernehmen ist falsch, da umgekehrt das selbe gilt. Hier gibt es doch tatsächlich Aldi. Viele Leute laufen mit den orange-blauen Aldi-Tüten durch die Gegend, sodass ich mich fast wie zu Hause fühlte. Auch Fußball wird langsam wirklich populär. Und das Oktoberfest mit Sauerkraut, Wurst und viel dünnem Bier ist Kult.

      Nachdem